Die Ausreden der Reformer werden immer bunter
Die Reformer haben seit langem das Problem, dass ihre Reformen die versprochenen Wirkungen nicht haben. Das gilt zum Beispiel für die vielen Steuersenkungen und Steuerreformen von Kohl über Schröder bis zu Merkel, es gilt für die vielen Entscheidungen zum Abbau von Sozialstaatlichkeit wie zum Beispiel Hartz I bis IV und die damit verbundene Agenda 2010. Die Reformer haben die Wirkungslosigkeit häufig damit übertüncht, dass sie beklagten, die Reformen seien nicht weit genug gegangen. Und sie empfahlen, die Dosis zu erhöhen. Oder sie haben die Schuld für das Versagen bei den Opfern gesucht. Typisch dafür war der Angriff des früheren Wirtschaftsministers Clement auf die Hartz IV-Empfänger. Sie wurden von ihm vor einem Jahr schon, als das Scheitern von Hartz IV erkennbar war, als Abzocker gebrandmarkt.
Immer wieder haben die Reformer ihre Erfolglosigkeit auf die angebliche Blockade durch unser politisches System und die geltende Verfassung geschoben. Der Föderalismus war schuld. Deshalb beschlossen sie eine Föderalismusreform und fordern noch eine weitergehende. Zum Thema Blockade gibt es jetzt neue Variationen der Strategie von Ausreden und Alibis.
Professur Sinn aus München schrieb am 4.9. in der „Welt“: „Die wirkliche Erklärung für Deutschlands politische Stagnation ist, dass es einfach keine Mehrheit für liberale Reformen gibt, denn solche Reformen würden zunächst zu viele Verlierer mit sich bringen.“ Diese Behauptung hat nahezu keinen realen Kern. Denn es ist ja geradezu ein Merkmal der Politik in den letzten Jahren, dass permanent Reformen gegen die Interessen der Mehrheit gemacht wurden und werden: der Mehrheit hat man mit Hartz IV de facto das Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung genommen, man verlangt 3% zusätzliche Mehrwertsteuer und senkt die Steuern für die hohen Einkommen und Vermögen, man subventioniert die Minijobs und reduziert die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse, die Löhne stagnieren seit über 10 Jahren und die Managergehälter wachsen exponentiell, und so weiter und sofort. In den Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden unserer Wortführer wurde dieses Verhalten, diese immer währende Aggression gegen die Schwächeren, obendrein zu adeln versucht.
Und dann kommt angesichts dieser Realität ein Münchner Professor daher, und behauptet, für das, was er liberale Reformen nennt, gäbe es keine Mehrheit. Unseren Meinungsführern und den politisch Entscheidenden ist die Mehrheitsmeinung ziemlich egal, solange sie in den Medien und mit den Medien eine Stimmung gegen die Interessen der Mehrheit zu organisieren vermögen. Das ist die Realität. Mit dem Kern von Demokratie hat das alles nichts mehr zu tun, wie übrigens auch die Klage von Herrn Professor Sinn ein eigenartiges Verständnis von Demokratie offenbart.
Die Behauptung von Hans-Werner Sinn hat mit der Realität nichts zu tun, aber sie erleichtert die Herrschenden, weil sie wieder nicht gezwungen werden nachzudenken. „Die Mehrheit ist halt dagegen, deshalb scheitern wir“, so oder ähnlich lautet die entlastende Denke.
Man muss und kann deshalb die Äußerung von Sinn nicht als Versuch zur Erklärung der Realität werten. Sie hat Alibicharakter. Die im kollektiven Wahn befindlichen Eliten bekommen von Herrn Sinn eine Art seelischer Erleichterung serviert.
Von Sinns Beobachtung ist es dann nicht mehr weit bis zu der Forderung jenes Libertären Instituts, den Netto-Empfängern von staatlicher Unterstützung das Wahlrecht zu entziehen.