Information und Kritik der Dienstleistungsrichtlinie
Von Christine Wicht und Carsten Lenz.
Die geplante Dienstleistungsrichtlinie soll der Verwirklichung der im EU-Vertrag festgelegten Ziele der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit (Dritter Teil, Titel III, EU-Vertrag) dienen. Zugleich stellt der Entwurf einen Schritt hin zu dem in der Lissabon-Strategie (EU-Sondergipfel „Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt” 23./24. März 2000 [Quelle]) formulierten Ziel der EU dar, bis zum Jahr 2010 „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen”.
Das Herkunftslandprinzip
Zur Schaffung eines Binnenmarktes für Dienstleistungen schlägt die EU-Kommission eine einfache Methode vor: Sie verzichtet auf eine Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften und setzt stattdessen auf das Herkunftslandprinzip, um einen möglichst ungehinderten Wettbewerb durchzusetzen. Dieses Prinzip besagt, dass ein Dienstleistungsanbieter in der gesamten EU seine Dienste nach dem Recht seines Herkunftslandes anbietet.
(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Dienstleistungserbringer lediglich den Bestimmungen ihres Herkunftsmitgliedstaats unterstehen, die vom koordinierten Bereich erfasst sind.
Unter Absatz 1 fallen die nationalen Bestimmungen betreffend die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit, die insbesondere das Verhalten des Dienstleistungserbringers, die Qualität oder den Inhalt der Dienstleistung, die Werbung, die Verträge und die Haftung des Dienstleistungserbringers regeln.”
Art. 16 (1) Richtlinienentwurf
Die Gesetze des Landes, in dem die Dienstleistung erbracht wird, werden durch die Vorschriften des Herkunftslandes weitgehend verdrängt. Damit wird das bislang gültige Bestimmungslandprinzip durch das Herkunftslandprinzip ausgehebelt. Das hätte zur Folge, dass 25 verschiedene Rechtssysteme zugleich in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU gelten, ein rechtliches Chaos wäre unvermeidbar. Entgegen der weitverbreiteten Meinung ist der Verbraucherschutz hiervon sehr wohl betroffen. Die EU-Kommission möchte vehement das Herkunftslandprinzip durchsetzen , auf eine Regelung in Sachen Verbraucherschutz wird vorerst verzichtet. Es soll dann im “Bedarfsfall” nachreguliert werden.
Die Kontrolle
Konsequenterweise soll der Herkunftsstaat auch die Einhaltung der Vorschriften überwachen:
„Der Herkunftsmitgliedstaat ist dafür verantwortlich, den Dienstleistungserbringer und die von ihm erbrachten Dienstleistungen zu kontrollieren, einschließlich der Dienstleistungen, die er in einem anderen Mitgliedstaat erbringt.”
Art. 16 (2) Richtlinienentwurf
Damit wird den Behörden des Landes, in dem die Dienstleistung erbracht wird, auf dem eigenen Hoheitsgebiet die Möglichkeit genommen, gegen einen Anbieter aus einem anderen EU-Staat vorzugehen. Laut Beschluss des Bundesrates vom 02. April 2004 (Bundesratsdrucksache 128/04 [PDF – 560 KB] vom 02.04.2004) bietet der EU-Vertrag für diese Regelung keine Rechtsgrundlage.
Pro forma enthält der Richtlinienvorschlag zwar einige allgemein gehaltene Regeln für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Überwachung von Dienstleistungen. So sieht etwa Art. 34, Absatz 1 des Entwurfes vor:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei Fragen, die unter Artikel 16 fallen [das Herkunftslandprinzip], die in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Befugnisse zur Überwachung und Kontrolle des Dienstleistungserbringers hinsichtlich der betreffenden Tätigkeiten auch in dem Fall ausgeübt werden, wenn die Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat erbracht wird.”
Praktisch aber ist eine flächendeckende Kontrolle allein schon aufgrund beschränkter finanzieller und personeller Kapazitäten der Herkunftsländer nicht möglich. Warum sollte ein Herkunftsland überhaupt ein Interesse daran haben, die Tätigkeit einheimischer Dienstleistungsanbieter in einem anderen Land zu kontrollieren? Schließlich wirken sich deren ungehinderte Geschäfte doch positiv auf die eigene Außenhandelsbilanz und die eigenen Steuereinnahmen aus.
Durch das Herkunftslandprinzip ist eine Kontrolle mit vielen Hürden für das Tätigkeitsland verbunden und somit praktisch unmöglich gemacht. In Artikel 35 der Richtlinie ist zwar eine gegenseitige Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Kontrolle vorgesehen. Es soll eine Kontaktstelle eingerichtet werden die bei “schwerem Schaden” für einen gegenseitigen Informationsaustausch sorgt. Die Richtlinie gibt aber keinen weiteren Aufschluss darüber, wann ein sogenannter “schwerer Schaden” eingetreten ist, wie ein “Informationsaustausch” aussieht und wie dann rechtlich gegen einen Verstoß vorgegangen werden soll.
Überdies besteht ein Widerspruch zwischen dem Vorschlag und dem geltenden EU-Vertrag. Dort heißt es in Artikel 50, zum freien Dienstleistungsverkehr “kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt”.
Nach dem Richtlinienvorschlag würden ausländische Unternehmen dagegen unter vollkommen anderen Bedingungen tätig werden als einheimische Unternehmen.
Die Qualität der Dienstleistungen (Kapitel IV Art. 26-33)
Ausgesprochen kritisch ist auch Art. 31 (1) der Richtlinie zu sehen. Hier ist festgehalten, dass die Dienstleistungserbringer ermutigt werden sollen, freiwillig die Qualität ihrer erbrachten Dienstleistungen sicherzustellen.
Die Mitgliedstaaten ergreifen in Zusammenarbeit mit der Kommission begleitende Maßnahmen, um die Dienstleistungserbringer zu ermutigen, freiwillig die Qualität der Dienstleistungen sicherzustellen, …”
Art 31 (1) Richtlinienentwurf
Man braucht nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, wie freiwillige Qualitätskontrollen aussehen werden. Qualitätskontrollen sind kostenintensiv, und deshalb würden ohne Gesetzesregelung viele Anbieter gerne darauf verzichten, da es ihren Gewinn schmälert. Ganz gravierend würde sich eine freiwillige Kontrolle auf die Bereiche der Daseinsvorsorge (Leistungen der öffentlichen Hand) auswirken.
Die Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer (Kapitel II Richtlinienentwurf)
Neben dem Herkunftslandprinzip sind die Regelungen zur Niederlassungsfreiheit der zentrale Bestandteil des Kommissionsvorschlags. Das Herkunftslandprinzip regelt die Tätigkeit eines Dienstleistungserbringers in einem EU-Land, in dem er keine Niederlassung hat. Die Vorschriften zur Niederlassungsfreiheit betreffen das Recht, in jedem EU-Land eine Niederlassung zu errichten. Artikel 14 des Entwurfes verbietet den Mitgliedstaaten Beschränkungen dieses Rechtes:
Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit auf ihrem Hoheitsgebiet nicht von Anforderungen folgender Art abhängig machen:”
Zu diesen Anforderungen, die in Zukunft ein Staat nicht mehr an einen auf seinem Gebiet tätigen Dienstleistungserbringer stellen darf, gehört z.B. die Pflicht eine Hauptniederlassung zu errichten:
Beschränkungen der Wahlfreiheit des Dienstleistungserbringers zwischen einer Hauptniederlassung und einer Zweitniederlassung, insbesondere der Verpflichtung für den Dienstleistungserbringer, seine Hauptniederlassung auf ihrem Hoheitsgebiet zu unterhalten, oder Beschränkungen der Wahlfreiheit für eine Niederlassung in Form einer Agentur, einer Zweigstelle oder einer Tochtergesellschaft.”
Art. 14 (3)
Diese Regelung entfaltet ihre volle Wirkung in Kombination mit dem Herkunftslandprinzip. Sie gestattet die Errichtung von Niederlassungen irgendwelcher Art in der gesamten EU. Das Herkunftslandprinzip erlaubt es dann, von dieser Niederlassung aus EU-weit nach dem Recht des Landes tätig zu werden, in dem die Niederlassung errichtet wurde. Maßgeblich für die Anwendung des Herkunftslandprinzips soll nämlich nicht die Hauptniederlassung einer Firma sein, sondern diejenige Niederlassung, von der aus die Dienstleistung tatsächlich erbracht wird.
Somit wird die Möglichkeit eröffnet, Niederlassungen – etwa eine „Agentur” – in Staaten zu errichten, in denen für die Erbringung von Dienstleistungen niedrige Arbeits- und Gesundheitsstandards, Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen oder auch Umweltstandards gelten. Von dort aus kann das Unternehmen in jedem anderen Mitgliedstaat tätig werden. Wenn die Dienstleistungsfirma dort keine eigene Niederlassung besitzt, gilt das Herkunftslandprinzip und somit die Standards der Zweigniederlassung, die zur Umgehung strengerer Vorschriften errichtet wurde.
Die Regelung der Niederlassungsfreiheit bedeutet im Klartext, dass sich ein Unternehmen in einem EU-Mitgliedstaat niederlassen kann, der sehr niedrige Standards in den o.a. Bereichen verlangt, und von dort aus in anderen EU-Mitgliedstaaten als Dienstleistungserbringer tätig werden kann. Es ist anzunehmen, dass eine Schnäppchenjagd auf niedrige Standards und eine Lawine von Sitzverlagerungen der Unternehmen in EU-Mitgliedstaaten mit niedrigen Standards die Folge sein werden. Übrigens ist die Schaffung eines einheitlichen europäischen Registers erst gar nicht vorgesehen.
Des Weiteren soll es den Staaten verboten werden, Dienstleistungsunternehmen für deren Niederlassung die Verpflichtung aufzuerlegen, „eine finanzielle Sicherheit zu stellen oder sich daran zu beteiligen oder eine Versicherung bei ihrem Dienstleistungserbringer oder einer Einrichtung, die auf ihrem Hoheitsgebiet niedergelassen sind, abzuschließen” (Art 14 (7) Richtlinienentwurf).
Außerdem dürfen die Mitgliedstaaten nicht verlangen, „während eines bestimmten Zeitraums in den auf ihrem Hoheitsgebiet geführten Registern eingetragen gewesen zu sein oder die Tätigkeit während eines bestimmten Zeitraums auf ihrem Hoheitsgebiet ausgeübt zu haben” (Art 14 (8) Richtlinienentwurf).
Im Handelsregister in Deutschland sind Vollkaufleute eingetragen, die ein Handelsgewerbe im Sinne des HGB (Handelsgesetzbuchs) betreiben. Im Handelsregister Abt. A werden Kapitalgesellschaften wie GmbH oder AG eingetragen, im Handelsregister Abt. B Personengesellschaften wie Kommanditgesellschaften (KG) oder GmbH & Co. KG und offene Handelsgesellschaften (oHG). Die Eintragung ins Handelsregister hat durchaus einen Sinn. Hier werden z.B. der Name des Inhabers, Ansässigkeit und Firmensitz, Art des Gewerbebetriebes, die Filialen, Vergleichsverfahren geführt und es erfolgt die Löschung durch Konkurs oder Liquidation. Außerdem werden auch Veränderungen des Firmensitzes, von Vertretungsbefugnissen oder der Gesellschafterstruktur im Handelsregister erfasst. Dies schafft Transparenz im Hinblick auf das interne Firmengeschehen. Firmenverflechtungen sind nur durch Eintragungen ins Handelsregister leicht nachvollziehbar. Wenn die Eintragung ins Handelsregister wegfällt, ist folglich eine Kontrolle erheblich erschwert und Transparenz nicht mehr gegeben, insbesondere dann, wenn es sich um eine ausländische Firma handelt.
Schließlich sieht der Entwurf ein Verfahren zur Überprüfung bisher geltender Regelungen für die Niederlassung von Dienstleistungsunternehmen in den Mitgliedstaaten vor. Diese müssen prüfen, ob Vorschriften nicht diskriminieren, notwendig und verhältnismäßig sind (Art 15 (3) Richtlinienentwurf). Das betrifft zum Beispiel Gesetze zur Mindestkapitalausstattung, die in Bezug auf Insolvenzverfahren und Haftungsansprüche eine wichtige Rolle spielen. Hier wird also offenbar nicht nur das Ziel der Gleichbehandlung der Dienstleistungserbringer in der EU verfolgt, sondern alle Vorschriften für Unternehmen sollen auf den Prüfstand gestellt werden.
Geltungsbereich
Unter den Begriff Dienstleistung im Sinne der Richtlinie fallen “alle selbständigen, wirtschaftlichen Tätigkeiten”, die in der Regel gegen Entgeld erbracht werden. Entscheidend ist demnach das vom EuGH entwickelte Kriterium des Entgelts (Rechtssachen 352/85 vom 26. April 1988 (Bond van Adverteerders), Rn. 16; 263/86 vom 27. September 1988 (Humbel), Rn. 17 und C-157/99 [Quelle] vom 12. Juli 2001 (Smits und Peerbooms), Rn. 57). Entgeld ist jede wirtschaftliche Gegenleistung für eine erbrachte Dienstleistung. Unerheblich ist es dabei, wie die Dienstleistung finanziert wird, ob privat oder durch öffentliche Gelder. Insbesondere spielt es keine Rolle, ob die Dienstleistung von demjenigen bezahlt wird, dem sie zugute kommt.
Wir müssen, wie wir wissen, um die Dienste öffentlicher Einrichtungen in Anspruch nehmen zu können, in vielen Bereichen ein Entgeld entrichten, beispielsweise beim Büchereibesuch oder Museums- bzw. Theatereintritt, in Kindergärten oder Volkshochschulen. Ein Großteil dieser Leistungen ist nach dem Entgeldkriterium der Richtlinie als wirtschaftliche Tätigkeiten zu betrachten. Der sogenannte “nichtmarktbestimmte” Charakter dieser Tätigkeiten wird aber von der Kommission angezweifelt und müsste nach dem geltenden Dienstleistungsbegriff der Richtlinie ebenfalls in deren Geltungsbereich fallen. Vollkommen ausgenommen wären demnach nur noch Leistungen, die komplett über Spenden finanziert werden, so z. B. die Leistungen von Vereinen. Hoheitliche Aufgaben wie Militär, Gefängnisse fallen ebenfalls eindeutig nicht unter die Richtlinie. Von besonderem Interesse sind gerade die Tätigkeitsbereiche, aus denen der Staat sich immer mehr zurückzieht, obwohl es eigentlich seine Aufgabe wäre, eine erschwingliche Grundversorgung für alle Bürger sicherzustellen. Werden solche Leistungen kommerzialisiert, beispielsweise indem ein Entgelt erhoben wird, unterliegen sie der Dienstleistungsrichtlinie. Deren Geltungsbereich ist weit gefasst – zumindest wird durch den Verzicht auf eine genaue Bestimmung des Dienstleistungsbegriffs ein großer Spielraum für Interpretationen eröffnet. So bleiben auch die Bereiche der öffentliche Daseinsvorsorge nicht verschont und sind Gegenstand der vorgeschlagenen Regelung.
Artikel 17 enthält eine Liste einiger Bereiche, auf die speziell das Herkunftslandprinzip keine Anwendung finden soll. Dazu gehören insbesondere Dienstleistungssektoren, deren Liberalisierung bereits von speziellen (sektoralen) Richtlinien geregelt ist, wie etwa Postdienste und Energieversorgung. Darüber hinaus sind beispielsweise auch für die Wasserversorgung und Notardienste Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip vorgesehen sowie für eine ganze Reihe weiterer, zum Teil sehr spezieller und bereits in anderen EU-Normen geregelter Angelegenheiten.
Dieser Ausnahmenkatalog war einer der Hauptgegenstände der bisherigen politischen Auseinandersetzung um den Richtlinienentwurf. Das kann man bereits daran sehen, dass der Europäische Rat in seiner konsolidierten Fassung des Richtlinienvorschlags in diesem Artikel zahlreiche Änderungen vorgenommen hat (Interinstitutionelles Dossier 2004/2001 (COD) [PDF – 424 KB], 5161/05 vom 10.01.2005).
Europäische Integration als Wettlauf um die niedrigsten Standards
Mit der Dienstleistungsrichtlinie verzichtet die Europäische Kommission auf die EU-weite Harmonisierung der Vorschriften in diesem Bereich. Insbesondere durch das Herkunftslandprinzip würde kein gleicher und EU-einheitlicher Regelungsrahmen für die Dienstleistungserbringer geschaffen. Vielmehr würden Anbieter aus Ländern mit niedrigeren Anforderungen einen massiven Wettbewerbsvorteil gegenüber Anbietern aus Ländern mit hohen Anforderungen erhalten. Die Richtlinie würde zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen und zu einem Unterbietungswettlauf um die laschesten Vorschriften führen. Das gewollte und erklärte Ziel der Kommission ist es, diese Art Wettbewerb zu forcieren, damit weitgehend Vorschriften und bürokratische Hindernisse abgebaut werden. Sie gelten unter Unternehmern in der EU als Hindernisse für die wirtschaftliche Entwicklung und müssen deshalb verschwinden.
Auch und gerade eine verlässlich funktionierende Marktwirtschaft bedarf eines rechtlichen Rahmens, damit soziale, ökologische und rechtliche Standards eingehalten werden. Auf diese Weise ist eine Sicherheit auf dem Dienstleistungsmarkt gegeben, die wiederum eine vertrauensvolle Basis zwischen Dienstleistungsanbieter und -empfänger schafft. In einem fairen Wettbewerb sollten hohe Qualität, Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz, Umweltschutz und sozialer Schutz angestrebt und realisiert werden.
Die europäische Politik verabschiedet sich von diesem Anspruch, indem sie den rechtlichen Rahmen selbst dem wirtschaftlichen Wettbewerb auf dem Markt unterwirft. Absurd ist dieses marktfundamentalistische Vorgehen deshalb, weil die gesetzlichen Vorschriften ja gerade bestimmten Zielen dienen sollen, deren Verwirklichung der Markt allein nicht gewährleisten kann. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Gesetze zum Arbeits-, Verbraucher- oder Umweltschutz überhaupt zu erlassen, wenn sich solche Dinge in der Marktwirtschaft von selbst regeln würden. In jedem Mitgliedstaat der EU gibt es für die Erbringung von Dienstleistungen einen rechtlichen Rahmen. Die Vorschriften sind natürlich von Land zu Land verschieden – mal strenger mal weniger streng (und manchmal sicherlich auch mehr oder weniger sinnvoll). Einige Länder legen mehr Wert auf den Schutz von Verbrauchern, andere Länder haben besonders weitgehende Regelungen zum Arbeitsschutz. Statt nun aber nach dem Sinn und der Berechtigung einzelner Vorschriften zu fragen, sollen sie pauschal dem Wettbewerb auf einem liberalisierten, EU-weiten Binnenmarkt ausgesetzt werden. Wenn die Dienstleistungsrichtlinie alle nationalen Gesetze zu Regulierung von Dienstleistungen prinzipiell als gleichwertig ansieht und dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb aussetzt, werden sich am Ende europaweit notwendig diejenigen Vorschriften durchsetzen, die der wirtschaftlichen Betätigung am wenigsten Schranken auferlegen.
Die Kommission behauptet zwar, die Richtlinie verpflichte die Mitgliedstaaten nicht zu Liberalisierung oder gar Privatisierung von Dienstleistungen. Das ist zwar formal richtig, da der Richtlinienentwurf keine Vorschriften enthält, die direkt solche Maßnahmen vorsehen. Indirekt würde die Richtlinie aber dazu beitragen, die Liberalisierung insbesondere bisher öffentlich erbrachter Dienstleistungen weiter voranzutreiben. Sie erhöht den Wettbewerbsdruck auf öffentliche Dienstleister, indem sie einen EU-weiten Markt schafft. Und damit verfolgt die Richtlinie eben doch das Ziel der möglichst weit gehenden Liberalisierung nahezu des gesamten Dienstleistungssektors.
Letztlich verstößt dieses Vorgehen auch gegen die Demokratie. Der EU-Bürger kann bei Wahlen nun nicht einmal mehr theoretisch über die Verbraucher- oder Umweltschutzvorschriften entscheiden, von denen er direkt betroffen ist. Nach welchen Regeln die auf dem Markt auftretenden Anbieter von Dienstleistungen tätig werden, darüber entscheidet nun ein allein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten funktionierender Wettbewerb auf dem EU-weiten Binnenmarkt. Solange dieser grundsätzliche Fehler in der Gestaltung des Binnenmarktes nicht ausgeräumt wird, hilft es nichts, einzelne Bereiche aus dem Entwurf für eine Dienstleistungsrichtlinie herauszunehmen.
Ein fairer Wettbewerb in der Europäischen Union kann nur dann gegeben sein, wenn statt des Herkunftslandprinzips eine Harmonisierung auf hohem Niveau im Dienstleistungsbereich angestrebt wird. Nur ein hinreichend breiter Kernbestand an einheitlichen, hochwertigen EU-Regelungen kann als EU-einheitliche Lösung akzeptiert werden. Jacques Chirac und Gerhard Schröder haben sich getroffen und über das Thema Dienstleistungsrichtlinie beraten. Es ist anzunehmen, dass der Entwurf, so wie er jetzt ist, wegen seiner offensichtlichen Schwachstellen abgelehnt wird (Süddeutsche Zeitung, 3. März 2005). Das bedeutet aber keinesfalls dass das Thema der Lissabon-Strategie, “Europa zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen”, vom Tisch ist. Das Interesse der Unternehmen am Dienstleistungsmarkt, ihr Druck und der Druck der Lobbyisten in Brüssel ist enorm, da vom Richtlinienentwurf etwa 50% der gesamten Wirtschaftstätigkeit in der Europäischen Union betroffen sind. Diese Zahl unterstreicht die Bedeutung des Entwurfes. In absehbarer Zeit wird es ein neues Papier der EU-Kommission geben. Es wird wahrscheinlich einen anderen Namen tragen und mit Sicherheit viele Punkte enthalten, die öffentlich gemacht und diskutiert werden müssen. Brüssel scheint weit weg zu sein, es ist aber näher als wir ahnen, denn die Auswirkungen der Gesetzgebung bekommen wir Bürger direkt zu spüren. Das Thema EU geht uns alle an, da es jeden einzelnen Bürger der Europäischen Union betrifft. Für uns Bürger der EU-Mitgliedstaaten ist es somit wichtig, am Ball zu bleiben und die Entwicklung weiterhin kritisch zu beobachten, nur dann können wir unsere Lebensqualität sichern und verbessern.