Lohnsenkung gegen den Rest der Welt?
Von Heiner Flassbeck, SZ, 15. März 2005
Die ökonomischen Reformer in Deutschland sind gewaltig in die Defensive geraten. Bei 5,2 Millionen Arbeitslosen nach Hartz IV und erneut sinkenden Wachstumserwartungen hilft offenbar nur noch lautes Pfeifen im Walde. Die Ratschläge werden radikaler und die Begründungen werden diffuser. Lohnzurückhaltung reicht nun nicht mehr aus, die Löhne müssen schon drastisch sinken, um Deutschland noch zu retten. So hat etwa der „beste Professor Deutschlands“ (Hans Werner Sinn laut BILD-Zeitung) in der SZ am 4.3.2005 noch einmal vorgeführt, wie Ost- und Westdeutschland gleichermaßen unter der Globalisierung und zu hohen Löhnen ächzen. Leider geht bei solchen Vergleichen von Ost und West einiges durcheinander und es wird schlicht übersehen, dass die Löhne in internationaler Währung, also in US-Dollar oder in chinesischen Renminbi, gar nicht in Deutschland gemacht werden.
Schon Ost- und Westdeutschland zusammenzuwerfen, produziert einen unverdaulichen Eintopf. Das ostdeutsche Problem besteht darin, dass dort nach der Vereinigung die realen und die ausbezahlten Löhne weit schneller als die Produktivität gestiegen sind. Ein riesiges Leistungsbilanzdefizit zeugt vom allgemeinen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Es werden zu viele Güter eingeführt und zu wenige ausgeführt. Die Region hat einen Nachfrageüberhang, es wird zu viel konsumiert und zu wenig produziert. Kurz gesagt, die Menschen in den neuen Bundesländern leben über ihre Verhältnisse. Sie brauchen Kapital bzw. öffentliche Transfers, um das Loch in ihrer Leistungsbilanz zu stopfen. Das ist richtig und wird von keinem ernst zu nehmenden Beobachter bestritten.
Westdeutschland aber hat einen riesigen Leistungsbilanzüberschuss. Rechnete man das ostdeutsche Defizit – für das es leider keine exakten Daten mehr gibt, das man aber auf etwa die Hälfte der ostdeutschen Wirtschaftsleistung schätzt – aus dem gesamtdeutschen Überschuss heraus, dürfte Westdeutschland den mit Abstand höchsten Leistungsbilanzüberschuss im Verhältnis zu seiner Wirtschaftsleistung in der ganzen Welt haben. Westdeutschland lebt folglich unter seinen Verhältnissen, es konsumiert zu wenig, es hat einen gewaltigen Angebotsüberhang.
Den Überschuss in Westdeutschland damit zu erklären, dass die Region per Saldo Kapital ausführt, macht den Eintopf nicht verdaulicher, weil es nun mal selbstverständlich ist, dass eine Region, die zu wenig einführt, die hohen Einfuhren der anderen Länder, die die eigenen Ausfuhren logischerweise darstellen, finanzieren muss. Niemand kann, wie die USA oder eben Ostdeutschland, über seine Verhältnisse leben, ohne dass es einen anderen gibt, der das über Kredite finanziert bzw. im Schuldnerland Grundstücke, Aktien oder ganze Unternehmen kauft.
Wenn aber festgestellt wird, dass auch in Westdeutschland die Löhne im Verhältnis zum Ausland absolut viel zu hoch sind, wird es vollends unbegreiflich. Das läuft nämlich darauf hinaus, zu sagen, wer viel einführt und wenig ausführt hat ein Wettbewerbsproblem, wer wenig einführt und sehr viel exportiert aber auch. Wer Kapital per Saldo importiert, wie Ostdeutschland, zeigt damit seine Abhängigkeit vom Ausland, wer Kapital ausführt, wie Westdeutschland, zeigt nur, dass die Investoren fliehen. Nie ist es Recht.
Um solche Ergebnisse „abzuleiten“, muss man allerdings virtuos die Lohn-Maßstäbe wechseln. Ist Ostdeutschland zurückgefallen, weil die Reallöhne schneller als die Produktivität gestiegen sind, scheint Westdeutschland unabhängig von seiner Produktivität nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein, weil die Löhne absolut höher als im Ausland sind. Hätte man sich um vergleichbare Maßstäbe bemüht, wäre aufgefallen, dass in Westdeutschland seit vielen Jahren die Reallöhne weit weniger als die Produktivität gestiegen ist und die ausbezahlten Löhne, die für die internationale Wettbewerbsfähigkeit entscheidend sind, – selbstverständlich auch hier in Relation zur Produktivität – im Vergleich zu allen wichtigen Handelspartnern dramatisch gesunken sind.
Besonders beeindruckend ist das innerhalb der europäischen Währungsunion. Deutschland hat hier mittlerweile, wie selbst der konservative „Economist“ am17. 2. 2005 feststellt, unglaubliche Exporterfolge aufzuweisen. Diese Erfolge basieren darauf, so das britische Blatt, dass die ausbezahlten Löhne im Verhältnis zur Produktivität, die Lohnstückkosten also, in Deutschland allein seit 1999 um 10 % gegenüber dem europäischen Durchschnitt zurückgeblieben sind.
Dumm nur, in internationaler Währung, also z. B. in Dollar gerechnet, sind die deutschen Lohnstückkosten seit 2000 massiv gestiegen. Das liegt aber einzig und allein daran, dass der Euro um mehr als 30 % gegenüber der US-Währung aufgewertet hat. Die USA, das nach herrschender Meinung flexibelste Land der Welt, haben über ihre Verhältnisse gelebt. Folglich war eine dramatische Abwertung gegenüber dem scheinbar so unflexiblen Euro-Raum nötig. Noch erstaunlicher, mit dem Eurokurs sind die deutschen Löhne gegenüber den Ländern noch einmal gestiegen, deren Löhne – absolut gesehen – schon viel niedriger sind. Das gilt etwa für China. Was die akademischen Advokaten einer Lohnsenkung jedoch nicht verstehen: Der absolute Abstand der Löhne interessiert den Devisenhändler nicht, weil der weiß, dass dem niedrigen Lohn in China eine ebenso niedrige Produktivität entspricht.
Das heißt, geht man in die Richtung einer absoluten Angleichung der deutschen Löhne an die chinesischen, ist eine weitere drastische Aufwertung des Euro unvermeidlich. Wechselkurse gleichen nun mal systematisch Lohnstückkostendifferenzen aus und niemals die absoluten Löhne. Anders als viele Ökonomieprofessoren wissen Devisenhändler, worauf es im internationalen Vergleich ankommt. Nur der Ausgleich von Lohnstückkosten macht Sinn, weil sonst die Entwicklungsländer hoffnungslos unterlegen wären und sich Freihandel niemals leisten könnten. Übrigens, Devisenhändler werden gnadenlos gefeuert, wenn sie grob falsch liegen, deutsche Professoren wohl noch nicht, oder?
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