Griechenland: Geht die alte Kumpanei geht weiter oder gibt es eine Chance für eine politische Alternative?
Dass die politische Klasse – in ihrer Inkarnation durch eine Koalition der alten Systemparteien ND und Pasok – weder zu einer Selbsterneuerung noch zu einer Erneuerung des politischen Systems in Griechenland fähig ist, führt sie der Bevölkerung tagtäglich vor Augen. Die Beispiele dafür könnte man im Dutzend anführen. Welche Wahl bleibt aber den Griechen, die im Lande bleiben und das politische System erneuern und wirklich reformieren wollen? Welche politische Alternativen gibt es für Griechenland im fünften Jahr seiner ökonomischen Rezession? Von Niels Kadritzke.
Welchen politischen Ausweg gibt es für das Land mit der höchsten Staatsverschuldung Europas (in Höhe von 160,5 % des BIP) und mit der höchsten Arbeitslosigkeit (27,2 %) in der EU; für ein Land mit höchst eingeschränkter Souveränität, dessen eigene Bevölkerung überwiegend der Meinung ist, dass sich das ganze System auf dem falschen Weg befindet; für ein Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung davon ausgehen, dass sich ihre persönliche Lage weiter verschlechtern wird und fast 60 Prozent glauben, dass die Krise noch länger als fünf Jahre andauert?
Wie steht es um die Chancen der Opposition zu einer Regierung der verbrauchten Kräfte, die zügig ihre letzte Glaubwürdigkeit verspielt und ihre Unfähigkeit zur Erneuerung durch plumpes und zudem rechtswidriges Imponiergehabe (im Fall ERT) oder durch propagandistische Schaumschlägerei zu kaschieren versucht (wie im Fall der Gaspipeline TAP oder der provisorischen Mehrwertsteuersenkung)?
Die neugeborene Syriza als politische Alternative
Ein derart dramatisches Krisenpanorama müsste der wichtigsten Oppositionspartei eine politische Offensive eröffnen. Der große Herausforderer der alten Systemparteien ist seit Sommer letzten Jahres vor allem die Linkspartei Syriza. Sie bekam im Juni 2012 fast 27 Prozent der Wählerstimmen und landete damit nur ganz knapp hinter der konservativen Nea Dimokratia. Seit diesem Erfolg, der damals alle Erwartungen (auch der Syriza selbst) weit übertroffen hat, zeigen die Meinungsumfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Linkspartei und der ND. Die letzte Momentaufnahme von Mitte Juli zeigt die ND nur hauchdünn vorn. (Aber das besagt nicht viel: Bei der „Sonntagsfrage“ hat die Führung in diesem Umfrage-Derby in den letzten sechs Monaten fünf Mal gewechselt.)
Es ist also durchaus realistisch, wenn sich die europäischen Partner Griechenlands mit der Vorstellung vertraut machen, dass die Syriza nach einer nächsten Wahl – ob vorzeitig oder zum planmäßigen Termin im Sommer 2016 – mit der Bildung einer Regierung beauftragt wird (wobei sie höchstwahrscheinlich einen Koalitionspartner brauchen würde).
In der New York Times vom 23. Juni ist unter der Überschrift „Only Syriza Can Save Greece“ ein Gastkommentar erschienen, der von den Ökonomen James K. Galbraith und Jannis Varoufakis stammt. Da beide Autoren zum Beraterkreis von Alexis Tsipras gehören, ist ihr Text in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Zum einen wollen sie die amerikanische Öffentlichkeit und die politische Klasse davon überzeugen, dass sie keine Angst vor einer Regierung Tsipras haben müssten. „Für die Vereinigten Staaten würde sich nichts Entscheidendes ändern. Die Syriza hat nicht vor, aus der Nato auszutreten oder die amerikanischen Militärbasen zu schließen… und Mr. Tsipras will sich nicht mit Washington anlegen.“ Zum anderen verraten sie, welche wirtschaftspolitischen Ratschläge sie Tsipras geben, von denen sie natürlich wünschen, dass eine Syriza-Regierung sie beherzigen wird. „Die Griechen“ schreiben sie und meinen damit Tsipras, „wollen weder den Euro verlassen noch die Eurozone zerfallen sehen“. Kurzum, die Syriza wolle „das europäische Projekt retten“ und sei deshalb womöglich „Europas größte Hoffnung“.
Diese Worte in Tsipras‘ Ohr, dürften die vielen Griechen sagen, die sich den Kopf über die Frage zerbrechen, ob sie der Syriza die Regierungsmacht in ihrem Land überantworten wollen. Denn so groß die Wut über die alten Systemparteien und deren einfalls- und erfolgloses Krisenregime im Auftrag der Troika ist, so groß ist ihre Skepsis gegenüber der Krisendiagnose und den Heilungsrezepten der linken Opposition. Das zeigen auch die Umfragen, die seit dem großen Wahlerfolg vom Sommer 2012 eine Konstante aufweisen, die für die Syriza-Führung höchst beunruhigend sein muss: Eine große Mehrheit der Griechen, und sogar viele ihrer eigenen Wähler, hegen große Zweifel an der Fähigkeit der Partei, das Land aus der Krise herauszuführen. (Die Gründe für diesen Zweifel habe ich ausführlich in einer früheren Analyse (vom 27. November 2012) dargestellt. Diese Darstellung ist im Wesentlichen immer noch gültig.)
Die jüngsten Umfragen zeigen, dass nur 14 Prozent der Befragten mit der Opposition zufrieden sind. Dieser Wert liegt konstant unter der Zufriedenheitsquote mit der Regierung (die selbst nach der unpopulären ERT-Entscheidung noch knapp höher liegt). Der wichtigste Grund für das mangelnde Vertrauen in die Opposition: Gerade mal ein Fünftel der Befragten glaubt, dass die Linke das bessere Konzept gegen die Krise hat. Der entsprechende Wert für die Regierung liegt nach wie vor höher, wenn auch unter 30 Prozent. Aber noch viel mehr Griechen (im Juni waren es 43 Prozent) sind der Meinung, dass weder die Linke noch die Rechte über ein tragfähiges Krisenkonzept verfügen.
Dieses Meinungsbild wirft für die Syriza zwei Fragen auf. Erstens: Wie interpretiert die Partei und ihre Führung diese dürftige Akzeptanz und wie reagiert sie darauf? Und zweitens: Wurde auf dem Parteikongress im Juli dieses Jahres eine Perspektive entwickelt, wie diesem Problem begegnet werden könnte? Mit diesem Kongress ist auch eine dritte Frage verbunden: Wäre die Syriza eine handlungsfähige Regierungspartei?
Letzteres ist für die Parteiführung eine existentielle Frage, denn einer der wichtigsten Kritikpunkte der potentiellen Wähler war bislang die innere Disparität der Syriza, die bewusst als loses Konglomerat verbündeter, aber auch konkurrierender linker Gruppen konstruiert war. Diesen Zustand will die Parteiführung seit einiger Zeit durch eine Strukturreform überwinden. Der lange geplante Kongress, der aus der Syriza eine vereinheitlichte Mitgliederpartei machen sollte, hat vorletzte Woche stattgefunden. Doch diese „Neugeburt“ ist auf dem lebhaften, viertägigen Kongress mit etwa 3.500 Delegierten wohl nicht ganz so verlaufen, wie es sich Tsipras und die Parteiführung vorgestellt haben.
Statt autonomer Fraktionen zwei große Blöcke
Die Syriza hat sich zwar als Mitgliederpartei (nach dem Prinzip one member, one vote) etabliert, was durch die Selbstauflösung des „Synaspismos“ möglich wurde (dieser Zusammenschluss unterschiedlicher linksradikaler bis „grüner“ Gruppen stellte den ursprünglichen Mitgliederkern der Syriza dar). Aber einige der Organisationen, die schon den Synaspismos und damit auch die „alte Syriza“ ausmachten, wollten sich dem neuen Statut, nachdem es keine autonomen „Gruppen“ mehr geben soll, noch nicht fügen. Um einen offenen Krach zu vermeiden, hat der Parteitag eine „Gnadenfrist“ für ihre Selbstauflösung eingeräumt. Das Ziel, die Syriza zu einer normalen Mitgliederpartei zu machen, wird also bestenfalls mit leichter Verzögerung erreicht.
Allerdings wäre damit die „Fraktionierung“ der Partei noch lange nicht überwunden. Es gibt weiterhin zwei große Blöcke, die in wichtigen inhaltlichen Fragen recht unterschiedliche Positionen vertreten. Die Abstimmungen auf dem Parteitag haben gezeigt, dass es auch in der „neuen“ Syriza eine starke Opposition gegen den Kurs der Parteiführung und sogar auch gegen die Person von Alexis Tsipras gibt. Die innerparteiliche Opposition tritt als „linke Plattform“ auf und vertritt etwa in der „Euro“-Frage, aber auch in Fragen der Bündnispolitik und der Ausgestaltung eines Regierungsprogramms der Partei, weit radikalere Positionen als die „Mehrheitsfraktion“, die ihrerseits aus mehreren Gruppen und Strömungen besteht.
Diese innerparteiliche Opposition hat bei den Wahlen zum „Zentralkomitee“ der neuen Partei, bei denen die Fraktionen nach Listen abstimmten, deutlich besser abgeschnitten als erwartet. In der Umgebung von Tsipras rechnete man damit, dass die „linke Plattform“ höchstens ein Viertel der Delegierten kontrolliert. Am Ende verfügte sie über 30 Prozent der Stimmen. Auch die Wahl zum Parteivorsitzenden war für Tsipras mit nur 74 Prozent Zustimmung eher eine Enttäuschung; die meisten Delegierte der „linken Plattform“ enthielten sich der Stimme. Dennoch bleibt die Führungsrolle von Tsipras unangefochten, zumal er seine Vorstellung durchsetzen konnte, dass der Vorsitzende vom Parteitag gewählt wird (und nicht vom Zentralkomitee, wie von der „linken Plattform“ beantragt), was ihm eine stärkere „plebiszitäre“ Legitimität verschafft.
Ob die Autorität von Tsipras durch den Parteitag gestärkt oder geschwächt wurde, und was das Ergebnis für die Wahlaussichten der Syriza bedeutet, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass die Parteiführung und die Mehrheitsfraktion sich von der Neugründung der Syriza eine positivere Wirkung versprochen haben. Zwar ist die Partei jetzt nicht mehr ein verwirrendes Konglomerat vieler Fraktionen, aber die Spaltung in zwei große Blöcke tritt damit noch deutlicher hervor. Zwar konnte sich die „linke Plattform“ bei den Abstimmungen über das Gründungsmanifest in keinem wichtigen Punkt durchsetzen, aber dass knapp ein Drittel der Delegierten dem ersten Grundsatzprogramm der organisatorisch vereinheitlichten Partei die Zustimmung verweigert hat, dürfte zögernde Wechselwähler beunruhigen. Zumal die innerparteilichen Differenzen auch im politischen Alltag ständig zu Tage treten, weil die beiden Flügel auch in der Parlamentsfraktion repräsentiert sind, deren Vorsitzender Panagiotis Lafazanis dazuhin der Kopf der „linken Plattform“ ist. (Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die griechischen Wähler bei früheren Umfragen als ein negatives Hauptmerkmal der Syriza deren innere Uneinigkeit genannt haben.)
Die erste Umfrage, die als Reaktion auf den Syriza-Parteitag gesehen werden kann, zeigt eine gemischte Reaktion. Auf die Frage, ob der Gründungskongress für die Syriza im Sinne der „Umwandlung in eine radikale regierungsfähige Partei“ erfolgreich war, antworteten nur 23 Prozent der Befragten mit ja und 17 Prozent mit wahrscheinlich, dagegen 31 Prozent mit Nein und 13 Prozent mit wahrscheinlich nicht. Für die mittelfristigen Chancen der Syriza, die Regierung Samaras abzulösen, wird also entscheidend sein, ob sie den von den alten Kräften enttäuschten und frustrierten Wählern ein realistisches und vertrauenswürdiges Konzept für einen Ausweg aus der Krise vorschlagen kann.
Eine Regierungspartei im Wartestand?
Seit Juni 2012 geht die Syriza offiziell davon aus, dass die Regierung Samaras die vier Jahre der Legislaturperiode nicht durchhalten wird. Wann immer die Koalition in Schwierigkeiten war oder neue Sparmaßnahmen verabschiedete, forderten der Syriza-Vorsitzende Alexis Tsipras und andere führende Parteivertreter sofortige Neuwahlen. Auch anlässlich der Parlamentsdebatte in der vorigen Woche gab die Syriza – im Parlament wie auf der Straße – die Parole aus: „Statt Entlassungen im Öffentlichen Dienst – Entlassung dieser Regierung“. Die Botschaft lautet also, gerade auch nach dem Parteikongress: Wir sind auf Neuwahlen vorbereitet, wir haben ein fertiges Regierungsprogramm in der Tasche.
Dabei übergeht allerdings die Parteiführung mit einer Unbefangenheit, die ans Frivole grenzt, die wichtigste Frage, die über jedem detaillierten Programm steht und die jedem Wähler den Schlaf rauben muss: Wie reagieren die „Gläubiger“ des Landes, repräsentiert durch die Troika, wenn eine Syriza-Regierung das tut, was sie ständig verkündet: das Memorandum, also das Sparprogramm aufkündigen und ultimativ einen weitgehenden Schuldenerlass fordern.
Problem 1: Hat die Syriza einen strategischen Plan für die Folgen eines Ausstiegs aus dem Memorandum?
In den offiziellen Verlautbarungen wird diese zentrale Frage entweder nicht zur Kenntnis genommen oder aber überspielt. Diese „programmatische Lücke“ wurde bislang am klarsten von einem hoch respektierten Parteiveteranen benannt. Der bekannte Rundfunkjournalist Vassilis Paikos schrieb in der Parteizeitung Avgi am 10. Juni, einen Monat vor der ´zweiten Gründung` der Syriza: Das griechische Volk wolle eine „reife“ Partei, die auf die Ausübung der Macht tatsächlich vorbereitet ist. Dazu müsse man den Wählern ein „ausformuliertes, vollständiges, integriertes und vor allem glaubwürdiges Regierungsprogramm“ vorlegen. Darüber hinaus müsse man dem Volk „präzise darlegen, was sie im Einzelnen tun wird, falls die Gläubiger ihr genau dann, wenn sie an die Macht kommt und ihre Versprechungen umsetzen will, den Geldhahn zudrehen.“ In dieser Frage könne man die Wähler nicht mit irgendwelchen Arbeitshypothesen oder spekulativen Szenarios abspeisen. Die Antwort müsse „klipp und klar“ ausfallen, und zwar bis hin zu „wirklich schwierigen Detailfragen“.
Die Geldhahn-Frage zielt in der Tat auf den schwächsten Punkt des „Wahlprogramms“ der Syriza, der auch die Glaubwürdigkeit ihres Vorsitzenden berührt. Alexis Tsipras hatte sich diese Frage während der Wahlkampfperiode im Frühjahr und Sommer 2012 noch mit der Behauptung vom Leibe gehalten, die EU könnte Athen den Geldhahn gar nicht abdrehen, weil sie damit ihre Selbstzerstörung riskiere. Diese damals einigermaßen plausible These wurde in den Augen vieler Griechen allerdings durch die Zypern-Krise und der damit eingeschlagenen neuen Strategie der Troika im März dieses Jahres schwer erschüttert. Deshalb verkündet Tsipras neuerdings die abgespeckte Theorie, wenn eine Syriza-Regierung die Zinszahlungen an ihre Gläubiger einstelle, habe sie genug Geld, um die laufenden Staatsausgaben (einschließlich höherer Gehälter, Renten und Sozialleistungen) zu finanzieren. Die lästige Frage, wie lange dieser Vorrat an „eingesparten“ Zins-Milliarden reicht, spart Tsipras jedoch aus. Auch die ökonomischen Fachleute der Syriza haben zu diesem Szenario betreten geschwiegen.
Die Geldhahn-Frage auf dem Parteikongress
Und wie wurde die Geldhahn-Frage auf dem Parteitag behandelt? In der verabschiedeten Resolution (der die Parteilinke nicht zugestimmt hat) heißt es plakativ, eine Syriza-Regierung werde „die Verwandlung unseres Landes in eine Schuldenkolonie“ rückgängig machen. Das wollen sicher alle Griechen, aber wie will man das schaffen? Die Antwort lautet: durch Aufkündigung des Memorandums und aller Gesetze, die Sparmaßnahmen beinhalteten, und die anschließende Neuverhandlung der Kreditvereinbarungen mit EU und IWF, wobei man als „erstes Thema“ die Abschreibung des „größeren Teils der Schulden“, also einen neuerlichen „haircut“ auf die Tagesordnung setzen wolle.
Wenn aber bei diesen „Neuverhandlungen“ nicht alles nach Wunsch verläuft? Wenn die Troika nicht einfach nachgibt, sondern mit der Einstellung der Kreditprogramme droht? Was dann? Dazu erklärt die Resolution energisch: „Wir verpflichten uns, dass wir möglichen Drohungen oder Erpressungen der Gläubiger mit all den starken Waffen, die wir mobilisieren können, entgegentreten werden, und sind bereits dabei, uns auf die ungünstigste Entwicklung einzustellen, in der Gewissheit, dass das griechische Volks uns unterstützen wird.“ (alle Zitate stammen aus der Parteizeitung Avgi vom 15. Juli).
Ob die Sache damit „klipp und klar“ und bis hin zu den „schwierigsten Detailfragen“ geklärt ist, wie es Paikos gefordert hat, müssen die potentiellen Syriza-Wähler entscheiden. Doch als Außenstehender würde ich die Griechen gut verstehen, wenn sie sich nicht auf die „starken Waffen“ verlassen möchten, die ihnen die Syriza in Aussicht stellt – ohne zu verraten, was sie damit meint.
Problem 2: Wie sieht die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Syriza aus?
Welche Bedeutung die Geldhahn-Frage gewinnen kann, mag sich die Syriza von der Pasok erklären lassen. Die hat nach ihrem Wahlsieg vom Oktober 2009 binnen weniger Wochen ihre politische Autorität völlig verspielt, nachdem sie im Wahlkampf große Versprechungen gemacht und behauptet hatte: „Das Geld ist da“ („lefta yparchoun“). Den Fehler wird die Syriza wohl nicht wiederholen wollen. Aber in ihrem am 13. Juli verabschiedeten Parteiprogramm hat sie der Versuchung nicht widerstanden, die Rückkehr zum alten Niveau der Löhne, Renten und Sozialleistungen zu versprechen, ohne sich „klipp und klar“ über die die Finanzierung zu äußern. So stehen den Versprechungen, dass es unter einer Syriza-Regierung „keinen Bürger ohne Minimaleinkommen…, ohne Betreuung und sozialen Schutz und ohne eine soziale Grundversorgung an Nahrungsmitteln und einer würdigen Wohnung“ geben werde, nur sehr pauschale Ideen über die Finanzierung eines solchen sozialstaatlichen Modells gegenüber.
Die öffentlichen Einnahmen, die eine sozialstaatliche Überwindung der Krise finanzieren sollen, will die Syriza aus folgenden Quellen schöpfen:
- aus einem „gerechten radikalen Steuersystem“, basierend auf der Besteuerung von Großvermögen, Unternehmensgewinnen, hohen Einkommen und dem großen Immobilienbesitz, sowie der kirchlichen Vermögenswerte;
- der harten Verfolgung von Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit
- der Abschaffung der Privilegien von Oligarchen und multinationalen Konzernen;
- der wirtschaftlichen Erholung (wörtlich: „Dämpfung der Rezession“);
- der Ausbeutung von Bodenschätzen (unter „ökologisch sicheren“ Bedingung);
- der Erhöhung der Produktivität.
Dieser klassisch sozialdemokratische Katalog (im guten alten Sinne) enthält noch viele andere schöne Dinge, die dem skandinavischen oder „rheinischen“ Modell eines sozial moderierten Kapitalismus gut zu Gesicht stehen würden. Das macht das Syriza-Programm für griechische Verhältnisse noch nicht automatisch zur Utopie, wohl aber wirft es die Frage auf, in welchem Zeitraum man ein solches Modell verwirklichen will. Und angesichts der öffentlichen Verschuldung und der tiefen Wirtschaftskrise möchte man auch gerne wissen, wie die unmittelbaren Prioritäten aussehen, welche Schritte in welcher Reihenfolge vorgesehen sind. Und neben einem Reform-Fahrplan sollte eine „Regierung im Wartestand“ eigentlich auch einen realistischen Finanzierungsplan auf der Basis einer ungefähren volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung vorlegen. All dies sucht man in dem Syriza-Programm vom 13. Juli vergebens.
Problem 3: Was sagt die Syriza zu Steuerhinterziehung, Klientelismus und Korruption?
Neben dem Fehlen eines Fahrplans und einer realistischen Gesamtrechnung fallen noch weitere Lücken ins Auge. Zum Beispiel fehlt eine präzise Auseinandersetzung mit so notorischen Problemen wie der Steuerhinterziehung und der Ineffizienz des in weiten Teilen parasitären öffentlichen Dienstes. Hier beschränkt sich das Programm auf die Versicherung, man werde in der Regierung wie in der kommunalen Verwaltung „das Transparenz- und Leistungsprinzip durchsetzen sowie Nepotismus, Korruption, Parteiwirtschaft und Klientelismus eindämmen“. Aber man findet allerdings kein Wort über den „systemischen“ Steuerbetrug der Freiberufler, über unproduktive oder teilweise überflüssige Behörden, oder über die qualitativen Defizite im öffentlichen Dienst. Und die Syriza lässt auch offen, ob ihr Versprechen, den von der Troika erzwungenen Sozialabbau rückgängig zu machen, zugleich bedeutet, dass sie auch die Privilegien des öffentlichen Sektors beibehalten will, die von den meisten Griechen als anstößig empfunden wurden.
Kurzum: Die Syriza-Regierung will zwar, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren, den Oligarchen und Plutokraten, den Reedern und Unternehmern an den Kragen gehen, aber die Freiberufler, die für 60 Prozent der dem Fiskus vorenthaltenen Steuersumme verantwortlich zu machen sind, kommen in dem Programm an keiner Stelle vor. Die Partei fordert abstrakt einen „öffentlichen Sektor neuen Typs“, der „stärker, produktiver und effektiver“ sein soll als der alte Typ, wagt es aber nicht, öffentliche Dienste und Bereiche zu benennen, die fast alle Bürger täglich als ineffektiv und parasitär erleben. Sie verlangt nicht einmal den Rauswurf jener korrupten Staatsdiener, die ihren Beamteneid gebrochen haben.
In beiden Punkten scheut die Partei offensichtlich davor zurück, einen Teil ihrer potentiellen Wähler (v.a. Freiberufler) und Bundesgenossen (etwa die Berufsvertretungen des öffentlichen Dienstes) zu verprellen. Aber genau mit solcher Rücksichtnahme – auf Kosten des Gemeinwohls – fängt der vermaledeite Klientelismus an, den die Syriza als „Partei neuen Typs“ zu bekämpfen verspricht. Wobei sie beim Thema des öffentlichen Dienstes vermutlich nicht einmal viele Stimmen verlieren würde.
Der einzige Punkt, in dem die Syriza eine konsequente Position auch gegen die Interessen einer potentiellen „Klientel“ bezieht, ist ihre klare Absage an das Frontistirio-Systems: Das Parteiprogramm bezeichnet die privaten Nachhilfeschulen, die von den meisten Schülern und ihren Eltern ernster genommen werden als der staatliche Schulbetrieb, als pathologische Erscheinung, die mittels einer Aufwertung und Verbesserung des öffentlichen Schulwesens beseitigt werden müsse. Damit ist offensichtlich gemeint, dass zig Tausende von ausgebildeten Lehrern, die ihren Beruf an privaten Instituten ausüben, vom öffentlichen Schulwesen absorbiert werden sollten.
Problem 4: Die 100.000-Euro-Frage
Eine zentrale Frage, die mit der Forderung nach Aufkündigung des Memorandums zusammen hängt, ist die Haltung der Syriza zum Euro. Nachdem sie zu Beginn der Krise und kurz nach der „Invasion“ der Troika in Griechenland fast instinktiv eine Euro-skeptische Haltung bezogen hatte, versuchte die Parteiführung in der Folge, gegen die radikalen Euro-Gegner von der „linken Plattform“ eine Euro-freundlichere Orientierung durchzusetzen. Im Vorfeld der Wahlen von 2012 machte Tsipras zwar noch verbale Zugeständnisse an die innerparteiliche Opposition (die im Grund den Austritt Griechenlands aus der „neoliberalen“ bzw. „imperialistischen“ EU anstrebt), als er im Mai 2012 erklärte, der Euro dürfe für die Syriza kein „Fetisch“ sein. Doch nach den Wahlen legte sich der Parteivorsitzende – im Bemühen, auf internationaler Ebene akzeptiert zu werden – gegenüber seinen EU-Gesprächspartnern, aber auch in den USA und gegenüber dem IWF auf die Position fest, dass der Verbleib in der Eurozone im griechischen Interesse liege. Diese Aussage reflektierte auch die Stimmung in der griechischen Bevölkerung, die in allen Umfragen bis Mitte 2012 mit großer Mehrheit (70 bis 75 Prozent) für den Euro votierte, wogegen nicht einmal 20 Prozent eine Rückkehr zur Drachme wünschten. Auch bei den Syriza-Wählern waren die Euro-Befürworter bis 2012 in einer deutlichen Mehrheit.
Aber dann kam im März 2013 die Zypern-Krise. Das Ultimatum der Troika, das mit dem „bail-in“ der Bankguthaben von über 100.000 Euro endete, löste in Griechenland fast so viel Angst und Schrecken aus wie unter den griechischen Zyprioten. Bei einer speziell diesem Thema gewidmeten Umfrage vom April (Public Issue) waren auf einmal 68 Prozent der Syriza-Wähler der Meinung, Zypern wäre besser daran, wenn es aus der Eurozone ausscheidet. 51 Prozent der Syriza-Anhänger hielten das Ausscheiden Zyperns für wahrscheinlich, eine noch größere Mehrheit ging von einem Zerfall der gesamten Eurozone aus, und der Anteil derer, die eine negative Meinung über den Euro hatten, stieg auf den Rekordwert von 63 Prozent. Inzwischen hat sich die Sicht der Dinge wieder etwas beruhigt. Aber auch derzeit gibt es unter den Syriza-Wählern keine Mehrheit für den Verbleib Griechenlands in der Eurozone, wie das im Sommer 2012 noch der Fall war.
Das heißt: In derselben Zeit, in der Tsipras auf Drängen seiner ökonomischen Experten auf den Euro-Verbleib und gegen die Rückkehr zur Drachme festlegte, bewegten sich die Syriza-Wähler in entgegengesetzter Richtung. Das gibt den innerparteilichen Euro-und EU-Gegnern neuen Auftrieb, den die Parteiführung nicht ignorieren kann. Deshalb wurde die Euro-Frage in dem programmatischen Manifest kaum thematisiert und kommt nur in einem einzigen Satz vor, und der lautet: „Keinerlei Opfer für den Euro.“ Das ist offensichtlich eine Kompromissformel, mit dem die Parteiführung die linke Plattform beschwichtigen will. Dennoch fordert die „linke Plattform“ beharrlich, die Partei müsse eine Diskussion über „die Diktatur des Euro“ führen, wie ihr Anführer Lafazanis sich ausdrückt. Der glaubt im Übrigen, dass das in dem Syriza-Manifest umrissene “Programm einer linken Regierung“ innerhalb der Eurozone nicht umzusetzen ist – eine These, die nicht leicht von der Hand zu weisen ist.
Radikale Illusionen und die Machtfrage
Der schon zitierte Syriza-Veteran Vassilis Paikos wünschte sich vor dem Kongress eine „wahrhaft vereinigte und ernsthafte Partei, die nicht schon die Saat künftiger Abenteuer in sich trägt“. Das entspricht auch den Vorstellungen derjenigen potentiellen Wechselwähler, die für eine linke Alternative gewonnen werden müssten, damit Griechenland in absehbarer Zeit eine Regierung Tsipras erlebt. Die zweite Gründung der Syriza ist zwar ein wichtiger Schritt der Konsolidierung, hat aber auch erneut den Widerspruch klar gemacht, den eine im linksradikalen Milieu verwurzelte Partei aufheben oder mindestens überbrücken muss, nämlich die Dynamik und Ausstrahlung einer linken Bewegungspartei in Einklang zu bringen mit der Zuverlässigkeit und Realitätsnähe einer „Machtpartei“, die dazu noch in einer tiefen Krise die Verantwortung übernehmen will. Dazu muss die Syriza nicht nur eine Wählermehrheit gewinnen, sie muss auch über längere Zeit von einer gesellschaftlichen Mehrheit „getragen“ werden.
Diese Aufgabe beschreibt sehr realistisch Nick Malkoutzis (Herausgeber der englischen Ausgabe von Kathimerini) in einem Kommentar nach dem Syriza-Parteitag. Er geht davon aus, dass die Linkspartei das politische Potential ihrer Anti-Troika-Politik weitgehend ausgeschöpft hat. Deshalb müsse die neue Syriza jetzt ihre Opposition gegen das Memorandum durch eine politische Strategie ergänzen, „die den Wählern der Mitte überzeugend klarmacht, dass sie die fürchterliche Lage Griechenlands nicht noch verschlimmert, dass sie also die Chance verdient, das Land zu regieren.“
Eine solche Strategie kann wohl nicht darin bestehen, die Krise als historische Chance zum direkten Durchmarsch in den Sozialismus zu sehen, wie es der harte Kern der „linken Plattform“ verbalisiert. Diese Illusion teilen Tsipras und die Mehrheit der Syriza gewiss nicht, aber sie sehen sich gezwungen, sich ideologisch ständig mit ihrer innerparteilichen Opposition auseinandersetzen. Das aber färbt auf die Selbstdarstellung der Partei in einer Weise ab, die den zögernden und zweifelnden Wählern das Votum für eine Ablösung der alten politischen Klasse schwerer macht.