Bundespräsident a.D. Horst Köhler – Ohne Amt mehr Verstand
„Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand“, so lautet ein Sprichwort, das der große deutsche Geschichtsphilosoph Hegel einen „alten Scherz“ bezeichnet hat. Bei Horst Köhler scheint es umgekehrt zu sein. Ohne Amt zeigt er mehr Verstand als in seinen früheren Ämtern, etwa als Finanzstaatssekretär und Sherpa von Bundeskanzler Kohl auf Wirtschaftsgipfeln, als Direktor des IWF und zuletzt als Bundespräsident. In allen diesen Ämtern war er ein Wegbereiter und eifriger Propagandist der neoliberalen Ideologie.
Gehört Köhler, nun, da er außer Amt ist, zu den Konservativen wie Charles Moore oder Frank Schirrmacher, die zu glauben beginnen, dass die Linke doch Recht hat?
In einer Rede, gar noch vor dem Mitglieder-Forum einer Volksbank schlug er ganz andere Töne an als in seinen früheren Ämtern [PDF der Rede – 113 KB]. Von Wolfgang Lieb
Wir haben auf den NachDenkSeiten oft genug den Bundespräsidenten Horst Köhler wegen seiner politischen Haltung kritisiert. Schon in Zeiten der Großen Koalition haben wir ihn als „schwarz-gelben Präsidenten“ und als einen „Parteigänger der neoliberalen ´Reformer`“ eingeordnet, dem die Agenda-„Reformen“ gar nicht weit genug gehen konnten.
Ist Horst Köhler nach seinem Rücktritt vom Amt vom Saulus zum Paulus geworden? Ist er eines Besseren belehrt worden?
In früheren Zeiten wäre ihm jedenfalls schon der Name nicht über die Lippen gekommen, es wäre geradezu so gewesen, als hätte er den Teufel angerufen. Aber jetzt: Köhler zitiert in der Einleitung seines Referat eine leibhaftige Sozialistin, Sahra Wagenknecht:
„In der ersten Ausgabe des Heftes DER SPIEGEL in diesem Jahr reklamiert Frau Wagenknecht von der Partei “Die Linke” das Ideengut des Ordoliberalismus. Sie wissen: Das Stichwort Ordoliberalismus benennt Erkenntnisse, die in der Politik von Ludwig Erhard ein zentrales Rüstzeug für die Soziale Marktwirtschaft waren. Frau Wagenknecht verknüpft dieses Ideengut nun mit Forderungen nach einer radikalen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Wende. Sie sagt Sätze wie: “Der damalige Neoliberalismus war das Gegenteil des stumpfsinnigen Glaubens an den Segen deregulierter Märkte, den man heute mit diesem Begriff verknüpft. Ökonomen wie Wilhelm Röpke, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack waren überzeugt, dass der Markt nicht alles richten kann, der Staat muss die Regeln und den Ordnungsrahmen setzen.” Ich glaube, die meisten von uns teilen diese Überzeugung.“
Dann beklagt Köhler die Lobbyarbeit der Banken und die Zerstörung, die von den Finanzmärkten auf Wohlstand und Demokratie ausgehe:
„Nun, zehn Tage nach dem Interview von Frau Wagenknecht hieß es im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift “Bankenaufseher knicken ein”, die in Basel verhandelten Standards zur Regulierung der Kreditwirtschaft würden dank erfolgreicher Lobbyarbeit der Banken zusehends verwässert und aufgeweicht…
Die Zerstörung, die von den Finanzmärkten ausgegangen ist und weiter auszugehen droht, wenn das Ziel einer wirksameren Regulierung verfehlt wird, sie bedroht die künftige Prosperität des Westens und seine demokratische Legitimität.“
Köhler, der noch zu Beginn seiner Amtszeit als Bundespräsident das hohe Lied auf „die Märkte“ gesungen hat, wird plötzlich zum fundamentalen Kritiker der herrschenden „Theorie“. Vielleicht stimmt ja F.W. Bernsteins Spruch doch: „Die schärfsten Kritiker der Elche, waren früher selber welche“:
„Wir leben aber möglicherweise nicht zuletzt deshalb heute in so unruhig-interessanten Zeiten, weil wir die vergangenen zehn, zwanzig Jahre ohne die Sehhilfe der Theorie verbracht haben oder mit den falschen Theorien, zum Beispiel mit der Theorie, dass man die Märkte und besonders den Finanzmarkt am besten sich selbst überlasse, weil der freie Wettbewerb und die ökonomische Rationalität der Marktteilnehmer schon für ausreichende Transparenz und Kontrolle sorgen würden…“
Der Altbundespräsident kritisiert die „Sonderinteressengruppen“, die nur ein größeres Stück vom Kuchen abhaben wollen und die den Staat zum Diener ihrer Interessen machen:
„Kleine Sonderinteressengruppen bilden sich leicht und sind aktiv, weil ihre Mitglieder dafür starke ökonomische Anreize haben. Das Handeln von Sonderinteressengruppen vermindert das gesellschaftliche Gesamteinkommen, weil solche Gruppen vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht sind und diesen Vorteil auch dann verfolgen, wenn er gesamtgesellschaftlich hohe Kosten verursacht. Sie streben nicht danach, die gesamte Gesellschaft produktiver zu machen – das rechnet sich nicht, weil die Anstrengung die Gruppe zu viel kosten würde und der Anteil der Gruppe an einer produktiveren Gesamtgesellschaft verschwindend gering wäre – sondern diese Gruppen streben danach, exklusiv für ihre Mitglieder einen größeren Anteil an der Produktion der Gesellschaft zu erlangen. Ihre zentrale Absicht ist es also nicht, den Kuchen zu vergrößern, sie wollen “nur” ein größeres Stück davon. Sie suchen dafür häufig eine Symbiose mit den Inhabern der politischen Macht – man trifft sich in der Parlamentslobby, und nicht nur dort. Sie nutzen die Komplexität und Unübersichtlichkeit unserer modernen Lebensverhältnisse, um zum Beispiel im Regelungsdickicht ihre Sonderinteressen zu verfolgen oder gar selber an der staatlichen Regulierung mitzuwirken, wie das derzeit ja auch die Banken und die großen Wirtschaftskanzleien tun. Ihre Lobby-Tätigkeit erhöht die Komplexität der Regulierung, verringert aber nicht unbedingt die Zahl der Schlupflöcher und Umgehungsmöglichkeiten.“
Er beklagt die Ohnmacht der Bürger und das Versagen der Medien:
„Die special interest groups nutzen außerdem den Umstand aus, dass es für die Masse der “Normalbürger” ökonomisch rational ist, sich wenig über politische und öffentliche Angelegenheiten zu informieren und wenig über sie nachzudenken. Denn selbst wenn sie das unter beträchtlichem Zeitaufwand täten, könnten sie als relativ schwache einzelne an den herrschenden Verhältnissen selbst bei größter Anstrengung kaum etwas ändern; und selbst wenn ihnen das doch gelänge, dann würden sie von verbesserten allgemeinen Verhältnissen als einzelne nur wenig profitieren. Also verharrt die breite Mehrheit der Bürger in “rationaler Ignoranz”, … und also haben wir auch zu wichtigen politischen Fragen Medien, die mehr der Unterhaltung dienen als der Information…
Sonderinteressengruppen müssen nicht besonders sichtbar organisiert sein, mit Wappen am Sakko und Stammtischglocke. Man kennt sich, man hilft sich, das reicht…“
Köhler beschreibt die Zerstörungskraft und das kriminelle Zusammenspiel der Akteure auf den Finanzmärkten sowie den „Drehtüreffekt“ zu Lasten der Nationen und der Allgemeinheit:
„Wenn wir die Banken-, Finanz-, und Staatsschuldenkrise mit dem Instrumentarium untersuchen, das uns Schumpeter, Olson, Acemoglu und Robinson an die Hand geben, dann ergibt sich so etwas wie ein Anfangsverdacht. Er lautet: Auf den Finanzmärkten und in ihrem rechtlichen und politischen Umfeld sind zulasten der Nationen und zum Nutzen einer kleinen Oligarchie extraktive Institutionen aufgebaut worden.
Eine vergleichsweise kleine Sonderinteressengruppe, die Akteure auf den internationalen Finanzmärkten nämlich und im Besonderen die Gruppe der sogenannten Investmentbanker, hat in der Bankenwelt, im Finanzsystem und in der Weltwirtschaft auf jede von Schumpeter vorausgesehene Art einen Schub der Zerstörung ausgelöst: (1) mit neuen Produkten in Gestalt der Finanzderivate, (2) mit neuen Produktionsmethoden dank Internet, komplexer mathematischer Modelle und Supercomputer, (3) durch die Erschließung neuer Absatzmärkte zum Beispiel in der Immobilienfinanzierung für Habenichtse, in der Spekulation mit Rohstoffen und durch den Absatz von Schrottpapieren beim dumb German money, (4) dank der Erschließung neuer Bezugsquellen, beispielsweise in Form von Regelungsarbitrage und von Wetten auf neuen Gebieten, vom Neuen Markt bis zu den emerging markets, und (5) schließlich durch den Aufbau einer mächtigen Interessenvereinigung mit Kartell- und Lobbycharakter in der Wall Street und in der City of London, die kollusiv zusammenwirkt – Beispiel Libor-Skandal -, die eine enge Symbiose und sogar eine massive Personalrotation mit dem politischen System einiger Staaten aufgebaut hat und die ihre Geschäftspraktiken dank staatlicher Deregulierung institutionalisieren konnte.
Der von der Finanzindustrie ausgelöste Schub an “kreativer Zerstörung” kam finanziell in allererster Linie den handelnden Individuen dieser Sonderinteressengruppe zugute. Sie haben Gehälter und Boni in obszöner Höhe und satte Dividenden eingestrichen und sind, als es dann krachte, der persönlichen Haftung für ihre Entscheidungen fast völlig entgangen. Dagegen hat die angerichtete Zerstörung die Produktivität der Nationen nicht in einem Maße gehoben, das diese “Pioniergewinne” der Finanzindustrie rechtfertigen könnte, im Gegenteil: Wir erkennen mittlerweile, wie teuer die Zerstörung durch finanzielle weapons of mass destruction (Warren Buffett) unsere Nationen zu stehen kommt…“
Köhler kritisiert die Entwicklung zur „marktkonformen Demokratie“:
„Die von den Finanzmarktakteuren angerichtete Zerstörung belastet die Allgemeinheit durch öffentliche Schulden, wirtschaftlichen Abschwung und Arbeitslosigkeit. Den Sparern droht finanzielle Repression. Das demokratische System verändert sich durch die Entscheidungszwänge des Krisenmanagements, es tendiert zur Schließung, zur Verlagerung der Entscheidungen in zentralisierte, wenig transparente, exekutiv dominierte Gremien, auch wenn die Parlamente und Verfassungsgerichte sich dem erfreulicherweise entgegenstemmen und dabei Erfolge vorweisen können…
Das angelsächsische Modell des Finanzkapitalismus hat, zumindest in den USA und in Großbritannien, auch einen Wandel in der gesellschaftlichen Entwicklungsrichtung bewirkt, weg von der Industrieproduktion, hin zur Finanzindustrie, die mit anderer Leute Geld spekuliert und dafür “Gebühren” nimmt…“
Köhler geißelt den politischen Einfluss und die Meinungsmacht der Finanzindustrie:
„Aber täuschen wir uns nicht: Jeder Versuch, Oligarchien von ihren extraktiven Positionen zu vertreiben, wird Widerstand auslösen, von gespielter Zerknirschung und zur Schau getragener Demut bis zum Versuch, in jeder nur denkbaren Weise eine ordnungspolitisch wirksame Gesetzgebung zu hintertreiben. Dafür gibt die Finanzindustrie dem Vernehmen nach längst Hunderte Millionen Euro jährlich aus…“
Köhler erkennt den Vertrauensverlust für die Demokratie:
„Wenn der skizzierte Anfangsverdacht zutrifft und die tiefgreifende Fehlentwicklung auf den westlichen Finanzmärkten nicht radikal korrigiert wird, dann könnte das unsere Nationen dauerhaft Prosperität und wirtschaftliche und politische Freiheit kosten und dann könnte das ein Beitrag zum Niedergang des Westens sein…
Es geht also im Gefolge der Krise auch darum, unsere inklusiven politischen und wirtschaftlichen Institutionen zu verteidigen gegen mächtige Sonderinteressen und unsere Institutionen gerade dadurch zu bewähren und zu stärken, dass diese Sonderinteressen wirksam gezügelt werden, dass ihnen wirksame Grenzen gesetzt werden. Sonst leidet unsere Prosperität, sonst werden ungezählte weitere Bürgerinnen und Bürger für die angerichtete Zerstörung und für extraktive Strukturen mit individueller Perspektivlosigkeit und mit dem Gefühl politischer Ohnmacht zahlen, und sonst verlieren unsere demokratischen und marktwirtschaftlichen Institutionen an Macht, Vertrauen und Legitimität…“
Köhler fordert mehr direkte Demokratie:
„Das heißt: Frau Wagenknecht hat Recht, wenn sie unsere Zeit als eine historische Stunde für bessere Ordnungspolitik begreift. Und die Schweizer geben uns ein Beispiel dafür, wie sich mit einer griffigen Kampagne die rationale Ignoranz der Allgemeinheit hinsichtlich der komplexen Fragen des wirtschaftlichen und politischen Lebens überwinden lässt und wie Elemente direkter Demokratie die Responsivität des politischen System verbessern und ihm “indirekte Gegenvorschläge” entlocken. Die Krise sollte uns Anlass sein, die Vitalität unserer parteienstaatlichen Demokratie zu prüfen und nach Wegen zu suchen, den Einfluss der Bürger auf politische Entscheidungen zu stärken, auch um ihr bürgerschaftliches Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten zu beleben und den Fatalismus zu bekämpfen, der bei den Wählern um sich greift. Das gilt für Deutschland, und das gilt für die demokratische Dimension der Europäischen Union…“
Lob der Linken aus dem Mund eines Konservativen:
„Es geht nicht um Charakterfragen, wenn der Einfluss von Sonderinteressengruppen bekämpft wird, sondern um Ordnungspolitik, die einer Gruppe den ökonomischen Anreiz dafür nimmt, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern. Deshalb geht es auch nicht darum, einzelne schwarze Schafe in der Interessengruppe auszusondern. Es geht darum, von bestimmten Weideflächen die ganze Herde auszusperren…
Die Zähmung des Finanzkapitalismus ist für die freiheitlichen Demokratien und für ihre künftige Prosperität eine Wegscheide. Welchen Pfad wir nehmen, wird zeigen und wird prägen, wie gut unser politisches System und wie gut wir alle mit krisenhaften Herausforderungen umgehen können. Was wir brauchen, ist eine breite Koalition für die nötigen ordnungspolitischen Veränderungen…
Wir sollten uns darüber freuen, dass aktuelle Studien wie Why nations fail die Ideen und die politische Praxis des deutschen Ordoliberalismus so eindrucksvoll bestätigen. Und wir sollten es nicht allein der Partei “Die Linke” überlassen, dieses Erbe zu erwerben, um es zu besitzen.“
Zugegeben, schon auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise bezeichnete Köhler die Finanzmärkte als „Monster“. Er übte z.B. massive Kritik an den Beschlüssen des Weltfinanzgipfels von Pittsburg im Jahre 2009: „Ich sehe das „Monster“ noch nicht auf dem Weg der Zähmung“.
Vielleicht dachte er ja schon damals so, wie er heute redet und das Amt hatte ihm nur Fesseln angelegt. Möglicherweise war die Finanzkrise sein „Damaskuserlebnis“, das ihm ganz neue Erkenntnisse vermittelte und ihn von einem Getriebenen der Finanzmärkte zu ihrem scharfen Kritiker bekehrte. Dessen Kritik aber von Politik und Medien nicht der ihr gebührende „Respekt“ entgegengebracht wurde. Das wäre zumindest eine plausible Erklärung für seinen damaligen, für die meisten unverständlichen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten.
Ohne das Amt besteht an solchen kritischen Reden allerdings kein öffentliches Interesse mehr, mögen sie auch zutreffender sein, als die meisten Ansprachen die Köhler im Amt gehalten hat und für die er den Applaus der Eliten erhielt. Apostelgeschichten gibt es eben nur in der Bibel.
Man kann den Finanzmarktkapitalismus natürlich auch aus noch ganz anderer Perspektive kritisieren als vom Standpunkt des deutschen Ordoliberalismus oder aus Joseph Schumpeters Sicht des „schöpferischen Unternehmers“. Aber gemessen am heutigen Buhlen der Politik „um das Vertrauen der Märkte“ wäre die Besinnung auf die wirklichen Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft oder die schumpetersche Unterscheidung zwischen dem „Arbitrage-Unternehmern“ und den „schöpferischen Unternehmer“ schon ein großer Gewinn.