“SPD – wohin? Regierungsprogramm und Wahlstrategie 2013”
Auf Einladung des NachDenkSeiten-Gesprächskreises in Bonn hielt ich am 23. April ein Referat zu dem mir gestellten o.g. Thema. An dem Gesprächskreis beteiligen sich viele Kollegen, die ich noch aus meiner früheren beruflichen Tätigkeit in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes kenne. Es sind überwiegend Sozialdemokraten, die seit der Agenda-Politik von Gerhard Schröder eine kritische Haltung zur SPD eingenommen haben. Zum Teil sind sie dennoch in dieser Partei aktiv. Vor allem sie wollte ich mit meinem Referat ansprechen. Ich wurde gebeten, mein Referat ins Netz zu stellen, was ich hiermit gerne tue. Von Wolfgang Lieb
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I. Zur Stimmungslage
Die Aussichten auf einen Wahlerfolg von Rot-Grün sind nach gegenwärtiger Sicht gering.
Die SPD dümpelt nach jüngsten Umfragen (allerdings alle noch vor dem a.o. Parteitag in Augsburg) zwischen 22% (Forsa) und 28 % (Allensbach) (Emnid: 26%; Forschungsgruppe Wahlen: 27%; GMS: 24%; Infratest dimap: 27%)
In BILD am 23.4. 2013 eine INSA-Umfrage mit 26 % für die SPD.
Die Umfragewerte für die Grünen pendeln zwischen 13 und 15%.
Nebenbei bemerkt: Mich wundert, dass so selten thematisiert wird, dass der Anstieg der Grünen gegenüber der Wahl 2009 etwas mit den zurückgehenden Umfragewerten der SPD und deren Kanzlerkandidaten zu tun haben könnte.
Selbst wenn man die Maximalwerte addiert kämen SPD und Grüne zusammen auf 43 %.
CDU/CSU allein schwanken um 41/42 %. (BILD v. 23.4.2013: 38 %)
Nun kann man wie die Süddeutsche Zeitung vom 15. April alle mögliche Koalitionsarithmetik anwenden:
Man kann annehmen, dass die FDP scheitert oder die sog. „sonstigen“ Parteien – also diesmal u.a. vielleicht auch noch die „Alternative für Deutschland“ (BILD v. 23.4.2013: 5 %) – auf vielleicht insgesamt 7 bis 9 % kommen könnten, dann könnten Rot-Grün wegen der 5%-Klausel vielleicht schon 45 % reichen, um eine Parlamentsmehrheit zu schaffen.
Die SPD müsste in diesem Fall aber dennoch einige Prozentpunkte gutmachen.
Man könnte auch darüber spekulieren, dass es ähnlich wie in Niedersachsen wieder „Leihstimmen“ aus dem CDU-Lager für die FDP geben könnte und das tatsächliche Wahlergebnis der Union gegenüber ihren derzeitigen Umfragewerten zurückgehen könnte.
Darauf setzt die SPD-Führung wohl ihre Hoffnung, wenn sie von den schlechten Umfragewerten ablenken und auf die erfolgreichen Regierungsbildungen in Baden-Württemberg, Hamburg, NRW oder Niedersachsen hinweist. Das setzte allerdings deutliche Verluste der CDU voraus. In Hamburg, B-W. oder auch NRW hatten die Verluste der Union klare Gründe – Ole von Beust, Stefan Mappus und Jürgen Rüttgers hatten abgewirtschaftet oder waren in Skandale verwickelt.
Aber nur in NRW und HH hat sich die SPD geringfügig aus ihrem Tief befreien können.
Niedersachsen könnte aber insofern ein Hoffnungsschimmer für die SPD sein, weil dort ein populärer Amtsinhaber gegen einen als blass und wenig bekannt geltenden Herausforderer verloren hat. Der Abstand bei den Popularitätswerten zwischen Merkel (63 %) Steinbrück (27%) ist allerdings größer als der zwischen David McAllister und Stephan Weil war. Merkels Vorsprung gegenüber Steinbrück ist allerdings größer als er 2009 gegenüber Steinmeier war.
Die Chance, dass die FDP scheitert halte ich für gering. Es wird immer genügend wohlhabende Wahlkampfsponsoren und eine mediale Dynamik geben, die der FDP im Endspurt noch die wenigen nötigen Stimmen verschaffen wird – schon aus taktischem Wahlverhalten um Schwarz-Gelb zu retten.
In der SPD-Parteiführung machen sich wohl viele die Hoffnung, man könne die Linkspartei durch Verschweigen und durch programmatische Anleihen aus dem Parlament drängen. Dieses Kalkül dürfte aber wohl nicht aufgehen, dazu bleibt die LINKE in allen Umfragen zu stabil bei über 6 %.
Was passiert eigentlich, wenn die LINKE – wie das nicht nur Lothar Bisky (z.B. im Februar in einem Zeit-Interview sondern auch andere Politiker der Linkspartei angedeutet haben – für Steinbrück als Kanzler stimmen sollte? Lehnt Steinbrück dann eine mögliche Wahl zum Kanzler ab?
Dass eine Aufholjagd möglich ist, zeigt die Wahl 2005, wo Schröder vor der Wahl auch nicht gut dastand. Aber selbst damals reichte es für die SPD nur noch zur Großen Koalition.
Das Grunddilemma dieses Wahlkampfes für die SPD ist, dass sie – jedenfalls derzeit – keine glaubwürdige und damit wählermobilisierende Machtoption anbieten kann. Indem Steinbrück, aber auch Parteichef Sigmar Gabriel, die Linke für nicht koalitionsfähig erklärt haben, verstellt sich die SPD nicht nur die einzig klare Perspektive auf eine Kanzlermehrheit, sondern die Partei verbannt damit auch die einzige Konstellation, mit der ein grundlegender Politikwechsel möglich wäre, ins Wolkenkuckucksheim.
Anders als Hannelore Kraft in NRW hat die SPD-Führung auf Bundesebene und zumal Steinbrück – aus Angst vor einer „Rote-Socken-Kampagne“ – von vorneherein jede wie auch immer geartete Kooperation mit der Linkspartei ausgeschlossen. (Manchmal werde ich den Verdacht nicht los, dass einige in der Führungsriege der Partei befürchten, in dieser Konstellation das beschlossene Parteiprogramm umsetzen zu müssen.)
Damit bleibt für die Wählerinnen und Wähler das Gefühl der Unsicherheit oder gar der Gleichgültigkeit, denn eine fehlende Machtoption hinterlässt die entmutigende Stimmung, die man so beschreiben könnte: Egal wie die Wahl ausgeht, die größte Wahrscheinlichkeit ist, dass Merkel mit welcher Koalition auch immer dran bleibt.
(Das wünscht sich laut Umfragen übrigens auch die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler.)
Weil nach durchgängiger Erfahrung die bestehende Regierung, zumal durch den „Kanzlerbonus“, wenn nicht noch etwas Gravierendes passiert – und darauf setzt Merkel erkennbar ihre Hoffnung – bei den unentschiedenen Wählerinnen und Wählern immer einen leichten (Stimmen-)Vorteil genießt und die SPD eben – wegen einer fehlenden realistischen Machtoption – nicht auf einen plausiblen Mitläufereffekt (Bandwagon- oder Go-With-the-Winner-Effekt) setzen kann, darf man sich von den Last-Minute-Wählern – und das werden immer mehr – nicht allzu viel versprechen.
So wie es derzeit aussieht könnte es sogar für Schwarz-Gelb noch einmal reichen. Das ergibt sich allerdings aus einer Forsa Umfrage. Und man weiß, dass Schröder-Freund und Forsa-Chef Güllner seit er kaum noch Aufträge von der Parteizentrale bekommt, die SPD nicht nur ständig wegen ihres angeblichen Linksschwenks kritisiert, sondern die Partei bei seinem Umfrageinstitut im Vergleich zu anderen auch immer besonders schlecht abschneidet.
Wahrscheinlicher ist eine Große Koalition. Aber wenn sich der Kretschmann-Flügel bei den Grünen durchsetzt, wäre auch ein Schwarz-Grünes Bündnis denkbar. Möglicherweise müsste dann die SPD sogar bei CDU/CSU um eine Große Koalition buhlen. Und das würde auch noch die Verhandlungsposition der SPD bei denkbaren Koalitionsverhandlungen schwächen. Die negativen Folgen für die Partei kann man sich ausmalen.
Wenn man an das Zündeln mit einem Zusammengehen mit der FDP in Steinbrücks Zeit als NRW-Ministerpräsident zurückdenkt, wäre – wenn es für Schwarz-Gelb nicht reichen sollte – sogar eine Ampel nicht ausgeschlossen.
II. „Soziale Gerechtigkeit“ wäre ein Gewinnerthema
Es gibt – zumindest wenn man auf die veröffentlichte Meinung schaut – kein Wechselklima.
Obwohl nach Meinungsumfragen in der Bevölkerung geradezu eine Bewusstseinsspaltung herrscht:
Der Kabarettist Volker Pispers hat das auf den Punkt gebracht: Die Leute finden die Politik Scheiße, aber Merkel finden sie gut.
Oder abstrakter ausgedrückt:
Laut dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend meinen 75 Prozent der Deutschen (plus 5 gegenüber Januar), dass der “schlimmste Teil der Euro- und Schuldenkrise” noch bevorsteht. Aber gleichzeitig urteilen 65 Prozent (plus sechs Prozent gegenüber März), dass Merkel “in der Eurokrise richtig und entschlossen gehandelt” habe.
Sozialdemokratische Themen – vor allem das Thema „soziale Gerechtigkeit“ – stoßen bei der Bevölkerung durchaus auf große Aufnahmebereitschaft.
Spät am Wahlabend der Niedersachsenwahl hat Jörg Schönenborn in der ARD eine interessante, empirisch gestützte Interpretation für die Niederlage von Schwarz-Gelb in Niedersachsen geboten. Das Thema „soziale Gerechtigkeit“ habe offenbar eine viel größere Wichtigkeit für die Menschen, als das üblicherweise öffentlich thematisiert werde.
Da mag sich die Bundeskanzlerin noch so sehr rühmen, die „beste Regierung seit der Wiedervereinigung“ zu stellen, da mögen die Statistiken noch so schön gefärbt werden, 60% der befragten Bevölkerung sagen, dass sie von dem ständig behaupteten großartigen Wirtschaftswachstum nicht profitierten. Mehrheitlich fühlen die Menschen, dass es in diesem Land ungerecht zugeht und dass die Ungerechtigkeit zugenommen habe. 42% legen mehr Wert auf sozialen Ausgleich als auf wirtschaftliches Wachstum (32 %) (von dem sie nicht profitieren). Die Gerechtigkeitsfrage könnte also bei den Bundestagswahlen durchaus wahlentscheidend sein, wenn glaubwürdige Antworten kämen.
Die „Zeit für eine neue Sozialdemokratie“ wäre also durchaus gekommen (so Wolfgang Münchau, im Spiegel), nicht nur weil die Politik der Konservativen in Europa verheerende Folgen anrichtet, sondern weil – trotz aller Lobhudeleien und Schönfärbereien – auch in Deutschland die Leute merken, dass es immer ungerechter zugeht und dass sie von den angeblichen wirtschaftlichen Erfolgen nichts abbekommen.
(Nach einer jüngsten Umfrage des konservativ ausgerichteten Allensbach Instituts empfinden 70 Prozent der Deutschen eine Gerechtigkeitslücke bei uns im Lande und fast genauso viele Menschen meinen, dass Einkommen und Vermögen nicht gerecht verteilt sind und dass die Ungerechtigkeit im Lande in den letzten Jahren zugenommen hat.)
Es gäbe eine Stimmungslage für eine sozialdemokratische Politik, die von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen würde, wenn man in der SPD – ähnlich wie Obama – bereit wäre auf die Hoffnungen der Menschen zu setzen und sich nicht an den herrschenden Mainstream anpassen würde, wie das Schröder damals getan hat.
III. Verkörpert Steinbrück das Thema „Soziale Gerechtigkeit“?
Laut Umfragen wird der SPD zwar eine deutlich abgeschmolzene, aber immerhin noch leicht höhere „soziale Kompetenz“ zuerkannt als der CDU. Aber anders sieht es beim Vergleich Merkel /Steinbrück aus. Da hat Merkel laut dem letzten Politbarometer mit 26 % zwar nur einen geringen Kompetenzwert, aber sie liegt damit immer noch knapp vor Steinbrück.
Nun ist es unverkennbar, dass die Medien Merkel nicht nur unkritisch behandeln, sondern sie teilweise geradezu hochjubeln. Und zwar nicht nur die Springer Blätter Bild und Welt oder auch die im Politikteil konservative FAZ, sondern auch angeblich links-liberale Blätter wie die Süddeutsche Zeitung: „Frau Alpha-Eins“ überschrieb SZ-Autorin Evelyn Roll ihre Seite-3-Geschichte in der Oster-Ausgabe. Den Leuten wird vorgegaukelt Merkel habe die CDU sozialdemokratisiert. Merkel wird als glaubwürdig, bescheiden, kompetent und als Politikerin ohne Allüren und ohne die übliche Männer-Attitüde inszeniert.
Stephan Hebel (Frankfurter Rundschau) schreibt in seinem neuen Buch „Mutter Blamage“: „In mehr als zwei Jahrzehnten Politikbeobachtung habe ich niemals einen derart eklatanten Widerspruch erlebt zwischen dem Image einer politischen Persönlichkeit und ihrer tatsächlichen Politik. Nie ist es einem Politiker in Deutschland gelungen, derart konsequent auf Kosten der Mehrheit zu handeln und zugleich die Sympathie dieser Mehrheit zu gewinnen“.
Steinbrück ist zwar medienverliebt, aber wie so häufig, wenn man sich allzu sehr auf die Medien verlässt, dann ist man halt auch bald wieder verlassen. Die Medien treiben mit ihm eben ihr Geschäft, nämlich das häufig zu beobachtende Selbstbeschäftigungsprogramm: Erst hochschreiben und dann niedermachen – Hauptsache man schafft Schlagzeilen. Natürlich hat Steinbrück zu der Hetzjagd auf ihn Anlässe geboten und wenn die Meute erst einmal Blut geleckt hat, dann wird auch noch der letzte Blutstropfen ausgesaugt und jeder noch so kleine Patzer wird zum Skandal erhoben. Medial passierte Steinbrück das Gleiche, was die Medien mit Wulff machten.
Für mich ist übrigens nicht nur der Zeitpunkt der Ausrufung, sondern auch die Ermittlung des Spitzenkandidaten, ein typisches Beispiel, wie stark die SPD nicht nur bei ihren personalpolitischen Entscheidungen von außen, von den Medien bestimmt ist.
Steinbrück ist das Produkt eines Medienhypes. Jede/r von Euch erinnert sich an Spiegel-Titelbilder, an Aufmacher in der Zeit, an den „Ritterschlag“ durch Helmut Schmidt etc. Nach 2009 hatte er sich doch schon auf die Hinterbänke zurückgezogen und sich, statt sich um sein Mandat zu kümmern, mit lukrativeren Tätigkeiten beschäftigt. Wenn er früher geahnt oder gar geplant hätte, dass er jemals Kanzlerkandidat werden würde, wäre er bei den Einladungen wie auch bei den Honoraren sicher etwas sensibler vorgegangen.
Wer gewinnen will, der muss zuerst die Menschen gewinnen wollen und ihnen das Gefühl geben, dass es auf sie ankommt und eben nicht so sehr auf den Kandidaten. Aber das Wir-Gefühl anzusprechen ist Steinbrück schon als Ministerpräsident in NRW nicht gelungen.
Es passt einfach nicht zusammen, wenn jemand nur ständig ich, ich, ich sagt und dann an das „Wir“ appelliert.
Schon von seinem Alter her ist Steinbrück ein inzwischen aus der Zeit gefallener Politiker, der in die alte Garde Schröder, Clement oder Müntefering eingereiht wird. Einen neuen Aufbruch signalisierte seine Nominierung sicher nicht.
„Mit Peer wird`s schwer“ reimte „der Freitag“. Wenn überhaupt das Thema „soziale Gerechtigkeit“ transportiert werden soll, dann müssten also eher die Partei und ihr Programm als der Kandidat im Vordergrund des Wahlkampfes stehen.
Dafür spräche auch, dass laut Politbarometer für 58 % der Gesamtheit der Befragten und gar für 74% der SPD-Anhänger die künftige Koalition wichtiger ist, als der Kanzlerkandidat, den nur 31 % und sogar nur 21% der SPD-Sympathisanten für wichtiger halten.
Steinbrück wurde von den Medien, aber auch von der SPD als Politiker mit angeblichem finanz- und wirtschaftspolitischem Sachverstand aufgebaut, aber kaum jemand hat ihm jemals innerhalb noch außerhalb der Partei eine besondere sozialpolitische Kompetenz zuerkannt. Er verkörpert schon mit seiner Körpersprache und mit seiner schnoddrig-arroganten Tonlage – und zwar nicht erst seit seinen Tritten ins Fettnäpfchen mit den hohen Honoraren, den Preisen für Pinot Grigio oder dem zu niedrigen Kanzlergehalt – nicht jemand, der die Brücke zu einem Wählerpotential schlagen könnte, das die SPD brauchte, um – wie es Gabriel sagte – die verlorengegangenen Nichtwähler wieder zum Gang an die Urne zu bringen.
Wie wichtig gerade das Erreichen der Nichtwähler wäre, hat eine aktuelle Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln nachgewiesen. Die Studie zeigt eindeutig auf, wie die sinkende Wahlbeteiligung vor allem der SPD geschadet hat und dass gerade die benachteiligten Schichten und Menschen mit niedrigen Einkommen der Wahlurne fern geblieben sind – eindeutig zu Lasten der SPD.
Stattdessen schielt der Kanzlerkandidat auf eine imaginäre Mitte, statt, wie einstmals Willy Brandt zu versuchen, das politische Spektrum zur linken Mitte hin zu verschieben.
Die zwei Parteitagsreden – die zu seiner Nominierung als Spitzenkandidat und jetzt zur Verabschiedung des „Regierungsprogramms“ – sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Steinbrück mit der Partei eher fremdelt und diese ihn umgekehrt bestenfalls diszipliniert unterstützt. Steinbrück ist biografisch ein Karrierebeamter und ein Mann des Regierungsapparats. Er wollte regieren, die Partei war für ihn dazu bestenfalls ein notwendiges Vehikel dazu. Von einem Wir-Gefühl spürten die Parteimitglieder bei ihm bisher nur wenig.
Seine Reden und die Interviews – und das ist hinsichtlich der Wahlchancen schlimmer – bezeugen aber auch, dass bei ihm eine wirkliche Empathie für die der Partei verloren gegangenen Wählerinnen und Wähler nicht zu spüren ist.
Um das an einem für mich unsäglichen Zitat deutlich zu machen:
„Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“, hat er 2003 in einem Interview in der „Zeit“ gesagt. In einem aktuellen Interview, vom 31. Januar dieses Jahres hat ihm die „Zeit“ dieses Zitat vorgehalten, erkennbar mit der Absicht, dass er diese Aussage vielleicht korrigieren könnte. Und Steinbrück antwortet darauf: „Nein. Ich bin unverändert der Meinung, dass die SPD dringend jene ansprechen muss, die die Lastesel des Sozialstaates sind. Diese Menschen dürfen wir nicht überfrachten, weil sie sonst den Solidarvertrag aufkündigen.“
Dass er damit die Angehörigen der Mittelschicht auf Kosten der Solidarität gegenüber den Angehörigen der Unterschicht ausspielt, das merkt Steinbrück gar nicht. Er tut gerade so als sei der Sozialstaat nicht konstitutiv.
Man kann sich darauf verlassen – Seehofer hat damit schon angefangen – dass in der heißen Wahlkampfphase Steinbrück ständig Zitate vorgehalten werden, die das Gegenteil von dem besagen, was er heute – zumindest auf Parteitagen – sagt. Den Verdacht, dass er heute genauso denkt wie früher, wird er nicht los. Bestenfalls wird ihm Opportunismus vorgehalten, nämlich dass er sich nun eben der Partei angepasst habe und nicht sein wahres Gesicht zeige.
Kurzum: Steinbrück verkörpert das Thema „soziale Gerechtigkeit“ nicht glaubwürdig; oder aber seine Glaubwürdigkeit kann nicht ohne Grund bestritten werden.
Was im Hinblick auf das Wahlergebnis aber vielleicht sogar noch problematischer ist: Steinbrück kommt bei Frauen und vor allem bei den jüngeren nicht an.
Selbst in Zeiten seines Umfragehochs lag er bei dieser Wählergruppe am deutlichsten hinter Merkl. Warum hat man ihn eigentlich letzte Woche nicht bei der Debatte um die Frauenquote im Parlament reden lassen?
Über die Zusammensetzung seines Wahlkampfteams und über dessen (Fehl-)Leistungen will ich mir Details ersparen.
IV. Die Fehler wurden in der Opposition gemacht
Das Umfragetief der SPD liegt aber sicherlich nicht nur an ihrem Spitzenkandidaten.
Die katastrophale Wahlniederlage im Jahr 2009 wurde nie kritisch aufgearbeitet. Es gab keine gründliche Analyse für den Verlust der Stimmen. Kaum war das schockierende 23 %-Ergebnis bekannt, ernannte sich der Wahlverlierer Steinmeier in einem Überraschungscoup zum neuen Fraktionsvorsitzenden, ohne dass sich vorher ein einziges Parteigremium mit der weiteren Zukunft der SPD befassen konnte. Der Fraktionsvorsitz sollte sogar – so war das mit dem damaligen Parteivorsitzenden Müntefering wohl gedacht – das Sprungbrett zum Parteivorsitz sein.
Schon ein paar Tage nach seiner Niederlage war für Steinmeier klar:
„Wir haben in alle Richtungen verloren, aber eindeutig mehr zur Union und FDP als nach links. Darum finde ich es nicht plausibel, dass eine Öffnung nach Links mit Hurra die SPD jetzt aus der Krise führen würde.“
Zwar sind – bei aller Vorsicht gegenüber der Erfassung der sog. Wählerwanderungen – vielleicht 1,4 Millionen Wähler von der SPD zur CDU und FDP abgewandert, was Steinmeier aber verdrängte, das ist, dass die SPD über 2 Millionen an die Nichtwähler und darüber hinaus noch über 1 Million an die Linkspartei verloren hatte.
Mit Steinmeier an der Spitze der Fraktion, dem – wie er es nannte – „Kraftzentrum“ der Partei, war dem im November 2009 neu gewählten Parteivorsitzenden Gabriel, die von ihm angestrebte kritische Debatte über die vergangenen elf Regierungsjahre der SPD und eine „Neuorientierung“ der Partei verbaut.
Steinmeier verstand und betätigte sich als Gralshüter seines vorausgegangenen politischen Tuns als Consigliere Gerhard Schröders – bis heute.
Der Leitantrag für den Dresdener Parteitag vom November 2009 ist dementsprechend weitgehend ein Nachgesang auf die „erfolgreiche Regierungsverantwortung“ (so wörtlich) als eine „offene und ehrliche“ Bilanz.
Da mochte Gabriel und die Partei im zurückliegenden Jahr das eine oder andere Papier mit neuen Impulsen vorlegen, etwa beim Mindestlohn, bei der Rente mit 67, bei bezahlbaren Mieten oder bei Steuererhöhungen für Spitzenverdiener, die Tagespolitik und damit die Medienpräsenz bestimmte die Fraktion und an ihrer Spitze Steinmeier.
Wie will man eine Wechselstimmung erzeugen oder gar einen „Lagerwahlkampf“ führen, wenn man vier Jahre vorher in der Opposition vor allem bei einem Thema, das die Medien am meisten beschäftigt und die Leute am stärksten beunruhigt, ständig nur eine – wie die Zeit treffend formulierte – eine „Ja-Aber“- Position einnahm. Man nörgelte und meckerte über die Regierung, stimmte aber stets mit ihr und rettete Merkel sogar noch die Kanzlermehrheit.
Wie sollen die Wählerinnen und Wähler Merkel das Vertrauen entziehen, wenn die SPD-Fraktion die Kanzlerin vor der Vertrauensfrage rettete?
Kein Wunder also, dass 46 Prozent, wenn es um die Lösung der Euro-Krise geht der Amtsinhaberin mehr zutrauen als dem SPD-Kanzlerkandidaten, dem das nur 10 Prozent attestieren. Wo hat eigentlich Steinbrück in der Zypern-Debatte seinen finanzpolitischen Sachverstand aufblitzen lassen?
Ich will das wichtige Thema der Euro-Krise jedoch keineswegs von der Ebene der staats- und europapolitischen Verantwortung auf das populistische Niveau einer Wahlstrategie absenken.
Tatsache ist aber, dass die SPD kein wirklich alternatives Konzept zum deutschen Austeritätskurs für Europa anzubieten hat.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich letzte Woche mal wieder für die SPD geschämt habe, als Steinmeier bei der Zyperndebatte im Bundestag diesen chauvinistischen Zungenschlag in die Debatte brachte:
„Sich ein paar Jahre ein leichtes Leben machen und dann die Solidarität von Steuerzahlern aus der Nachbarschaft einfordern – das geht eben nicht, das kann nicht funktionieren.“
Ich kann ja gerade noch nachvollziehen, dass man nun wo man den Karren mit in den Dreck gefahren hat, wo eben auch die SPD nach der Finanzkrise geduldet hat, dass das Platzen des Finanzkasinos in eine „Staatsschuldenkrise“ umgedeutet werden konnte, und wo die Sozialdemokraten selbst mit ihrer Agenda-Politik dazu beigetragen hat, dass die Deutschen unter ihren Verhältnissen leben mussten, dass man so wie die Stimmungslage nun einmal ist, Angst davor hat, gegen das selbst miterzeugte und deshalb auch weit verbreitete Vorurteil in der Bevölkerung anzukämpfen, nämlich dass die deutschen Steuerzahler für das angebliche „Lotterleben“ der anderen gerade stehen müssten.
Aber diese Bemerkung von Steinmeier war für mich mal wieder ein Schlag in die Magengrube, weil sie zeigt, dass jedenfalls der SPD-Fraktionsvorsitzende das Merkelsche Denken, wonach an Deutschland Europa genesen müsse, nicht nur teilt, sondern dass er die weit verbreitete Bewusstseinsspaltung der Deutschen zwischen Größenwahn und Verfolgungswahn sogar noch schürt.
Ich will die vielen, für mich jedenfalls positiven Elemente des „Regierungsprogramms“ gewiss nicht klein schreiben – etwa zur Re-Regulierung der Finanzmärkte, zum Mindestlohn, zur Bekämpfung von prekärer Arbeit oder zur gebührenfreien Bildung von der Kita bis zur Hochschule…
Aber in den vergangenen vier Jahren blieb die Regierung bis auf wenige Einzelfragen ohne wirkliche Alternative.
Europas Drama besteht nicht etwa darin, dass Konservative und Neoliberale eine konservative und neoliberale Politik betreiben. Zur Tragödie wird es, dass das weitgehend oppositionslos passiert (Robert Misik)
Warum sollten die Menschen die Pferde wechseln, wenn die neuen Pferde den Karren in die gleiche Richtung ziehen?
V. „Besser“ ist nicht „anders“
Kann das am 24. April in Augsburg verabschiedete „Regierungsprogramm“ einen Stimmungsumschwung bewirken?
In dem Programm finden sich viele Positionen, die einen Wahlkampf mit dem Thema „soziale Gerechtigkeit“ tragen könnten. Bürstet man das Programm jedoch gegen den Kamm, dann kommen viele kahle Stellen zum Vorschein und es zeigt sich, dass – zwar mit einigen sozialen Wendemanövern und verbalen Leuchtraketen – die SPD aber weiter unerschütterlich dem Schröderschen Agenda-Kurs folgt.
Man meint die Agenda 2010 nach wie vor als Erfolg feiern zu müssen, obwohl das – wie selbst die FAS am letzten Sonntag berichtet, nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung glaubt.
Auch über die Agenda als zentrales Politikprogramm seit 10 Jahren wurde in der SPD nie eine ehrliche Debatte geführt. Die Agenda wurde geradezu zum Tabu erklärt und damit war die SPD nicht mehr der politische Ort, an dem die notwendigen gesellschaftlichen Debatten ausgetragen werden konnten. Die Partei ist dadurch intellektuell geradezu erstarrt und intellektuelle Köpfe haben sich abgewandt. Die Jüngeren Mandatsträger gelten nur noch als ein Haufen von angepassten Parteikarrieristen. Wo sind die Köpfe, die eine Debatte über die grundlegenden Fragen der Zukunft anstoßen könnten?
Wenn überhaupt wurden Fehler der Agenda nur ganz verhohlen eingeräumt und Korrekturen eher verstohlen vorgenommen. Deshalb bleiben Nachbesserungen aber entweder nicht erkennbar oder aber sie gelten – gerade weil sie nur verstohlen gemacht werden – als unglaubwürdig.
Man hat den Agenda-Kurs bestenfalls ein wenig nachjustiert, aber damit bietet man keine wirkliche Alternative zur Politik der Großen Koalition und deren Fortsetzung durch Schwarz-Gelb an. Ein Regierungsprogramm, das in Anspruch nimmt, eine „Alternative zu Merkels ‘Alternativlosigkeit’“ aufzeigen soll – wie es im Programm heißt (S. 102) – müsste jedenfalls anders aussehen.
Der fehlende Mut, der Regierung Merkel tatsächlich ein alternatives Konzept entgegen zu stellen, ist dem Regierungsprogramm sozusagen schon auf die Stirn geschrieben: „Deutschland besser und gerechter regieren“, lautet die Überschrift zum Regierungsprogramm.
„Besser“ ist die Steigerung von gut. Man bescheinigt also der derzeitigen Regierung – offenbar ohne es zu merken -, dass sie gut regiert hat. „Besser“ bedeutet auch, dass man Deutschland nicht „anders“ regieren, sondern sich allenfalls durch besseres handwerkliches Regierungshandeln von der derzeitigen Regierung abheben will.
Das ist schon deshalb unsinnig, weil Merkel gerade beim Regierungshandeln die höchsten Zustimmungswerte erzielt (68 %, beim Kanzlerkandidaten der SPD sind es gerade 32%).
Viele von Ihnen werden sich noch daran erinnern, dass „besser“ oder „anders“ regieren schon einmal in einem Wahlkampf eine Rolle gespielt haben. Nämlich 1998. Damals war die Parole Lafontaines „Wir wollen nicht nur eine andere Regierung, sondern auch eine andere Politik“. Schröders Formel war: „Wir wollen nicht alles anders machen, aber vieles besser“. Das Ergebnis ist bekannt.
Zwar findet man nahezu täglich ein Interview von Peer Steinbrück oder eines anderen Mitglieds der Führungsmannschaft der SPD in den Medien, doch über das „Regierungsprogramm“ wird dabei recht selten geredet. Der SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück hätte manches „Fettnäpfchen“ vermeiden können, wenn er lieber aus dem Programmentwurf zitiert hätte, statt schneller zu reden als nachzudenken. Man hat manchmal den Eindruck als hätte die Führungsmannschaft das viel zu lange Programm überhaupt nicht gelesen, jedenfalls scheint es da Berührungsängste zu geben.
Stattdessen wurden auf den Jubiläumsfeiern zum zehnten Jahrestag der Verkündung der Agenda 2010 umso mehr der damalige Bundeskanzler Schröder und die angeblichen Erfolge seiner „Reformen“ gefeiert. Wie sollten damit die neuen Akzente, die der Entwurf tatsächlich enthält, ins öffentliche Bewusstsein dringen?
Man findet im Text des Regierungsprogramms viel soziales und „linkes“ Pathos: So verspricht man eine „neues Miteinander“, ein „neues soziales Gleichgewicht“ und, dass man das „Gemeinwohl“ zur Leitlinie des politischen Handelns machen wolle. Doch hinter den leidenschaftlichen Obertönen, klingt als Grundton die Verteidigung der Agenda-Politik und des vorausgegangenen Tuns der derzeitigen Führungsmannschaft der SPD unüberhörbar durch.
Um nur ein Zitat zu nehmen:
„Die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes sind von der SPD- Bundesregierung mit Gerhard Schröder gelegt worden.“
Ich frage mich, ob die Verfasser des Entwurfs wussten, was sie da taten.
Sie bestätigen in diesem Satz – wohl ohne es zu merken – Merkels dreiste Behauptung, dass „diese Bundesregierung die erfolgreichste seit der Wiedervereinigung“. Und im gleichen Atemzug werden die Agenda-Reformen gelobt. Ich will hier nicht auf die Agenda in der Sache eingehen, aber die Autoren des Regierungsprogramms müssten doch eigentlich wissen, dass die Mehrheit der Bundesbürger (56 %) der Meinung sind, dass gerade die Agenda 2010 der entscheidende Grund dafür ist, dass viele nicht mehr SPD wählen. Und gleichfalls eine Mehrheit (55%) meint, dass durch die Agenda die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden seien.
Kurz: Eine Partei, die sich lange für die Ich-AG stark gemacht hat und heute das »Wir« zum Leitmotiv erheben will, müsste, um glaubwürdig zu sein, ein wenig mehr Selbstkritisches über ihren Beitrag zur Zerstörung des Rheinischen Kapitalismus sagen.
Darüber müsste man ein gesondertes Referat halten.
Ich will das Regierungsprogramm nicht weiter auf die Widersprüchlichkeiten zwischen den darin enthaltenen Lockerungen und dem Festhalten an der Agenda-Politik hin analysieren. (Siehe dazu hier)
Weil das Regierungsprogramm diesen Widerspruch nicht auflöst, braucht man sich im Übrigen nicht zu wundern, dass die konservativen Medien in dieser Wunde herumbohren, ohne dass sich die SPD dagegen wehren könnte. Weil sie einerseits am Agenda-Kurs als Erfolgsmodell stur festhält, kann sie die Korrekturen etwa in der Renten-, Steuer- oder Finanzmarktpolitik nur verschämt und eben nicht offensiv vertreten.
Dazu nur ein Beispiel:
Da bringt die saarländische CDU-Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer einen Spitzensteuersatz von 53 % ins Gespräch und die SPD-Generalsekretärin Nahles – statt die geplante Steuerpolitik der Sozialdemokraten offensiv nach vorne zu tragen – hat nichts Klügeres zu tun, als diesen Vorschlag mit der Bemerkung zurückzuweisen, man solle doch „das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Zurück zu den Steuersätzen der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) wolle die SPD nicht.
Wenn sich die SPD an einer Stelle etwas von Merkel abschauen könnte, dann das, wie schnell sich die Kanzlerin nach dem unerwartet schlechten Abschneiden ihrer Partei bei der Wahl 2005 sang- und klanglos vom marktradikalen Tenor des „Leipziger Programms“ verabschiedet hat. (Ich füge allerdings hinzu, in der politischen Praxis allerdings nicht.)
Stattdessen hat die SPD aus der katastrophalen Niederlage nur wenig dazu gelernt und hält geradezu in einer Art Nibelungentreue an der ihr von Gerhard Schröder – sprichwörtlich – aufgezwungenen Basta-Politik fest.
Wenn man wenigstens sagen könnte, die SPD verstehe es – wie die CDU – ganz unterschiedliche Strömungen zu repräsentieren. So versucht sich doch von der Leyen für das soziale Image zu präsentieren und der Wirtschaftsrat der Partei steht für den kalten Neoliberalismus – und Merkel thront präsidial darüber.
Der große Erfolg der SPD 1972 war auch ein Stück weit der politisch so unterschiedlichen Troika Brandt, Wehner und Schmidt zu verdanken und beim Wahlsieg 1998 waren Lafontaine und Schröder die Projektionsfiguren der unterschiedlichen Erwartungen der Wählerinnen und Wähler aus verschiedenen gesellschaftlichen Milieus und Gruppen.
Die SPD repräsentierte sich auf ihrem Höhepunkt als Volkspartei, die traditionellen und sich modernisierenden, partizipatorisch eingestellten Arbeitnehmer wie auch einem Teil der Bildungs- und Dienstleistungselite bis hin zum wertkonservativ eingestellten Bürgertum etwas zu bieten hatte.
Die heutige Troika Steinbrück, Steinmeier und Gabriel steht eindimensional für die vorausgegangene Agenda-Politik, die zu dramatischen Mitglieder- und Wählerverlusten führte. Darin spiegelt sich der Verlust an vielfältiger Integrations- und Repräsentationsfähigkeit. Mit der absoluten öffentlichen Dominanz der „Netzwerker“, der „Seeheimer“ und des „Niedersachsen-Blocks“ hat sich die SPD von der Perspektive einer breit aufgestellten Volkspartei weitgehend verabschiedet.
VI. Unser Land brauchte eine Alternative
Es ist doch richtig, wenn im Programm steht, dass die „soziale und kulturelle Spaltung Deutschlands“ größer geworden ist. Es stimmt doch, wenn da geschrieben steht „Über viele Jahre hat in unserem Land ein Lohnsenkungswettlauf stattgefunden.“ Und es trifft doch zu, dass nie in Deutschland wenige Menschen wohlhabender waren und diese Wenigen dennoch noch nie geringere Beiträge zum Gemeinwohl beigetragen haben.
Gabriel hat doch Recht, wenn er auf dem Parteitag sagte, dass dem „Zeitalter des egoistischen Neoliberalismus“ ein Ende gesetzt werden muss.
Die Bürgerinnen und Bürger brauchten tatsächlich aus sachlichen Gründen und die SPD braucht aus Wahlkampfgründen dringend eine wirkliche Alternative zur herrschenden Politik.
Unser Land brauchte eine andere Wertorientierung. Das verbindet im Übrigen sozial und fortschrittlich denkende Menschen mit vielen Wertkonservativen.
Eine erfolgreiche Wahlstrategie müsste doch daran ansetzen, dass den allermeisten Menschen die derzeitige Krise Angst oder zumindest große Sorgen macht. Sie müsste das widersprüchliche Bewusstsein in der Bevölkerung nutzen, dass einerseits die meisten Menschen glauben, Merkel habe in der Euro-Krise richtig und in deutschem Interesse gehandelt, aber andererseits drei Viertel befürchten, dass der schlimmste Teil der Krise noch bevorstehe.
Eine SPD, die den Kanzler stellen will, müsste alternative konzeptionelle Lösungswege aus der Krise und gegen den verheerenden und Europa auseinandertreibenden Austeritätskurs von Merkel und Schäuble aufzeigen. Die Alternativen werden doch außerhalb Deutschlands bis hin zum IWF oder zur OECD oder gerade jetzt wieder auf dem G 20-Gipfel angeboten. Deutschland isoliert sich doch wirtschafts- und finanzpolitisch immer mehr und die SPD gleich mit. Warum greift man nicht einmal diese zunehmende Kritik auf?
Die SPD müsste wenigstens in den Grundfragen der Sozial-, Wirtschafts- oder auch der Sicherheitspolitik Gegenpositionen mutig und offensiv herausstellen, um nicht nur als ein Flügel in einem Parteiensystem wahrgenommen zu werden, in dem sich die Parteien nur noch bei einzelnen Themen graduell unterscheiden.
Kein Wunder, dass selbst die FAZ von einem „unechten Lagerwahlkampf“ spricht.
Man nehme die Schuldenbremse oder den Fiskalpakt, man nehme den Afghanistan-Militäreinsatz, selbst auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit oder in kaum einem wichtigen Politikfeld sind die Unterschiede für die Wählerinnen und Wähler noch erkennbar. Glaubt man wirklich, dass die Bürgerinnen und Bürger den Unterschied zwischen der sozialdemokratischen „Solidarrente“ und von der Leyens „Lebensleistungsente“, oder zwischen dem Mindestlohn und der „Lohnuntergrenze“ herunterbuchstabieren könnten?
Zu einem „großen Wurf“ fehlt offensichtlich der Mut. Steinmeier und Steinbrück haben wohl die (berechtigte) Sorge, dass sie durch ihr früheres Abstimmungsverhalten von Schwarz-Gelb ausgekontert würden. Einen Wahlkampf, in dem man das grundlegende Versagen der Regierung anprangert und in dem man das permanente Betrugsmanöver der „Mutter Blamage“ entlarvt, bekommt die SPD so nicht hin. Ihr Klammern an ihrem vorausgegangenen praktischen politischen Handeln nimmt ihnen die Schlagkraft.
Hoffnung und Vertrauen auf eine bessere Zukunft, die ja für eine Wahlentscheidung ausschlaggebend sind, können so nicht wachsen. Für die Wählerinnen und Wähler ist das jetzt beschlossene „Regierungsprogramm“ eben nur Papier das bekanntlich geduldig ist.
Aber vielleicht bringt ja die Hoeneß-Steueraffäre noch eine Wende …