Wichtige „Leitplanken“ für linke Politik im Euro-Memo 2013
Ausgewählte Hinweise aus europäischer Sichtweise von „links“.
Die Arbeitsgruppe europäischer Wirtschaftswissenschaftler/innen für eine andere Wirtschaftspolitik hat im Herbst 2012 in Posen (Polen) das „EuroMemorandum 2013“ erarbeitet [PDF – 526 KB].
Die aktuellen Aussagen und Positionen der übernationalen Euro-Memorandum-Gruppe bieten auch dem deutschen Leser wichtige „Leitplanken“ für eine neue gesamteuropäische Politikänderung aus „linker“ Sicht. Sie kann damit die deutsche Debatte über die Euro-Finanzkrise (und ihre staatshaushaltsseitigen Aspekte) bereichern bzw. hierfür wichtige Hinweise eröffnen. Daher sollen nun in stark verkürzter bzw. ausgewählter Sicht einige Grundaussagen fürs „Nachdenken“ zitiert bzw. kommentiert werden. Von Karl Mai.
Wichtige Aussagen des Euro-Memo befinden sich verdichtet in der dort voran gestellten Zusammenfassung. Sie ist nach sachlich-thematischen Gesichtspunkten untergliedert, von denen ich hier für Deutschland einige skizzieren möchte. Ich setze dabei voraus, dass der Leser eine Vorstellung davon hat, dass es bei unserem Thema vor allem um solche Aspekte geht, die in der öffentlichen Sichtweise von Medien und Talkshows nicht immer klar zu Tage treten oder sogar „vernebelt“ werden. Dem soll m. E. hauptsächlich durch einige markante Angaben oder Original-Zitate entgegen getreten werden.
Grundsätzlich: Entdemokratisierung in der EWU
Die Euro-Memorandum-Gruppe geht davon aus, dass viele Bürger der EWU noch gar nicht erkannt haben, von welchen demokratiefeindlichen Eliten der Finanzoligarchie sie inzwischen „regiert“ werden:
Die Leichtsinnigkeit, mit der viele „einfache“ Mitteleuropäer hinnehmen, wie die Rechte ihrer gewählten Parlamente immer stärker durch die Anmaßungen der bürokratischen EWU-Institutionen eingeengt werden, trifft auf heftige, prinzipielle Kritik. „Durch die Krise tritt der zutiefst undemokratische Aufbau der Europäischen Union deutlich zutage. Die Europäische Kommission übernimmt immer größere Befugnis bei der Überwachung der nationalen Haushalte und setzt die doktrinären Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch, die durch die Verabschiedung des sogenannten Fiskalpakts jetzt noch weiter verstärkt werden.“ (S. 8) Wer steckt hinter den euro-bürokratischen Institutionen?
„Hierbei handelt es sich um ein Europa der Eliten, in dem mächtige Interessenvertretungen hinter den verschlossenen Türen der Brüsseler Verwaltung und gut verborgen vor den neugierigen Blicken der EU-BürgerInnen in der Lage sind, ihren weitreichenden Einfluss geltend zu machen.“ (S. 8) Dabei hilft diesen Eliten die dominierende Macht der gleichgeschalteten Medien und der Mainstream der neoliberal orientierten Ökonomen.
Zur europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik
„Das Wirtschaftswachstum in der EU kam 2012 zum Stillstand, wobei das Produktionsniveau unter dem von 2008 blieb. In den Peripherieländern der Eurozone kam es vielerorts zu Rezessionen und das Produktionsniveau sank im Verlauf des Jahres in Portugal um weitere 3 % und in Griechenland um 6 %.“ (S. 2) Inzwischen wird dies bereits durch die gegenwärtige Lage deutlich übertroffen, denn die Rezession greift auf andere EWU-Staaten über.
Im Euro-Memo wird erklärt: „In erster Linie auf Beharren Deutschlands hin ergriffen 25 Mitgliedsstaaten Anfang 2012 Maßnahmen, um den so genannten Fiskalpakt einzuführen, eine Maßnahme, die das strukturelle Haushaltsdefizit eines jeden Landes gesetzlich auf 0,5 % des BIP begrenzt und die Länder wirksam daran hindern wird, in Zukunft eine aktive Fiskalpolitik zu betreiben.“ (S. 2) Diese Maßnahme wird unbedingt als kontraproduktiv angesehen, weil sie die Impulsgebung der Wirtschaftspolitik für die Realsphäre der Ökonomie, insbesondere für die staatlich- nationale Förder- und Investitionspolitik, zu radikal einschränkt.
Sie ist nach Auffassung des Euro-Memo selbst schon in Deutschland gescheitert, ohne dass dies zur Kenntnis genommen wurde. „Die Vorstellung, dass die deutsche Wirtschaft in irgendeiner Weise als Modell für die EU herangezogen werden kann, ist falsch. Seit der Einführung des Euro ist die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands Ergebnis einer aggressiven exportgetragenen Strategie gewesen, in der eine stagnierende Lohnentwicklung sowie die schwache Binnennachfrage durch wachsende Handelsüberschüsse ausgeglichen werden.“ (S. 9)
Neben diesen von der EU-Kommisssion initiierten oder gebilligten „Rettungsmaßnahmen“ der fiskalischen Haushaltsbegrenzung traf auch die EZB eigene Entscheidungen: Sie führte „unterdessen längerfristige Refinanzierungsgeschäfte mit Laufzeiten von bis zu drei Jahren ein. Sie stellte den Geschäftsbanken in der Zeit von Dezember 2011 bis Februar 2012 etwa 1 Billion € für drei Jahre zu einem Zinssatz von 1 % zur Verfügung.“ (S. 2)
Diese EZB-Maßnahme erwies sich gleichfalls noch als unzureichend. „Nachdem Spekulationen gegen spanische und italienische Anleihen Mitte 2012 zunahmen, hat die EZB außerdem das so genannte Outright Monetary Transactions-Programm beschlossen. Dieses verspricht ein uneingeschränktes Einschreiten der Zentralbank zur Stützung von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt – jedoch nur, wenn die Länder zuvor einem von den Euro-Staaten verabschiedeten Politikprogramm mit dem EU-Rettungsschirm, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, zustimmen.“
Damit hatten die EWU-Institutionen ihr stimulierendes „Pulver verschossen“, und die Euro-Zone taumelt weiter unter der monetären Dominanz der Finanzoligarchie dahin.
„Schätzungen über die gebündelten Auswirkungen der in der Eurozone eingeführten verschiedenen Haushaltsregeln zufolge, könnte das BIP in der Zeit von 2013 bis 2016 in der gesamten Eurozone um 3,5 % zurückgehen, in Italien, Portugal und Spanien um jeweils 5-8 % und in Griechenland und Irland um 10 %.“ (S. 2), fährt das Euro-Memo fort und fordert von der Politik: „Um die starken Leistungsbilanzungleichgewichte abzuschaffen, sollte von den Überschussländern eine Ausweitung der Nachfrage gefordert werden.“ (S. 3) Und ferner: „Die Überexpansion des Finanzsektors sollte grundlegend umgekehrt werden. Es sollte eine strikte Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanken eingeführt werden und öffentliche sowie genossenschaftliche Geschäftsbanken sollten unterstützt werden, um die Finanzierung nachhaltiger Investitionsprojekte zu ermöglichen.“ (S. 3)
Steuerung innerhalb der EU
Scharfe Kritik erfuhr die Behandlung der Länder in der Hauptkrisenzone seitens der dort dienstaufsichtsführenden „Troika des Finanzkapitals“ (bestehend aus IWF, EZB und EWU-Zentrale). Das Gebaren, „ die wirtschaftlich schwächeren Länder unter ein umfangreiches System der Bevormundung zu stellen und unablässig auf Kürzung ihrer Ausgaben, Aushöhlung der Beschäftigungsstandards und Privatisierung von Staatsvermögen zu drängen“, wurde im Euro-Memo angeprangert.
Dabei konstatierte man eine drakonische Verschärfung in der kreditzinsbedingten Ausplünderung der Hauptkrisenländer unter dem neoliberalen Zwangsregime. „ Für diejenigen Mitgliedsstaaten, die Finanzhilfen erhalten haben, fallen die Kontrollen und Beschränkungen noch drastischer aus und nehmen im Fall von Griechenland geradezu koloniale Ausmaße an.“ (S. 3) Die Zwangsdemütigung der von weiteren Krediten abhängig gemachten Länder in der EWU, in denen die verarmenden Massen wiederholt auf die Straßen gingen, findet ihre traurige und empörende Widerspiegelung im deutschen unkritischen Medienecho und bei dessen „scheinheiligen“ neoliberalen Redakteuren.
Die Umsteuerung in den Krisenhauptländern müsste mit Hilfe einer Welle zweckmäßiger Haushaltsinvestitionen seitens der EU angestoßen werden:
„Der EU-Haushalt sollte von derzeit 1 % des BIP der EU auf 10 % erhöht werden, um eine gesamtwirtschaftliche Stabilisierung zu ermöglichen und um umfangreiche Investitions- und Entwicklungsprogramme in der südlichen und östlichen Peripherie der EU durchzuführen. Aktive Industrie- und Regionalpolitiken sind notwendig, um den Entwicklungsprozess in den Peripherieländern zu unterstützen, da Entwicklungen nicht nur infolge von Marktprozessen eintreten.“ (S. 5)
Neustrukturierung der sozialen Agenda
„Die Sparprogramme zerstören die Leben von Millionen EuropäerInnen, insbesondere in den südlichen und östlichen Peripherieländern. Die offizielle Arbeitslosenquote in der EU lag 2012 bei 10,6 %, in Spanien und Griechenland betrug sie jedoch 25 %, und während die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen in der EU bei 22,7 % lag, betrug diese in Spanien und Griechenland über 50 %.“ (S. 4) Die Lage dort hatte sich bis 2013 noch deutlich verschlimmert.
Die Verwüstungen der neoliberalen Finanzoligarchie im sozialen Bereich, insbesondere in den südeuropäischen Krisenländern der EWU, sollten schrittweise durch nachhaltige und konstruktive Entwicklungspolitik behoben werden. „Eingefrorene Gehälter, Rentenkürzungen, eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters sowie Lockerungen im Kündigungsschutz und Einschränkungen im Bereich des Arbeitslosengeldes bedeuten jedoch eine weitere Schwächung des vielbeschworenen Sozialmodells der EU.“ (S. 4)
Die seitens der EWU-Länder ergriffenen Maßnahmen verschärften erheblich die Krisenlage: „Anstatt Steuerschlupflöcher zu schließen, konzentrierten sich die Sparprogramme auf Ausgabenkürzungen und führten somit zu einem Aufschub oder einer Streichung von Infrastrukturmaßnahmen sowie zu Senkungen der laufenden Ausgaben für Gesundheit, Bildung, Bereitstellung von Sozialleistungen und Sozialhilfe. Die Beschäftigung im öffentlichen Bereich wurde in vielen Ländern aufgrund der Rezession und der Auswirkungen der Sparprogramme erheblich abgebaut und es kam zu einem deutlichen Anstieg des Anteils der von Armut bedrohten Bevölkerung.“ (S. 4)
Die vorgeschlagenen Maßnahmen im Euro-Memo sind u.a.: „Sämtliche Mitgliedsstaaten sollten sich dem Prinzip einer progressiven Besteuerung sowie einer Angleichung der Steuertabellen verschreiben. […] Außerdem sollten sich sämtliche Mitgliedsstaaten zu Transparenz und einem vollständigen Informationsaustausch in Bezug auf Einkünfte verpflichten. Einrichtungen zur Steuervermeidung in Europa sollten abgeschafft und die Nutzung von Steueroasen unmöglich gemacht werden. Außerdem sollte Reichtum höher besteuert werden. Die Verlagerung von direkter hin zu regressiver indirekter Besteuerung sollte rückgängig gemacht und die zerstörerische Dynamik des Steuerwettbewerbs muss ausgeschaltet werden.“ (S. 4)
Krise der globalen Steuerung infolge globaler Ungleichgewichte
Über die Ursachen der globalen Ungleichgewichte lässt das Euro-Memo keinen Zweifel:
„Trotz zahlreicher Erklärungen über das Erfordernis, globale Herausforderungen anzugehen, bleiben die Hauptursachen der weltweiten Finanzkrise – erhebliche Leistungsbilanzungleichgewichte, ungleiche Verteilung von Einkommen und Reichtum sowie unkontrollierte und instabile Finanzmärkte – weiterhin bestehen“ (S. 6) Und: „Die Senkung der Leistungsbilanzdefizite der peripheren EU-Länder ist nicht auf Importsubstitutionen oder anhaltendes Exportwachstum, sondern auf die Drosselung der einheimischen Nachfrage durch die Durchführung extremer Sparprogramme zurückzuführen.“ (S. 40) Daher folgt logisch: „Während neu geschaffene Verfahren in der EU auf Länder mit Zahlungsbilanzdefiziten Anwendung finden, sollte auch von Ländern mit Außenhandelsüberschüssen gefordert werden, expansivere Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl ihrer Importe zu erhöhen.“ (S. 6)
Das Euro-Memo verweist auf die inneren Potenziale der EWU-Staaten:
„Die EU könnte ihre eigene Fähigkeit zur Entwicklung langfristiger Nachhaltigkeit fördern, indem sie sich zu einer neuen Form des Multilateralismus verpflichtet. Anstatt zu versuchen, zu jedem Zeitpunkt die führende Rolle für sich – oder ihre führenden Mitgliedsstaaten – zu beanspruchen, und anstatt die übrigen Mitglieder als Untergebene zu betrachten, die angeleitet werden müssen, sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine Art offener Diplomatie praktizieren, in der diejenigen die Führung übernehmen, die in einem bestimmten Bereich am weitesten fortgeschritten sind.“ (S. 7)
Allerdings ist das Euro-Memo auch skeptisch hinsichtlich der noch dominierenden Ausgestaltung der institutionellen Instrumentarien:
„Gegenwärtig gibt es keine globalen Institutionen, die globale und systemische Risiken, wie beispielsweise globale Leistungsbilanzungleichgewichte, Vermögensblasen, unverhältnismäßige Wechselkursschwankungen, Richtungsänderungen der Kapitalströme, die Höhe internationaler Reserven oderschädlichen Steuerwettbewerb und Steuerhinterziehung wirksam überwachen und kontrollieren. (S. 6)
Es bestehe sogar die Gefahr, dass gegenwärtig diese europäischen Einrichtungen, die nicht demokratisch kontrolliert werden, laufend „Fehlleistungen“ erzeugen oder schlechterdings solche erzeugen sollen:
„Die Institutionen, die diese Aufgaben zum gegenwärtigen Zeitpunkt (teilweise) übernehmen sollten – der Internationale Währungsfonds (IWF), die Gruppe der Zwanzig (G20), das Finanzstabilitäts-Forum, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) –, erfüllen diese Aufgaben in der Praxis derzeit nicht. Im Bereich der globalen Umweltpolitik scheint die offizielle Politik der EU seit dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise auf dem Rückzug zu sein und erweist sich – sofern sie existiert – als absolut unzulänglich.“ (Hervorgehoben von mir.- K.M.) (S. 6)
Dieser vernichtenden Kritik ist nichts hinzuzufügen; sie gilt im Prinzip bis heute. Die irritierten Mainstream-Ökonomen beginnen teils öffentlich, teils in Diskussionskreisen und elitären Zirkeln, an ihren Dogmen zu (ver-) zweifeln – allen voran einige der „flexibleren“ USA-Ökonomen.