Arme Deutsche? Wie eine Statistik zur Meinungsmache verbogen wird

Jens Berger
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Aus Statistiken kann man viele Schlüsse ziehen – richtige wie falsche. Man kann beispielsweise statistisch „belegen“, dass Babys in Wirklichkeit doch vom Storch gebracht werden [PDF – 180 KB]. Und man kann auch statistisch belegen, dass die Deutschen die „Ärmsten in Euroraum“ sind. Doch nicht alles, was statistisch belegbar ist, ist auch logisch nachvollziehbar. Die Ergebnisse der jüngst veröffentlichten Notenbank-Statistik, die von einigen Meinungsmachern als „unglaubliche Fakten“ für die Armut Deutschlands interpretiert werden, lassen beispielsweise sehr viele hoch interessante Schlüsse zu. Nur einen Schluss lässt die Statistik nicht zu: Dass die Deutschen die „Ärmsten im Euroraum“ sind. Von Jens Berger

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Ist der durchschnittliche Grieche wirklich doppelt so reich wie der durchschnittliche Deutsche? Wenn man die aktuelle PHF-Studie der Notenbanken der Euroländer nicht korrekt liest, könnte man zu diesem Ergebnis kommen. Tatsächlich hat der Median der griechischen Haushalte ein Vermögen von 102.000 Euro, während der Median der deutschen Haushalte nur über ein Vermögen von 51.000 Euro verfügt. Beim Durchschnitt, bei dem einige wenige extreme Ausreißer den Wert verzerren, sieht es jedoch gänzlich anders aus: Der deutsche Durchschnittshaushalt verfügt laut PHF-Studie über eine Vermögen von 195.000 Euro, während der griechische Durchschnittshaushalt nur über 148.000 Euro verfügt. Der Teich war im Schnitt einen Meter tief und trotzdem ersoff die Kuh, sagt ein russisches Sprichwort. Da die PHF-Studie auf einer interviewgestützten Umfrage unter rund 3.000 Haushalten pro Land basiert, an der die Befragten freiwillig teilnehmen konnten und ihre Angaben auch nicht weiter überprüft wurden, sollte man sich tunlichst davor hüten, diese Ergebnisse all zu ernst zu nehmen. Welcher reiche Grieche würde einem Interviewer im Auftrag der Notenbank schon freiwillig von seinen schwarzen Konten in der Schweiz berichten? Welcher reiche Deutsche erzählt den Interviewern freiwillig von seiner Liechtensteiner Stiftung oder seinem Trust auf den Caymans?

Ohne die Ansprüche aus dem Rentensystem einzurechnen, sind die Ergebnisse nicht vergleichbar

Die mangelnde Transparenz über die Richtigkeit und Vollständigkeit der Antworten erklärt vor allem den vielfach zu geringen Unterschied zwischen dem Median und dem Durchschnitt. Für die teilweise unerklärlich großen nationalen Unterschiede der Medianwerte ist er jedoch keine Erklärung. Doch auch hier gibt es zahlreiche Gründe, warum die erhobenen Werte nicht seriös vergleichbar sind.

Der wohl wichtigste Grund ist der, dass bei der Erhebung zwar die private Altersvorsorge als Vermögenswert angerechnet wurde, die Ansprüche aus der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente jedoch elegant ignoriert wurden. Dabei stellen die Ansprüche an die gesetzliche Rente und das öffentliche Pensionssystem gerade in der deutschen Unter- und Mittelschicht den größten „Vermögensbestandteil“ dar, wenn man denn überhaupt Ansprüche aus einer Altersvorsorge zu den Vermögenswerten zählen will. Der berühmt-berüchtigte Eckrentner hat beispielswiese einen Anspruch auf eine Nettomonatsrente in Höhe von 1.236 Euro. Bei einem Zweipersonenhaushalt und einer durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von 13 Jahren entspricht dies [1] einem Altersvorsorgeanspruch in Höhe von 358.632 Euro. Selbst wenn man nicht den Eckrentnerhaushalt, sondern den Durchschnittsrentner nimmt, bezieht ein Zweipersonenhaushalt mit Mann und Frau im Schnitt 1.435 Euro im Monat, was sich in 13 Jahren auf 223.860 Euro summiert. Randnotiz: Ein durchschnittlicher Zweipersonen-Beamtenhaushalt käme nach dieser Rechnung auf Pensionsansprüche in Höhe von 801.840 Euro.

Natürlich haben auch Griechen Anspruch auf eine gesetzliche Rente, nur dass der durchschnittliche griechische Rentner (nach Vorkrisenzahlen) gerade einmal die Hälfte an Rente bezieht wie sein deutsches Pendant. Bezogen auf den Durchschnitt müsste das derart „gemessene“ Vermögen der Deutschen somit um fast 120.000 Euro höher sein als das der Griechen und die „schöne“ Statistik, nach der „der Grieche“ doppelt so reich wie der „der Deutsche“ ist, wäre schon mal für die Katz. Und da „der Grieche“ von seiner niedrigen Rente nicht leben kann, muss er privat vorsorgen. Die Ansprüche aus dieser privaten Altersvorsorge zählen jedoch laut PHF zu den Vermögenswerten und blähen daher den griechischen Wert überdies auch noch auf. Bezieht man diese Effekte mit ein, dürfte das „Vermögen“ der Deutschen im Median rund doppelt so hoch wie das der Griechen sein, womit die Eingangsthese in ihr exaktes Gegenteil umgewandelt wäre.

Das Einbeziehen von Forderungen aus der Altersvorsorge ist jedoch für eine Vermögensstatistik generell problematisch, da Bürger von Ländern mit einem größtenteils privatisierten Altersvorsorgesystem dadurch stets „vermögender“ dargestellt werden. Würde man beispielsweise von heute auf morgen das deutsche umlagefinanzierte System abschaffen und die Bürger zwingen, privat vorzusorgen, würde im Laufe der Zeit das „Vermögen“ unweigerlich stark steigen. Wenn ein Arbeitnehmer beispielsweise gezwungen wäre, jeden Monat 300 Euro in ein privates Altersvorsorgemodell einzuzahlen, hätte er [2] nach zehn Jahren 36.000 Euro Ansprüche angesammelt, die in der PHF-Studie ausgewiesen würden. Dennoch hätte er – systembedingt – geringere Rentenansprüche als im Umlagesystem. Er wäre also in Wirklichkeit ärmer als vorher, würde jedoch von der Statistik als vermögender geführt.

Die Nichteinbeziehung von Rentenansprüchen ist somit der gewichtigste Faktor, warum die Ergebnisse der einzelnen Länder nicht seriös vergleichbar sind. So ist es beispielsweise gar kein Wunder, dass ein Land wie die Niederlande mit seinem hohen privaten Altersvorsorgeanteil bei der PHF-Studie im Median ein doppelt so hohes Vermögen wie Deutschland erzielt. Man kann eben Äpfel nicht mit Birnen vergleichen.

Mein Haus, mein Auto, mein Boot

Ein weiterer gewichtiger Grund, warum die Ergebnisse nicht vergleichbar sind, ist die Bemessung der einzelnen Vermögensbestandteile. Hier verlassen sich die Statistiker voll und ganz auf die freiwilligen Angaben der Befragten. Nun mag ein spanisches Haus vor dem Platzen der Immobilienblase [3] auf dem Papier einen gigantischen Wert gehabt haben – den Wert für Immobilien auf dieser Basis zu kalkulieren, ist jedoch hoch unseriös. So werden aus Bauruinen und Bruchbuden Luftschlösser gemacht.

Die Daten aus Ländern mit einem sehr hohen Hausbesitzeranteil und unrealistisch hohen „Marktpreisen“ für Immobilien sind daher bei seriöser Betrachtung ohnehin nicht mit den deutschen Daten vergleichbar. Damit fallen die hohen Werte aus Zypern, Malta, Spanien und Portugal bereits aus der Vergleichbarkeit heraus. Ein ähnliches Problem gibt es bei der Bewertung von Aktien und anderen Vermögensgegenständen, die hohen Preisschwankungen ausgesetzt sind. Hier wurde bei der PHF-Studie auf Basis des Marktwertes bilanziert. Dies ist ein eklatanter Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, bei der stets nur die Anschaffungs- und Herstellungskosten aber nicht der Marktwert bilanziert werden darf. Für die Auftraggeber der Studie, also die Zentralbanken, ist der Marktwert der Vermögensgegenstände freilich sehr interessant. Das schließt jedoch eine Vergleichbarkeit der Wert über die Grenzen hinweg aus.

Armutsrisiko Singlehaushalt?

Unverständlicherweise arbeitet die PHF-Studie auf Basis von Haushalten und nicht auf Basis von Einzelpersonen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass Länder mit höheren Haushaltsgrößen als „vermögender“ gelten als Länder mit niedrigen Haushaltsgrößen. Deutschland weist einen doppelt so hohen Anteil an Singlehaushalten im Vergleich zu den südeuropäischen Ländern auf, was auch ein Grund für die vermeintlich schlechten Ergebnisse ist. Es ist freilich eine Binse, dass eine Großfamilie, bei der mehrere Generationen unter einem Dach leben, „vermögender“ als ein Einpersonenhaushalt sein muss. Aber welchen geistigen Mehrwert bringt diese Erkenntnis?

Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa führt so paradoxerweise dazu, dass die Haushalte dieser Länder auf dem Papier „vermögender“ werden. Schließlich können sich die arbeitslosen jungen Menschen schlicht keinen eigenen Haushalt leisten und sind gezwungen, weiterhin im Elternhaushalt zu leben. Statistisch wird so aus zwei potentiellen Haushalten einer. Das – nicht vorhandene – Vermögen des jungen Arbeitslosen fällt dadurch statistisch unter den Tisch.

Auch in Deutschland weiß man eigentlich, dass es kein Zeichen von „Armut“ ist, wenn man seinen Kindern ermöglicht, trotz mangelnden Einkommens einen eigenen Haushalt zu führen. Was eigentlich ein Luxus ist, wird durch die fragwürdige Berechnungsgrundlage zu einem Armutsrisiko. Der Singlehaushalt ist eher ein Anzeichen von gesellschaftlichem Wohlstand. In der PHF-Studie führt er jedoch dazu, dass statistisch eine Armut produziert wird, die so überhaupt nicht vorhanden ist. Fast jeder zweite Haushalt, der von der deutschen Sektion der PHF-Studie befragt wurde, ist ein Einpersonenhaushalt.

Öffentliche Güter fallen ebenfalls unter den Tisch

Auch der hierzulande vergleichsweise gut funktionierende Markt für gemieteten Wohnraum drückt die deutschen Ergebnisse in einer Art und Weise, dass man sie schlecht mit den Ergebnissen anderer Länder vergleichen kann. So tauchen beispielsweise die zahlreichen Wohnungen in öffentlichem Besitz in der PHF-Studie nicht auf. Würde die öffentliche Hand sich von diesen Wohnungen trennen, hätte dies paradoxerweise einen positiven Effekt auf die Vermögensbilanz, die ja nur das Vermögen der Privathaushalte beinhaltet.

Ganz ähnlich verhält es sich mit immateriellen Gütern und öffentlichen Dienstleistungen. Wenn beispielsweise die Eltern und Großeltern für die Studienkosten ihrer Kinder sparen müssen, so hat dies einen positiven Effekt auf die Vermögensstatistik. Zahlt der Staat das Studium, bleibt dieser Effekt aus. Gleiches bei der Pflegeversicherung – wer für die zu erwartenden Pflegekosten privat spart, ist – auf dem Papier – vermögender. Wird die Pflege über die Sozialsysteme gezahlt, hat dies – ebenfalls auf dem Papier – einen negativen Effekt auf das Vermögen. Das ist paradox.

Wie werden wir reicher?

Würde man die Krokodiltränen der FAZ ernst nehmen, so könnte man einen klaren Maßnahmenkatalog entwerfen, wie „die Deutschen“ reicher werden: Zunächst müsste man dafür sorgen, dass das Rentensystem komplett privatisiert wird, auch wenn dies negative Auswirkungen auf die zu erwartenden Einkünfte im Alter hätte. Dann müsste man noch dafür sorgen, dass die Menschen sich seltener scheiden lassen und die Kinder länger bei ihren Eltern leben, um die statistische Haushaltsgröße zu erhöhen. Bei einer höheren Jugendarbeitslosigkeit und weniger Studienplätzen wäre dies der Fall. Als Nächstes müsste man dann das Sozialsystem privatisieren und Leistungen auf ein Minimum herunterfahren. Denn wenn der Deutsche, angefangen bei der Schulausbildung seiner Kinder, unerwarteten Krankheitskosten bis zum Platz im Altenheim, für alles und jedes Rücklagen bilden muss, wird er – auf dem Papier – auch vermögender.

Die entscheidende Frage ist jedoch: Würden wir durch diese Maßnahmen ärmer oder reicher? Dies ist natürlich eine rhetorische Frage. Aber was nutzt eine Vermögensstatistik, die Ergebnisse liefert, die nicht international vergleichbar sind? Einiges, dazu werden die NachDenkSeiten in der nächsten Woche noch zurückkommen. Die PHF-Studie liefert nämlich durchaus interessante Ergebnisse. Als Vergleichsstudie für die Vermögen in den Euroländern war diese Studie jedoch nie gedacht. Warum picken sich dann aber die Journalisten von FAZ und Co. ausgerechnet den Punkt aus der PHF-Studie heraus, der überhaupt nicht dafür geeignet ist, seriös aufgegriffen zu werden? Könnte es sein, dass die Argumentation, nach der die „armen Deutschen“ nicht länger die „reichen Südeuropäer“ retten sollten – so falsch sie auch ist – FAZ und Co. sehr gut ins Konzept passt? Könnte es ferner sein, dass die Journalisten von FAZ und Co. mit den hier genannten absurden Maßnahmen zur „Steigerung des Vermögens“ sympathisieren? Beides dürfte zutreffen. Aber wer weiß? Vielleicht werden die Babys ja doch vom Storch gebracht.


[«1] vereinfachte Rechnung ohne Sonderkosten, Verzinsung u.ä.

[«2] ebenso: vereinfachte Rechnung ohne Sonderkosten, Verzinsung u.ä.

[«3] in Spanien wurde – anders als im Rest der Länder – die Befragung im Jahre 2008 durchgeführt, während alle Länder die Befragung 2010/2011 durchführten.

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