Die Austeritätspolitik gefährdet den europäischen Zusammenhalt und die Demokratie
Was von vielen kritischen Beobachtern seit langem vermutet wurde, lässt sich jetzt belegen: Die Eurokrise hat das Vertrauen vieler Menschen in die Europäische Union zerstört. Der britische „Guardian“ veröffentlichte in der letzten Woche Daten der EU-Meinungsumfrage „Eurobarometer“, die von der unabhängigen Stiftung European Council on Foreign Relations (ECFR) ausgewertet wurden. Das Ergebnis: Ein massiver Vertrauensverlust in die EU in Ländern wie Spanien, Deutschland und Italien, die traditionell eigentlich pro-europäisch eingestellt sind. Ein Gastartikel von Günther Grunert.
Der „Guardian“ kommentiert die Resultate, die in Großbritannien exklusiv in dieser Zeitung veröffentlicht wurden, wie folgt:
„Nach Finanz-, Währungs- und Schuldenkrisen, schmerzlichen Haushalts- und Ausgabenkürzungen, Bailouts der armen durch die reichen Nationen und der Übergabe hoheitlicher Befugnisse zur Politikgestaltung an internationale Technokraten steigt die Euroskepsis sprunghaft an – und zwar in einem Ausmaß, das wahrscheinlich populistische Anti-EU-Politiken schüren und die Versuche der europäischen Führungskräfte, die zusammenbrechende Unterstützung für ihr Projekt aufzuhalten, zunichtemachen wird.“
(The Guardian, 24.4.2013; Übersetzung G. G.)
Die Ergebnisse für die sechs größten EU-Länder, die zusammen mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung der Europäischen Union auf sich vereinen, sind in der folgenden Abbildung wiedergegeben:
Am gravierendsten ist der Vertrauensverlust in die EU in Spanien. Seit das Land nach dem Platzen der Immobilienblase in den Jahren 2007/2008 in eine Bilanzrezession stürzte, hat sich der Anteil der spanischen Bürgerinnen und Bürger, die kein Vertrauen in die EU haben, von 23 Prozent auf nunmehr 72 Prozent erhöht. Und es ist keine Besserung der wirtschaftlichen Lage – und folglich der Stimmung – in Sicht: Dazu wäre vor allem eine Umkehr der Lohnstückkostenpfade und damit eine Beseitigung der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der EWU erforderlich. Als Sofortmaßnahme müsste die EU Spanien und den anderen Krisenländern erlauben, ihre staatlichen Budgetdefizite um mehrere Prozentpunkte des BIP zu erhöhen – und zwar jeweils auf ein Niveau, das den einzelnen Ländern zu einem angemessenen Wachstum und einem hohen Beschäftigungsstand verhelfen würde. In Spanien wären diese relativ hohen Staatsdefizite über mehrere Jahre aufrechtzuerhalten, nämlich solange, bis dort der Häusermarkt wieder in Ordnung gebracht wäre und die privaten Haushalte und Unternehmen (incl. der Banken) ihre Bilanzen saniert hätten (wobei der Staat umso stärker entlastet würde, je mehr sich die Leistungsbilanz des Landes verbesserte). Soll der hochverschuldete Privatsektor Spaniens in die Lage versetzt werden, mehr zu sparen, um seinen Schuldenabbau voranzubringen, so geht das nur bei Wirtschaftswachstum und dieses muss mit öffentlichen Defiziten gefördert werden.
Von all dem sind wir meilenweit entfernt. Stattdessen ist besonders in Deutschland der Glaube an den angeblich alternativlosen Austeritätskurs ungebrochen. Auch die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit in Spanien jetzt zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Sechs-Millionen-Grenze überschritten hat (6,2 Millionen Spanier im erwerbstätigen Alter sind im ersten Quartal 2013 ohne Beschäftigung; die Arbeitslosenquote liegt damit bei 27,2 Prozent) und dass auch Frankreich im vergangenen Monat eine Rekordarbeitslosigkeit verzeichnete (mit 3,225 Millionen Arbeitslosen wurde der bisherige Höchstwert von Januar 1997 übertroffen), erschüttert nicht die Zuversicht, auf dem richtigen Weg zu sein: „Entscheidend ist, den Konsolidierungskurs fortzusetzen,“ so Schäuble noch am Donnerstag letzter Woche im Deutschlandfunk.
Eine andere, ebenfalls in der vergangenen Woche veröffentlichte Studie des European Social Survey („Economic Crisis, Quality of Work and Social Integration“ [PDF – 1.7 MB]) zeigt ein ähnliches Bild wie die Analyse auf Basis von Eurobarometer. Sie weist nach, dass die stark gestiegene Arbeitslosigkeit und die damit verbundene größere Arbeitsplatzunsicherheit in vielen EU-Ländern das Vertrauen in das politische System untergraben haben. Dies beschränkt sich nicht auf die unmittelbar von Erwerbslosigkeit und Armut Betroffenen, sondern hat weite Teile der Gesellschaft erfasst, die sich um die Zukunft ihres jeweiligen Landes sorgen.
Die folgende Abbildung aus der Untersuchung verdeutlicht, dass im Zeitraum 2004 bis 2010 die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in einigen Ländern beträchtlich abgenommen hat – dies gilt für Spanien, Slowenien, Frankreich und insbesondere für Griechenland. Die negativen Auswirkungen des wirtschaftlichen Rückgangs auf die Zufriedenheit mit der Demokratie zeigen sich gerade bei den Ländern des Euroraums. Hier besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen der Schrumpfung des BIP (zwischen 2004 und 2010) und der Veränderung in der Demokratiezufriedenheit. Offenbar wird den Regierungen der Euroländer mit der Verschlechterung der ökonomischen Lage immer weniger zugetraut, auf nationaler Ebene politische Lösungen für die Krise zu finden.
Zu beachten ist, dass die Untersuchung nur die Effekte der Wirtschaftskrise bis zum Jahr 2010 aufzeigt. Man kann fast sicher davon ausgehen, dass das Vertrauen in die Politik und in die existierenden demokratischen Institutionen mit der Verschärfung der Eurokrise nach 2010 nochmals spürbar zurückgegangen ist.
Wenn die Politik gerade in Deutschland nicht bald umschwenkt, sieht es düster für die Zukunft Europas aus. Die Gefahr ist real, dass eine wachsende Welle des Populismus und Nationalismus entsteht, alte Ressentiments wiederbelebt und neue Feindschaften erzeugt werden, so dass am Ende gar Demokratie und Frieden gefährdet sein könnten.