Nicht ins Bockshorn jagen lassen. Ein Aufschwung sieht anders aus.
Déjà vue: Fast genau vor sechs Jahren, am 15. November 2000, verkündete der Sachverständigenrat, die Konjunktur „laufe rund“. Das war der Tenor seines Jahresgutachtens – und dies bei damals schon 4 Millionen Arbeitslosen. Also tat man damals nichts mehr für die Konjunktur, im Gegenteil, Eichel sah seinen Sparkurs bestätigt. Seit dem rasseln wir weiter in den Keller. Jetzt das gleiche Spiel, nur mit noch schlechteren Voraussetzungen. Die Bundesregierung redet von „robustem Aufschwung“, Steinbrück verteidigte die restriktive Haushaltspolitik der Koalition, die einen “robusten” Aufschwung gebracht habe, hieß es im Berliner Tagesspiegel. (Das ist gleich zweifacher Unsinn). Die vorliegenden Zahlen und Prognosen erlauben nüchtern betrachtet nicht, von einem wirklichen Aufschwung zu sprechen, so gerne wir das täten. Und dass die restriktive Haushaltspolitik für das bisschen Aufschwung gebracht habe glaubt auch nur Steinbrück und seine neoliberalen Glaubensgenossen.
Die These vom robusten Aufschwung hat inzwischen weite Kreise gezogen. Es ist wie immer bei solchen Vorgängen. Ohne großes Nachdenken werden die ausgegebenen Parolen nach- und weitergesagt. Hier in Deutschland und in Brüssel. Und in vielen Medien. Typisch das „Handelsblatt“ in Berufung auf das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) und den Brüsseler Chefökonomen Klaus Gretschmann: „Deutsche Konjunktur bleibt robust“, heißt es bei Handelsblatt.
Und weiter:
„Die deutsche Konjunktur läuft derzeit auf Hochtouren – und bleibt auch im kommenden Jahr robust. Darauf deuten am Montag veröffentlichte Daten sowie Konjunkturprognosen hin. So rechnet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2007 mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 1,5 Prozent, im laufenden mit einem Plus von 2,4 Prozent. … Damit hat das arbeitgebernahe Institut seine Wachstumsprognose deutlich nach oben korrigiert und gehört zu den Optimisten – verglichen mit anderen Forschungsinstituten und Banken. EU-Chefökonom Klaus Gretschmann ist noch zuversichtlicher und rechnet für Deutschland mit einem Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent in diesem und rund 2,2 Prozent im kommenden Jahr.“
Was ist davon zu halten:
Zunächst zu den Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsproduktes der letzten Jahre und der Prognosen für 2006 und 2007:
1998 | 2,0 |
1999 | 2,0 |
2000 | 2,9 |
2001 | 0,6 |
2002 | 0,2 |
2003 | -0,1 |
2005 | 0,9 |
2006 | 2,0 bis 2,6* |
2007 | bis 1,5* |
(* = Prognosen und Ziffern nach Statistisches Taschenbuch 2003 und 2005)
Wie seltsam die Vorstellung ist, wir hätten mit den geschätzten 2,0 bis 2,6% realem Wachstum in diesem Jahr und erwarteten 1,5% im Jahr 2007 einen robusten Aufschwung, kann man schon beim Vergleich mit der eingangs erwähnten Periode zwischen 1998 und 2001 erkennen. Damals erreichte unsere Volkswirtschaft in dem Jahr, an dessen Ende der Sachverständigenrat meinte, die Konjunktur laufe rund, immerhin 2,9%. Außerdem lagen davor schon zwei Jahre mit immerhin 2%. Heute schauen wir auf traurige 1,7 und 0,9% zurück und erwarten für dieses Jahr 2,0 bis 2,6%. Schon dieser Vergleich zeigt, dass die Wachstumsraten ausgesprochen bescheiden sind.
Wenn man jetzt jedoch noch beachtet, dass wir auf eine mindestens dreizehnjährige Schwächeperiode zurückschauen, mit durchschnittlich nur 1,2% realem Wachstum seit 1993, dann leuchtet sofort ein, dass wir einen enormen Nachholbedarf haben, dass wir absolut unterausgelastete Kapazitäten haben; die hohe Arbeitslosigkeit ist der beste Beleg dafür. In anderen Ländern, die einen wirklichen Aufschwung schafften, waren mehrmals reale Wachstumsraten um die 3-4% nötig, um den Durchbruch zu erzielen und eine positive Wirkung für die Beschäftigung, die Minderung der Arbeitslosigkeit und den Schuldenabbau zu erreichen.
Wenn man noch bedenkt, dass die Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität jährlich ungefähr 1,5% ausmacht, dass also ein Wachstum in dieser Größenordnung sich nicht in neue Arbeitsplätze umsetzt, dann erkennt man sofort, dass die jetzt avisierten Wachstumsraten für 2006 und 2007 alles andere als robustes Wachstum darstellen. Wir bräuchten mehrmals hintereinander 3% oder mehr, um wirklich aus dem tiefen Loch herauszukommen, in dem sich unsere Volkswirtschaft seit 1993 befindet.
Wenn die Regierenden heute von robustem Wachstum sprechen, dann wäre das nur dann positiv zu bewerten, wenn man unterstellen würde, sie wollten damit nur eine gute Stimmung verbreiten. Das ist legitim und notwendig. Aber es ist zu befürchten, dass unsere führenden Personen und in die in den Verbänden und Instituten Tätigen Mainstream-Ökonomen und Politiker mit ihren Parolen zum robusten Wachstum sich nur gegen Forderungen immunisieren wollen, endlich etwas Wirkungsvolles zur Stärkung der ausgehungerten Binnennachfrage zu tun.
Vor allem wollen sie sich auch vor weiteren Forderungen schützen, die beschlossene Mehrwertsteuererhöhung von drei Punkten zurückzunehmen.
P.S.: Zu meinen Anmerkungen passt ganz gut ein Beitrag von Dieter Vesper in den WSI-Mitteilungen 9/2006: „Finanzpolitik – Richtungswechsel an der Zeit“ [PDF – 78 KB]. Vesper (DIW) analysiert die Fehlentwicklungen in der Finanzpolitik und macht Vorschläge dafür, sie wenigstens jetzt zu überwinden.