Olli Rehn in Unterhosen – eine treffende und zum Lachen animierende Ergänzung zu den “Klapperstörchen”.
Natürlich hat Albrecht Müller Recht, wenn er sagt, eine ernsthafte Debatte über Reinhart/Rogoff (RR, „Dieses Mal ist alles anders“) erübrige sich, da sowohl der Gedanke einer Kausalität zwischen Höhe der Staatsverschuldung und Wirtschaftswachstum (jedenfalls in dieser Reihenfolge) als auch der Versuch, einen (allgemeingültigen) Schwellenwert der Staatsverschuldung festzulegen, ab dem die Wirtschaftsentwicklung umkippe, absurd sei.
Das Witzige ist nur, dass RR derartiges in Ihrem Buch nie behauptet haben. Von Erik Jochem
Die (wundersam einprägsamen) 90 Prozent sind – so viel sollte nach der aktuellen Debatte selbst der Süddeutschen klar sein – gerade keine “ goldene Schuldenregel“, sondern allenfalls ein Durchschnittswert und damit ohne Aussagewert für den Einzelfall. Wenn also schon vorher lustiges Rätselraten erforderlich gewesen wäre, um zu ermitteln, welcher Schwellenwert im Einzelfall gelten soll, ist die Feststellung der Höhe des angeblichen Schwellenwerts nach der aktuellen Kritik endgültig wieder in den Bereich des Voodoo zurückgekehrt. Und – darauf legen RR in ihrer ersten Erwiderung an ihre Kritiker besonderen Wert – von Kausalität zwischen Staatsverschuldung und Wirtschaftsentwicklung sei in Ihrem Buch ohnehin nicht die Rede – sie hätten lediglich eine neutrale statistische Korrelation zwischen dem Grad der Staatsverschuldung und dem Grad der Wirtschaftsentwicklung festgestellt (was dann eben auch, falls Kausalität überhaupt besteht, eine Kausalität von schwacher Wirtschaftsentwicklung hin zu Staatsverschuldung zulässt).
Damit ist die Geschichte von RR endgültig die moderne Version des Märchens von des Kaisers neuen Kleidern. RR sind die Schneider, der Mann in der Unterhose ist Olli Rehn. Und mit ihm alle deutschen Journalisten, die so wie er RR noch nie gelesen haben, aber fest an den Mythos glauben.
Natürlich ist RRs Buch nach der üblichen Masche gestrickt: Eine schier endlose Datenwüste, die die Totalität der Forschung beglaubigt und den unbefangenen Leser vor Ergebenheit auf den Rücken fallen lässt – glaub oder stirb, überprüfen kannst du hier eh‘ nichts. Herauskommt eine wunderbar gerade und einprägsame (Durchschnitts)Zahl, deren Auftauchen geradezu wie eine göttliche Offenbarung wirkt. Was dazu führt, dass trotz der mit der schieren Masse der Länder und Zeitreihen abnehmenden Gewichtung des einzelnen Landes die Zahl 90 unversehens zu einem für jedes einzelne Land gültigen Schwellenwert mutiert.
RR weigern sich bis zum Vorfeld der aktuellen Studie, ihre Datensätze an Kollegen zur Überprüfung ihrer Studie herauszugeben. So hat der Mythos Zeit zu wachsen. Dem öffentlichen Eindruck, ihre Forschung belege eine weltweite Kausalität zwischen Staatsverschuldung und nachlassender Wirtschaftsleistung treten RR ebenso wenig entgegen wie dem Glauben, die Zahl 90 markiere eine magische Grenze hin zum wirtschaftlichen Verfall. Im Gegenteil erklärt Rogoff am 11. April 2011 einer Runde von 40 republikanischen Abgeordneten, bezüglich der Staatsverschuldung müsse sofort gehandelt werden, da „das Risiko“ immer näher komme. Er legt damit die Grundlage für die Eskalation im Haushaltsstreit zwischen Obama und den Republikanern.
Tritt man RR zu nahe, wenn man ihnen attestiert, dass sie die Dummheit ihrer politischen Kundschaft in geradezu genialer Weise ausnutzen und zu Geld machen ? Was RR in ihrer Studie nicht explizit machen, das besorgen (so funktioniert Marketing) die Phantasmen ihrer Kunden. RR sind moderne Scharlatane im wirtschaftswissenschaftlichen Gewande.
Und zu ihren Kunden gehören eben auch Olli Rehn und die deutsche Bundesregierung.
Das funktioniert so: Austerität als Dauerkonzept basiert auf der – nirgendwo belegten – Annahme, dass Wirtschaftswachstum umso stärker ausfällt, je geringer die Staatsverschuldung ist. In kleine Münze übersetzt heißt das, Wirtschaftswachstum erreicht erst dann ein lohnendes Niveau, wenn gewisse Schwellenwerte der Staatsverschuldung unterschritten werden. Wirtschaftswachstum oberhalb dieser Schwellenwerte lohnt sich nicht, weil das Wachstumspotential, das unterhalb dieser Schwellenwerte erreicht werden könnte, quasi verschenkt wäre. Deshalb gilt es buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste unter die Schwellenwerte zu kommen, anschließend entfaltet die wirtschaftliche Entwicklung dann ihr volles ungebremstes Potential und (fast) alles erstrahlt in neuem Glanze.
RR und ihre 90 Prozent sind der zentrale Legitimationsmythos für dieses moderne Märchen.
In den Worten Olli Rehns klingt das so:
“[I]t is widely acknowledged, based on serious research, that when public debt levels rise about 90% they tend to have a negative economic dynamism, which translates into low growth for many years.” — European Commissioner Olli Rehn [PDF – 335 KB].
(Es ist allgemein auf Grundlage seriöser Forschung anerkannt, dass öffentliche Schulden, wenn sie mehr als 90 % des Bruttosozialprodukts betragen, tendenziell zu einer schlechten Wirtschaftsdynamik und nur schleppendem Wachstum für viele Jahre führen).
Es ist der unbestreitbare Verdienst der Kritik an RR und der darauffolgenden Debatte im (amerikanischen) Internet, deutlich gemacht zu haben, dass Olli Rehn hier gar nicht existente Schuhe, Hosen und Jacken anzieht. RR selbst nehmen – jedenfalls in ihren Zeilen – keine Kausalität zwischen Staatsverschuldung und geringem Wirtschaftswachstum für sich in Anspruch und die Gleichsetzung eines Durchschnittswerts mit einem in jedem Einzelfall gültigen Einheitswert gibt Olli Rehn, den Währungskommissar der Europäischen Union, endgültig in bislang nicht vorstellbarem Ausmaß der Lächerlichkeit Preis.
Deshalb ist diese Debatte kein Grund, uns über Zeitverschwendung zu ärgern. Nehmen wir lieber die Einladung an und lachen über die lächerlichen Figuren, die uns regieren und informieren – lachen wir, bis unsere leider wachsenden Bäuche wackeln.