Neoliberale Meinungsmache – die alten, bösen Lieder wollen nicht verstummen
Wer geglaubt hat, die Zunft der neoliberalen Meinungsmacher hätte auch nur klitzekleine Lehren aus der fortwährenden Eurokrise gezogen, musste sich in den letzten Tagen wohl von der düsteren Realität eines Besseren belehren lassen. In einem sorgsam choreographierten Tremolo prasselte am Wochenende ein ganzer Gewitterregen mit neoliberalen Forderungen auf uns ein: Erhöhung des Renteneintrittsalters, Kombilöhne, Lockerung des Kündigungsschutzes, Aushöhlung der Renten- und Krankenversicherung und die Stärkung des Niedriglohnsektors. Die alten, bösen Lieder wurden nicht zu Grabe getragen, sondern erfreuen sich pünktlich zu Beginn des Wahlkampfs größter Vitalität. Und ihre Interpreten sind die altbekannten: Sowohl die Bertelsmann-Stiftung, das Institut zur Zukunft der Arbeit, das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut und die Initiative Neue Soziale Markwirtschaft stehen bereits mit frischen „Studien“ in den Startlöchern. Von Jens Berger
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Das Lied vom zu niedrigen Renteneintrittsalter
Es ist, als befände man sich in einer Zeitschleife. Die Bertelsmann-Stiftung prophezeit in einer aktuellen Studie die „Kernschmelze“ des Rentensystems und empfiehlt der Politik, das Renteneintrittsalter auf mindestens 69 Jahre zu erhöhen. Ins gleiche Horn blies am Wochenende Bernd Zimmermann vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA), der die Rente mit 70 für „unabdingbar“ hält. Man fühlt sich, als sei man in einer Zeitschleife gefangen, in der mit immer den gleichen, falschen Argumenten immer absurdere „Reformen“ gefordert werden.
War gestern die Rente mit 67 „unabdingbar“, ist es heute die Rente mit 70. Die immer gleichen, falschen Argumente wurden schon von Albrecht Müller in seinem 2004 erschienenen Buch „Die Reformlüge“ widerlegt und die dazugehörige Rubrik auf den NachDenkSeiten enthält mittlerweile dutzende Beiträge zum Thema. Das hat die Protagonisten für eine Rentenkürzung, die mit dem Begriff „Erhöhung des Renteneintrittsalters“ kaschiert wird, jedoch nicht beeindruckt. Schon in wenigen Jahren werden Bertelsmann, IZA und Co. sicher die Rente mit 75 mit exakt der gleichen Begründung für „unabdingbar“ halten und zur Agenda 2030 blasen. Da spielt es dann auch keine Rolle, dass die Rentenkassen momentan derart prall gefüllt sind, dass die schwarz-gelbe Koalition im kommenden Jahr die Rentenbeiträge senken will. Diejenigen, die stets die alten, bösen Lieder singen, waren schon immer jedem besseren Argument gegenüber verschlossen.
Das Lied vom schädlichen Mindestlohn
Die Rolle des Tenors im aktuellen Agenden-Chor nimmt heute der Wirtschaftsweise Christoph Schmidt ein. Neben einer Senkung der Renten plädiert der neoliberale Ökonom auch für eine weitere „Lockerung“ des Kündigungsschutzes und eine Senkung des Arbeitsgeberbeitrags zur gesetzlichen Krankenversicherung. Das sagt Schmidt natürlich nicht direkt, er spricht diplomatischer von einer „prozentualen Beteiligung der Patienten an den Kosten“, was schlussendlich jedoch auf ein und dasselbe hinausläuft.
Besonders angetan hat es Schmidt die Diskussion um den Mindestlohn, den er für eine „große Gefahr“ hält. Die alten, bösen Lieder, die immer gleiche alte Leier. Schon vor vier Jahren kommentierte einer unserer Leser in den Hinweisen des Tages einen Gastartikel von Schmidt zum selben Thema mit dem Satz: „Deutsche Neoliberale haben nichts Neues zu melden. Im besagten Artikel kann man wieder die ganze verstaubte Litanei der Immergestrigen lesen“. Dem ist wenig hinzuzufügen, außer das SPIEGEL Online diese verstaubte Litanei auch heute noch heute noch willig verbreitet und den Vorbeter dieser Litanei mit dem Prädikat „Top-Ökonom“ ausschmückt. Vor vier Jahren fragte sich Albrecht Müller – auch am Fallbeispiel Christoph Schmidt – auf den NachDenkSeiten, ob wir denn „ohne eine Art Kulturrevolution die Plage der herrschenden Ökonomen nicht loswerden“. Diese Frage muss man sich auch heute noch stellen und wahrscheinlich werden wir uns diese Frage auch noch in einigen Jahren stellen. Schmidt hat sich erwartungsgemäß als fakten- und lernresistent erwiesen und die „Journalisten“, die ihm stetig eine Bühne für seine Litaneien bieten, scheinen ebenfalls eine hartnäckige Plage zu sein. Auch wenn es heutzutage dutzende Studien aus der gesamten Welt gibt, die Schmidts Thesen zum Mindestlohn ad absurdum führen, besitzen solch neoliberale Meinungsmacher immer noch die Lufthoheit über den Stammtischen der selbsternannten Qualitätsmedien.
Das Lied von Subventionen für den Niedriglohnsektor
Und wenn der Chor einmal wieder die alten, bösen Lieder intoniert, dürfen natürlich auch nicht die wackeren Sängerknaben vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) und der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) fehlen. Die stimmten unisono am Wochenende wieder einmal ihr altbekanntes Klagelied an, nach dem Hartz-IV-Empfänger „kaum finanzielle Anreize“ hätten, die Erwerbslosigkeit zu verlassen. Von einem angemessenen Mindestlohn, der dieses vermeintliche Problem mit einem einzigen Handschlag aus der Welt schaffen würde, wollen die Totengräber der sozialen Marktwirtschaft freilich nichts wissen. Stattdessen schlagen sie – wie schon zig Male zuvor – Kombilöhne und Lohnsubventionen vor.
Der Steuerzahler soll also Arbeitgeber, die es nicht für nötig halten, ihren Mitarbeitern einen menschenwürdigen Lohn zu zahlen, auch noch bezuschussen? Diese Idee, die eigentlich jedem halbwegs Vernunftbegabten nur ein Kopfschütteln abringen sollte, hat Albrecht Müller auf den NachDenkSeiten bereits vor sieben Jahren entsprechend kommentiert. In der neoliberalen Meinungsmache scheint jedoch die Regel zu gelten: Je dümmer eine Idee ist, desto begeisterter wird sie von den Medien aufgenommen. Um die Flamme der ökonomischen Unvernunft nicht erlöschen zu lassen, haben HWWI und INSM nun eine weitere „Studie“ zu diesem Thema veröffentlicht. Muss man da gespannt sein? Nein, es wird der gleiche alte Wein in neuen Schläuchen sein. Die alten, bösen Lieder werden hierzulande wohl nie zu Grabe getragen werden.
Die alten, bösen Lieder,
Die Träume schlimm und arg,
Die laßt uns jetzt begraben,
Holt einen großen Sarg.
Heinrich Heine
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