Schäuble was here – Holzfäller am Werk
Der Ausnahmezustand, der am Donnerstag letzter Woche im Zentrum von Athen herrschte, hat einen Namen: Wolfgang Schäuble. Wie schon beim Besuch von Angela Merkel im Oktober letzten Jahres wird das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit suspendiert, sobald jemand aus der EU-Chefetage in Berlin die griechische Hauptstadt aufsucht. Es herrschte nicht nur absolutes Demonstrationsverbot, die Polizei legt auch vier U-Bahn-Stationen im Stadtzentrum still. Kein Normalbürger sollte auch nur in die Nähe von Schäuble gelangen können. Dass der deutsche Finanzminister ein demonstratives „Geschenk“ mitbrachte – 100 Millionen Euro als Hilfskredit zur Gründung einer griechischen Förderbank nach dem Vorbild der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) – hat die griechische Bevölkerung kaum zur Kenntnis genommen. Kredite sind ja ohnehin nichts anderes als neue Schulden. Aufmerksam registriert wurde hingegen, neben dem Ausnahmezustand, der Zeitpunkt des Besuchs: nur wenige Stunden nachdem die griechische Regierung im Parlament jenes „Holzfäller“-Gesetz für den Öffentlichen Dienst durchgepeitscht hat, das die Troika – und somit auch Schäuble – zur Vorbedingung für die Auszahlung ihrer nächsten Kreditrate erklärt hatte. Von Niels Kadritzke.
Die Finanzminister der Eurozone werden am 24. Juli in einer Telefonkonferenz die Auszahlung von 2,5 Mrd. Euro zu Ende Juli beschließen (zum selben Zeitpunkt sollen noch 1,5 Mrd. Euro aus den Gewinnen der Zentralbanken und 1,8 Mrd. Euro aus IWF-Mitteln fließen, siehe dazu meinen Beitrag vom 11. Juli).
Die zeitliche Planung des Schäuble-Besuchs wirft eine interessante Frage auf: Was wäre gewesen, wenn das griechische Parlament dem Gesetz nicht zugestimmt hätte? Wäre der deutsche Finanzminister dann gar nicht aus Berlin abgeflogen? Das wurde in Berlin heftig bestritten. Aber wie wäre Schäuble nach einer parlamentarischen Niederlage von Samaras in Athen aufgetreten? Als Zuchtmeister, der die Peitsche über den Abgeordneten schwingt? Als Terminator, der erneut den bösen Geist des „Grexit“, des Rausschmisses aus der Eurozone, aus der Flasche lässt? Oder als Zuhörer, der sich die Sorgen der Griechen anhört und bereit ist, endlich über die nächste Umschuldung zu diskutieren, die viele Experten ohnehin für unvermeidlich halten?
Die dritte Variante ist auszuschließen. Auch in Athen hat Schäuble Fragen nach einem möglichen OSI (Official Sector Involvment) abgebürstet. Eine Diskussion um einen Schuldenschnitt für die griechischen Bonds, die bei der EZB oder bei den nationalen Zentralbanken liegen, darf es vor der Bundestagswahl nicht geben (worum es dabei geht, ist in der Erklärung von Axel Troost, MdB der Linkspartei, nachzulesen hier) Schließlich will die Regierung im Wahlkampf keine Fragen nach Folgelasten für den deutschen Steuerzahler zu hören bekommen. So gesehen war Schäubles Athen-Reise sogar ein gelungener Wahlkampf-Auftritt, hieß es erfrischend offen in der FAZ vom 18. Juli:
„Der Zeitpunkt des Besuchs könnte aus Sicht des Finanzministers nicht besser sein. Erst am Abend zuvor hatte das Parlament in Athen ein Sparpaket gebilligt. Nicht zuletzt wird es die Entlassung von Staatsdienern ermöglichen – eine zentrale Forderung der Troika. Dass Proteste seinen Besuch begleiten, muss den Deutschen nicht stören. Im Gegenteil: So kommt er in der Heimat als harter Hund herüber.“ Griechenland-Besucher Schäuble könne damit eine positive Bilanz ziehen: „Bis zur Bundestagswahl dürfte es ruhig bleiben, bis dahin ist die Finanzierung des Landes gesichert.“
Auch FAZ-Kommentator Manfred Schäfers weiß allerdings auch, wo es nach den Wahlen lang gehen wird. Zwar werde es wohl keinen zweiten Schuldenschnitt für private Gläubiger (PSI) geben, aber „dass öffentliche Gläubiger um einen Verzicht herumkommen werden, glauben die wenigsten, die sich mit den Zahlen beschäftigen“. Zu denjenigen, die sich mit Zahlen beschäftigen, gehört offenbar auch Jörg Asmussen, der deutsche Vertreter im EZB-Direktorium. Er meinte auf eine Frage der Rheinischen Post, die Debatte über einen Schuldenschnitt sei „nicht hilfreich“, weil sie davon ablenke, „dass es zu allererst um die Fortsetzung der Reformen in Griechenland geht“. Was nach dem „zu allererst“ kommen könnte, sagt Asmussen nicht. Ein hartes Dementi sieht anders aus. Der große Kassensturz ist spätestens im Frühjahr 2014 fällig, wie es die Brüsseler Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung prophezeit (Cerstin Gammelin vom 18. Juli).
Kleine, aber folgenlose Rebellion im Parlament
Zurück nach Athen. Dort hat die Regierung Samaras/Venizelos ihr umfangreiches Gesetzespaket in der Nacht zum Donnerstag mit einer notdürftigen Mehrheit durchgebracht. Das Abstimmungsergebnis fiel mit 153 zu 140 Stimmen noch knapper aus als erwartet; zwei Pasok-Abgeordnete stimmten der Vorlage nicht in allen 109 Einzelpunkten zu. Das ist für den Pasok-Vorsitzenden und Vize-Regierungschef Venizelos schon deshalb ein Problem, weil es sich bei den Dissidenten nicht um Hinterbänkler handelt. Verweigert haben sich zum einen der frühere Parlamentspräsident Apostolos Kaklamanis, ein von vielen Pasok-Wählern sehr geachteter Veteran, der das gesamte Gesetzespaket in einer Rede heftig kritisiert und sich danach krank gemeldet hat. Gravierender ist für die Pasok, dass ausgerechnet ihr Fraktionsvorsitzendes Paris Koukoupoulos in einem zentralen Punkt gegen seine eigene Regierung stimmte: Er lehnte den Artikel über die Auflösung der kommunalen Polizeikräfte ab. Der Mann wird zwar den Fraktionsvorsitz verlieren, aber angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse im Parlament kann es die Pasok-Führung nicht wagen, Koukoupoulos aus Fraktion und Partei auszuschließen. Zumal der Abgeordnete nach einem Treffen mit Venizelos erklärte, er habe eine reine „Gewissensentscheidung“ getroffen (wie sie ihm nach der griechischen Verfassung auch zusteht).
Im Übrigen versuchte der für die „Reform des öffentlichen Dienstes“ verantwortliche Minister Kyriakos Mitsotakis, die beiden Koalitionsfraktionen mit einzelnen „sozialen“Zugeständnissen zusammen zu halten. So wurde das Gesetzespaket in letzter Minute in mehreren Punkten geändert. Das Gesetz benennt die Bereiche des öffentlichen Dienstes, aus denen bis Ende Juli 12.500 und bis Ende dieses Jahres 25.000 Personen in eine sogenannte „Mobilitätsreserve“ verschoben werden (2014 sollen weitere 15.000 folgen). Die Sonderklauseln beziehen sich vor allem auf die etwa 3.500 kommunalen Polizei- und Ordnungskräfte, die in die staatliche Polizei oder in die Gefängnisverwaltung überführt werden sollen, sowie 2.200 Bedienstete, die als Wachpersonal an Schulen eingestellt sind.
Die wichtigsten Zugeständnisse sind:
- Den Kommunen bleiben zehn Prozent ihrer eigenen Polizeikräfte erhalten. Ganz von der Überführung in die nationale Polizei ausgenommen werden Polizisten in Gemeinden von weniger als 5.000 Einwohnern (das betrifft vor allem die kleineren griechischen Inseln).
- Verschont werden Polizisten oder Schulwächter, die ein Nachdiplomstudium absolviert haben (das dürften allerdings nicht besonders viele sein).
- Ausnahmen gibt es auch für einige „soziale Härtefälle“ (Alleinerziehende oder Eltern mit einem behinderten Kind).
Zudem werden jetzt einige Gruppen definiert, die bei der Übernahme von Leuten aus der „Mobilitätsreserve“ in andere Bereiche des öffentlichen Dienstes bevorzugt behandelt werden sollen, wie etwa Eltern von drei und mehr Kindern. Solche Prioritätskriterien haben allerdings den Nachteil, dass sie zugleich klar machen, was mit den nicht bevorzugten Leuten passieren wird: Die meisten von ihnen werden entlassen, denn das ist ja der Zweck der ganzen Übung. Die „Mobilitätsreserve“ (der griechische Ausdruck bedeutet wörtlich: „Mobilitätspool“) ist eine Konstruktion, die die Massenentlassungen notdürftig verschleiern soll.
Theoretisch hat zwar jede Person, die in diesen „Pool“ hineingestoßen wird, die Chance, von einer anderen staatlichen Stelle herausgezogen, sprich wieder eingestellt zu werden, aber viel größer ist die Wahrscheinlichkeit zu ertrinken, denn es gibt schlicht zu wenig Behörden, die in absehbarer Zeit neues Personal einstellen (dürfen). Und das Gesetz bringt den Verstoßenen noch eine zusätzliche Härte: die Verweildauer im „Mobilitätspool“, während der sie noch ein reduziertes Einkommen beziehen, wurde von zwölf auf acht Monate verkürzt.
Horizontale Entlassungen verhindern eine durchdachte Reform des Öffentlichen Dienstes
Das Problem des ganzen Verfahrens hat in der Parlamentsdebatte am klarsten der Abgeordnete Fotis Kouvelis herausgearbeitet. Der Vorsitzende der Demokratischen Linken (Dimar), die anlässlich des ERT-Konflikts aus der ersten Regierung Samaras ausgeschieden ist, erklärte: „Der Beschluss, Tausende von Menschen innerhalb nur weniger Wochen (in die Mobilitätsreserve) zu versetzen, ohne vorangegangene Evaluierung der Strukturen, ohne langfristige Personalplanung, ohne Stellenbeschreibungen und ohne Erfassung der unqualifizierten Leute, ein solcher Beschluss läuft in der Realität auf reine Willkürentscheidungen hinaus; und das wirft auch die Frage auf, ob das ganze Verfahren nicht verfassungswidrig ist.“(Ta Nea 17. Juli)
Eine interessante Information lieferte in der Debatte der DIMAR- Abgeordnete Nikos Tsoukalis. Er konnte mit Dokumenten nachweisen, dass der Vorgänger von Mitsotakis, der frühere „Reform“-Minister Manitakis, für sein Konzept einer langfristig angelegten „Neubegründung“ des öffentlichen Dienstes sogar die Unterstützung der sogenannten EU-Task Force hatte (nach ihrem Leiter Horst Reichenbach auch als Reichenbach-Gruppe bekannt). In diesem Expertenstab sind für die Verwaltungsreform französische Berater zuständig, die sich mit Manitakis einig waren, dass ein „horizontales“ Kappen des öffentlichen Dienstes jede grundlegende Reform zu Nichte machen würde. Lange Zeit, so Tsoukalis, habe auch die Regierung diese Rasenmäher-Methode abgelehnt – bis sie dem Drängen der Troika, und vor allem des IWF nachgegeben habe. Damit habe man das Ziel einer qualitativen Reform dem Ziel geopfert, die geforderte Zahl von Stellen einfach weg zu kürzen.
Diese Aussage von Tsoukalis ist aufschlussreich und vernebelnd zugleich. Hochinteressant ist, dass es in dieser Frage erhebliche Differenzen zwischen den Fachleuten der Task Force und der Troika gibt. Allerdings verschweigt Tsoukalis die Tatsache, dass Manitakis als „Reform“-Minister der ersten Regierung Samaras in seinen Bemühungen um einen grundlegenden Umbau des öffentlichen Dienstes von Beginn an bei der Bürokratie aufgelaufen ist. Die blockierte jeden Anlauf zu einer Evaluierung der Behörden und des eingesetzten Personals und lieferte zuweilen nicht einmal die angeforderten Organogramme von Ministerien und nachgeordneten Behörden.
In den vierteljährlichen Fortschrittsberichten der Task Force werden diese Behinderungen dezent, aber erkennbar kritisiert. Im Dezember 2012 mahnte die Task Force die Regierung an, die „Schaffung eines Mechanismus für die Koordination zwischen den einzelnen Ministerien“ zu beschleunigen, ohne den man gar nicht vorankomme. Bis Ende 2012 war eine Evaluierung des Personals nur im Ministerium für Umweltschutz gelaufen. Nach Auswertung dieses Pilotprojekts sollten alle Ministerien nachziehen, das ist bis heute nicht geschehen. Auch im ersten Quartalsbericht 2013 meldet die Task Force, Fortschritte habe es lediglich bei der „Planung der Reorganisation der griechischen Ministerien“ gegeben, das Stadium der „Umsetzung“ sei aber noch nicht erreicht. Für die nachgeordneten Behörden und die Verwaltung auf Provinz- und lokaler Ebene waren im April 2013 noch nicht einmal die Evaluierungskriterien beschlossen, lediglich für den Bereich der Steuerverwaltung waren einige „allgemeine Richtlinien“ ausgearbeitet.(Eine Zusammenfassung der Vierteljahresberichte der Task Force; dazu ein link zu den ausführlichen Berichten, die allerdings nur auf Griechisch vorliegen).
Die Obstruktionsmacht der Bürokratie
Wie weit diese Obstruktion des staatlichen Apparates geht, hat vor einigen Tagen ein Mann enthüllt, der dafür der beste griechische Zeuge ist. Leandros Rakintzis bekleidet die Position des „Generalinspekteurs der öffentlichen Verwaltung“. Die Integrität des ehemaligen Richters am Obersten Gericht (dem Aeropag) ist über alle Zweifel erhaben ist. Rakintzis übt sein Inspektorenamt seit 2004 aus, muss dabei allerdings mit nur 30 Mitarbeitern auskommen. Der Jahresbericht des Generalinspekteurs, der in der Regel Ende Juli erscheint, gilt als bestes Barometer für die Korruptionswetterlage im Lande.
In der Sonntagsausgabe von Kathimerini (vom 14. Juli) berichtet Rakintzis, dass der parteipolitische Klientelismus seit Beginn der Krise keinesfalls schwächer geworden ist: „Die Versuche, politische Freunde und Verwandte zu begünstigen haben sich eher noch intensiviert, seitdem es nicht mehr so viele Nester gibt, die ein bequemes Einkommen bieten. Dasselbe gilt für die Bemühungen, die eigenen Kumpel vor den Folgen der Haushaltskürzungen zu schützen“.
Die Obstruktion der Korruptionsbekämpfung durch die Bürokratie selbst kam in der Parlamentsdebatte am letzten Mittwoch natürlich nicht zur Sprache. „Reform“-Minister Mitsotakis betonte zwar, dass man „Disziplinarfälle“ als erste in die Mobilitätsreserve schicken werde, aber Zahlen nannte er nicht. Bemerkenswert war jedoch sein Hinweis auf die Gruppe, die ebenfalls ihrer Entlassung entgegensehen soll: jene Staatsdiener, die sich ihre Einstellung mittels gezinkter Bewerbungsunterlagen erschlichen haben (zum Beispiel mit gefälschten Sprachdiplomen). Man sollte eigentlich davon ausgehen, dass solche Leute nach Aufdeckung ihres Betrugs unverzüglich gefeuert wurden. Aber das ist – angesichts klientelistisch organisierter Disziplinarausschüsse – eine hoffnungslos naive Annahme.
Logisches Ergebnis: die Holzfäller-Methode
Da sich die Regierungen als unfähig und unwillig erwiesen haben, eine gründlich geplante, auf qualitative Verbesserungen zielende Reform in die Wege zu leiten, geht es ihr heute nur noch darum, die quantitativen Vorgaben fristgerecht zu erfüllen. Das läuft auf die Holzfäller-Methode hinaus: Statt den öffentlichen Dienst wie einen Obstbaumgarten zu pflegen und auf Ertrag zurecht zu schneiden (wofür es den schönen Ausdruck Baumpflege gibt), kommt die Motorsäge zum Einsatz. Drei bis vier ausreichend dicke Bäume (ERT, kommunale Polizei, Schulwächter, die Lehrer eines bestimmten Schultyps) müssen fallen, damit man der Troika die geforderte Menge Holz liefern kann. Ob die sonstigen Bäume mehr und bessere Früchte tragen, ob also die Bürger endlich mehr von ihrem Öffentlichen Dienst haben, ist den Holzfällern herzlich egal.
Der ungebrochene Klientelismus ist also wieder einmal dafür verantwortlich, dass eine seit drei Jahren geplante, von vier Regierungen zugesagte, von der EU-Task Force seit dem Sommer 2011 unterstützte Reform für einen leistungsfähigeren öffentlichen Dienst so lange Zeit blockiert wurde. Das Ergebnis ist nicht nur eine große Ungerechtigkeit für die pauschal betroffenen Gruppen, es impliziert auch politische Weichenstellungen, die niemand geplant oder erwünscht hat, wie etwa die Abschaffung der kommunalen Ordnungskräfte, die allen offiziellen Bekenntnissen zur Stärkung der kommunalen Ebene gegenüber dem Zentralstaat zuwiderläuft. Deshalb hat sich die Regierung mit ihrem Schlag gegen die kommunalen Ordnungskräfte einen handfesten Konflikt mit dem Verband der Kommunen (KEPE) eingehandelt, die sich wieder einmal durch Athen überfahren fühlen. Dafür werden die Regierungsparteien in den Kommunalwahlen des nächsten Jahres sicherlich die Quittung bekommen.
Es ist ja durchaus nicht so, dass die griechische Bevölkerung mehrheitlich prinzipiell gegen Reform des ausgeuferten Öffentlichen Dienstes wäre. Nach einer neuen Umfrage (von Kapa Research, veröffentlich in To Vima vom 21. Juli) sind nur 36 Prozent der Befragten grundsätzlich gegen Stellenkürzungen, während 60 Prozent dafür sind, wobei sogar jeder zweite Syriza-Wähler zu den Befürwortern gehört (dabei ist allerdings wichtig zu wissen, dass sich die Fragestellung nicht auf den konkreten Regierungsplan bezog. Auch die eher dürftige Teilnahme an den Demonstrationen, zu denen die Gewerkschaften letzte Woche vor dem Parlament aufgerufen hatten, zeugt von einer immer noch breiten Skepsis der Griechinnen und Griechen gegenüber einem klientelistischen öffentlichen Sektor, der zu einem Teil für die griechischen Probleme verantwortlich ist.
Ein neuerlicher Beleg des Versagens
Das am 17. Juli verabschiedete Gesetz ist kein Erfolg der alten politischen Klasse, sondern ein neuerlicher Beleg ihres Versagens. Dass die Regierung dieses Gesetz durchpeitschte, verschafft ihr allenfalls eine kurze Atempause. Und der gesetzgeberische Parforce-Ritt hat ihre Autorität eher geschwächt als gestärkt. Das gilt auch für Ministerpräsident Samaras selbst, der am Vorabend der Abstimmung eine weitere seiner verzweifelten Eigenlob-Nummern abgezogen hat. In einer Fernsehansprache verkündete er dem Volk in dramatischen Worten, er ganz persönlich habe der Troika die Erlaubnis abgerungen, die Mehrwertsteuerrate für das Hotel- und Gaststättengewerbe von 23 auf 13 Prozent zu senken, und zwar ab 1. August für vorerst sechs Monate. Damit sei es erstmals gelungen, die Troika zu einer Steuersenkung zu bewegen: „Im Gegensatz zu dem, was einige behaupten, machen wir wirkliche Fortschritte.“
Die Fernsehansprache war ernst gemeint, jedenfalls als PR-Aktion. Doch die meisten Griechen haben den Auftritt ihres Regierungschefs als Groteske empfunden. Und das nicht nur, weil beim Sender Skai TV „versehentlich“ eine verkorkste Aufnahme der Ansprache landete und eingespielt wurde (in der sich Samaras drei Mal verhaspelt und entnervt aus dem Bild geht, wobei die Worte zu hören sind: „Fickmich -mein Kopf“, und dazu ein griechisches Wort, das man besser nicht übersetzt).
Das politische Kalkül bei dieser Samaras-Ansprache ging aus drei Gründen nicht auf. Erstens war der Zeitpunkt zu offensichtlich. Am Vorabend der Debatte um ein umstrittenes Gesetz, wirkte die „Erfolgsmeldung“ wie ein abgekartetes Spiel: als sei das „große Ringen“ mit der Troika nur simuliert, damit der Regierungschef pünktlich in der Heldenrolle posieren konnte. Zweitens ist eine Steuersenkung zum 1. August nur bedingt geeignet, dem Hotel- und Gaststättengewerbe eine Konjunkturspritze zu geben, die Samaras der Branche versprochen hat. Bis dahin ist die touristische Saison bereits zur Hälfte gelaufen. Jedenfalls wird kein ausländischer Tourist wegen einer billigeren Tasse Kaffee, die sich Samaras von seinem Coup verspricht, seine Reisepläne ändern.
Am wichtigsten ist der dritte Punkt: Es ist eine völlig offene Frage, ob die Gaststätten und Pensionen ihre Ersparnis bei der Mehrwertsteuer überhaupt an die Konsumenten weiter geben (können). Darauf hat im Parlament auch der wirtschaftspolitische Sprecher der Syriza, der Ökonom Georgios Stathakis hingewiesen. Damit steht und fällt aber die Grundannahme der Regierung, die gegenüber der Troika argumentiert hat, die verlorenen Steuereinnahmen würden durch höhere Umsätze des Gewerbes weitgehend ausgeglichen. Diese Rechnung setzt voraus, dass die Preise tatsächlich nach unten angepasst werden, aber vor allem auch, dass die Restaurants und Cafés die Mehrwertsteuer nicht ganz unterschlagen, indem sie etwa keine Rechnungen ausstellen. Im letzten Sommer hat sich gezeigt, dass Steuerunterschlagung und Schwarzarbeit gerade in der touristischen Hochsaison besonders stark zugenommen haben (siehe dazu mein Bericht auf den NachdenkSeiten vom 30. August 2012).
Ermittlungen der Polizei und der Steuerfahndung belegen, dass dieser Trend auch dieses Jahr ungebrochen ist. Die Kontrolleure haben zwischen Mitte Juni und Mitte Juli bei der Hälfte der Gaststättenbetriebe gleich mehrfache Steuervergehen festgestellt (pro Betrieb im Durchschnitt fast 2,5 Verstöße). Dabei lag der Prozentsatz in den boomenden Touristenzentren besonders hoch: In Rhodos bei fast 85, in Santorini bei 77 Prozent. Von den überprüften Arbeitskräften waren knapp 30 Prozent schwarz beschäftigt.
Verzweifelter Appell ans Gaststättengewerbe
Es spricht also einiges dafür, dass die meisten Gaststättenbetriebe die ersparten zehn Prozent der Mehrwertsteuer für sich behalten werden. Deshalb appellierte Samaras in seiner Fernsehansprache an die Branche, sie möge einen ehrlichen Beitrag zur Gesundung der Staatsfinanzen leisten. Wenn die Gaststätten nicht endlich Quittungen ausstellten, müsse man die Steuer wieder erhöhen. Nick Malkoutzis, der Herausgeber der englischen Ausgabe von Kathimerini meint zurecht: Das klinge so, als sehe die Regierung die ermäßigte Mehrwertsteuer als „Anreiz für die Restaurationsbranche, ein Gesetz zu befolgen, an das sich viele andere Branchen bereits halten“.
Hintergrund für den Samaras-Appell ist die Befürchtung, durch die Mehrwertsteuer-Senkung könnten die staatlichen Einnahmen so stark zurückgehen, wie es die Steuerschätzer der Troika vermuten, nämlich um 130 Millionen Euro. In den Verhandlungen mit den EU-Partnern einigte man sich auf den Kompromiss, einen Verlust von 100 Millionen Euro anzunehmen. Das heißt aber, dass die die griechische Seite Einsparungen in dieser Höhe zusagen musste, da sie ja ständig betont, sie wolle 2013 einen Überschuss im Primärhaushalt erzielen.
Diese 100 Millionen werden im Verteidigungshaushalt, und zwar bei der Beschaffung von Rüstungsgütern gestrichen. Eine andere Lösung war ausgeschlossen, denn beide Regierungsparteien haben ihren Wählern versprochen, keine neuen Einschnitte in die Einkommen und in die verbliebenen staatlichen Leistungen vorzunehmen.
So gesehen ist die Kürzung der Rüstungsausgaben das einzige positive Ergebnis, das diese Mehrwertsteuer-Saga hervorgebracht hat.