Eine „Schmalspur“-Theorie des „Aufschwungs“ für die Neuen Bundesländer
Unter der Überschrift „Ostdeutschland vor der wirtschaftlichen Renaissance?“ erschien vor Kurzem eine Studie von Frank Bickenbach und Eckhardt Bode, Ökonomen am Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Die Autoren argumentieren gegen die weit verbreitete These, dass sich nach 20 Jahren der deutschen Vereinigung das Ost-West-Gefälle in Deutschland verhärtet habe, ja dass das Gefälle sogar zunehme.
Aus der Sicht einer neuen ökonomischen Geographie (NEG) seien – so die beiden Autoren – die Perspektiven Ostdeutschlands dagegen gar nicht so düster. Jüngere theoretische Ansätze legten im Lichte der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland nahe, dass Ostdeutschland die wirtschaftliche Talsohle mittlerweile erreicht habe und in Zukunft wieder an Wirtschaftskraft gegenüber Westdeutschland gewinnen werde. Karl Mai[*] lieferte uns dazu einen Kurzkommentar.
Die Popularisierung einer „Neuen ökonomischen Geografie“ (engl.: NEG) zwecks einer neuen Konstruktion eines „Aufschwungs“ der Neuen Bundesländer (NBL) muss auf Skepsis, ja sogar Ablehnung stoßen – auch wenn sie deutschlandpolitisch durchaus willkommen wäre.
Die schwache oder unzureichende methodologische Grundlage dieser interpretierenden Theorie-Konzeption lässt zu viele wirkungsmächtige Faktoren der ostdeutschen Gesamtrealität außer Betracht und wir daher m.E. nur eine zeitbegrenzte Propaganda-Nutzenfunktion erreichen können. Die Popularisierer dieser Lesart der Entwicklung der NBL sind sich ihrer Sache auch durchaus nicht sicher, was man der folgenden Formulierung entnehmen kann: Durch „einen Abbau der staatlichen Transfers nach Ostdeutschland […] könnte die Westmigration wieder etwas zunehmen, wenn der weitere Fall der Mauer in den Köpfen […] die Migrationsneigung erhöht.“ Hier schimmert eine erkennbare Neigung von NEG-Theoretikern durch, die Stimmung in der NBL-Wohnbevölkerung für die Migration verantwortlich zu machen – also vorwiegend psychologische Faktoren.
Auf welche Indikatoren stützt sich diese neue NEG? Dies sind vordergründig das instabile Verhältnis von „Agglomeration“ und „Dispersion“ der Wohnbevölkerung. Darunter werden die Prozesse von „Zusammenballung/Verdichtung“ sowie „Verdünnung/Zerstreuung“ im geografischen Raum verstanden. Diese Prozesse stellen jedoch im Grunde nur die Folgewirkungen oder Begleitumstände der regionalökonomischen Labilität dar.
Die NEG löst sich damit von der primären ökonomischen Realität in den NBL ab und orientiert sich auf die indirekte Umschreibung von „Agglomeration“ und „Dispersion“ einer neuen Forschungsrichtung. „Aus der Sicht der neuen ökonomischen Geographie (NEG) sind die Perspektiven Ostdeutschlands dagegen gar nicht so düster (Bickenbach und Bode 2013). Jüngere theoretische Ansätze legen im Lichte der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland nahe, dass Ostdeutschland die wirtschaftliche Talsohle mittlerweile erreicht hat und in Zukunft wieder an Wirtschaftskraft gegenüber Westdeutschland gewinnen wird.“ (Hervorhebung von K.M.)
Diese Vision ist gewagt, wenn man die regionalgeografische Leistung der NBL an ihrem zukünftigen Anteil am gesamtdeutschen BIP bemisst. Dieser Anteil kann nur relativ steigen, wenn die absolute Stundenproduktivität in den NBL die westdeutsche absolute Stundenleistung in den vergleichbar großen Flächenländern andauernd wenigstens für die Zeitperiode eines hypothetischen (Wieder-)Anstiegs überholen könnte. Ein solcher empirischer Befund liegt jedoch z. Z. nicht vor und ist auch auf real-ökonomisch Sicht nicht prognostizierbar.
[«*] Karl Mai ist Diplomwirtschaftler in Halle an der Saale. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der ökonomischen Entwicklung der Neuen Bundesländer. 2012 hat er eine Sammlung seiner Streitschriften und Analysen der letzten 25 Jahren herausgegeben. „Ausgewählte Schriften“, veröffentlicht als Privatdruck im September 2012.