William Baumol: Die Irrtümer der (Mainstream-)Ökonomen
Der inzwischen über 80jährige Princeton-Professor William J. Baumol, als Wettbewerbs- und Innovationsforscher ein weltbekannter Ökonom und mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen, hat radikal mit einigen Irrtümern seiner neoliberalen (Mainstram-)Kollegen in der Ökonomenzunft abgerechnet. (Siehe William J. Baumol: “Errors in economics and their consequences“ , in Social Research Vol. 72 (2005) No. 1, pp. 1-26) Ein Leser der NachDenkSeiten hat die wesentlichen Aussagen zusammengefasst und übersetzt.
Die Irrtümer der Ökonomen und ihre Folgen
William Baumol fordert mehr Bescheidenheit und Sorgfalt von seinen Ökonomenkollegen bei der Formulierung politischer Ratschläge. Denn die Befolgung falscher Ratschläge der Ökonomen kann in der Politik schweren Schaden für das Gemeinwohl verursachen und sehr gefährliche Konsequenzen haben. Jeder könne irren („anyone can err“), auch und gerade Ökonomen, die ihre Weisheiten aus den Implikationen der künstlichen Welt konstruierter und gemessen an der komplexen Realität oft sehr einfacher Modelle beziehen; genau das sei heute bei vielen Mainstram-Ökonomen wie auch den Laienökonomen in Politik und Öffentlichkeit der Fall. Nicht selten wären die Irrtümer der ökonomischen Spezialisten größer und gravierender als die des “Common Sense”.
Ökonomische Irrtümer, die (nur) Individuen schaden
Manchmal schädigen ökonomischer Irrtümer nur einzelne Individuen, wenngleich das für diese sehr schmerzliche Folgen haben kann. Baumols Beispiel sind hier private Investoren am Aktienmarkt, die auf den bestenfalls überflüssigen Rat von Anlageberatern und Finanzanalysten hören. Was die Aktienkurse betreffen, zeigten die statistischen Daten überdeutlich, dass die Kursentwicklungen sog. Zufallspfaden (random walks) folgten. Auch professionelle Aktienempfehlungen – sofern sie sich nicht unzulässigerweise auf Insiderwissen stützten – hätten sich deshalb als total unzuverlässig erwiesen. Die Kursverläufe an den Aktienbörsen seien auch für die bestinformierten und intelligentesten Analysten unvorhersehbar und blieben ein Glücksspiel. Genauso gut könne man ins Spielcasino gehen. Das wäre bei gleichem Risiko u.U. sogar billiger. Denn der Rat von Anlageberatern sei ja keineswegs kostenlos. Festzustellen sei auch, dass die Anlageempfehlungen der Anlageberater charakteristischerweise deren eigenen Unternehmen begünstigten, also eine zusätzliche systematische Verzerrung ins Spiel brächten. (Von Baumol so nicht gesagt, aber nahe liegend ist auch die Schlussfolgerung: Niemand kann seriös für private Vermögensbildung und Altersvorsorge durch Aktienanlagen eintreten, wenn er auf diese Risiken nicht hinweist.)
Schaden für die Gesellschaft durch ökonomischer Irrtümer: Der Fall der missverstandenen (antizyklischen) Finanzpolitik
Ökonomische Irrtümer können nicht nur Individuen schädigen, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes. Das Musterbeispiel hierfür ist nach Baumol der (Irr-)Glaube, Volkswirtschaften könnten aus Rezessionen und Depressionen mit ausgeglichenen Staatshaushalten bzw. auch bei Beseitigung des „Deficit Spending“ befreit werden. Zwar gebe es unter den Ökonomen heute keinen Konsens, dass antizyklische Finanzpolitik bzw. Deficit Spending auf die Dauer vernünftig sei, doch das ebenso populäre wie naive Argument, dass jegliche höhere Staatsverschuldung mit dem Weg der Weg in den Staatsbankrott gleichzusetzen wäre, lasse sich erst recht nicht halten. Vielmehr liegt hier eine „fallacy of composition“, ein Trugschluss der Verallgemeinerung einzelwirtschaftlicher Zusammenhänge auf die gesamtwirtschaftliche Ebene zugrunde (im deutschen Schrifttum auch als Kreislauf- bzw. Konkurrenzparadoxon oder Rationalitätsfalle geläufig). Die Annahme, dass eine Beziehung, die für ein Individuum gültig ist, auch für eine ganze Gruppe von Personen oder die Allgemeinheit gelten müsse, ist für die Volkswirtschaft irreführend. So lasse sich übrigens auch der Vorteil des freiwilligen Handels zwischen zwei rationalen Individuen nicht ohne weiteres für den Handel zwischen ganzen Volkswirtschaften unterstellen.
Beim Deficit Spending des Staates werde landläufig der Vergleich mit Individuen gezogen, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befänden und ihre Situation nur durch Ausgabenkürzungen wieder ins Lot bringen könnten. Doch eben das sei die „fallacy of composition“. Bei einem depressionsgeplagten Staatshaushalt, dessen Steuerreinahmen durch sinkende Einkommen zurückgingen und dessen soziale Ausgabenverpflichtungen gleichzeitig stiegen, würden Ausgabenkürzungen zwar von Politikern oft genauso als dringlich angesehen – doch das wäre in einer solchen Situation genau das falsche Rezept, wie seit der Keynesianischen Revolution in der Ökonomie klar sei. In der Rezession müssten die Staatsausgaben und die Staatsverschuldung erhöht werden, bis die konjunkturelle Arbeitslosigkeit besiegt ist. Ausgabenkürzungen des Staates wären erst am anderen Ende des Konjunkturzyklus, bei inflationären Tendenzen in der Hochkonjunktur sinnvoll. Bis dahin könne die Regierung die wirtschaftliche Lage durch Ausgabenerhöhungen ohne korrespondierende Steuererhöhungen verbessern, denn das schaffe Kaufkraft in den Händen der Allgemeinheit und damit höhere Nachfrage nach Gütern und Diensten. In einer depressiven gesamtwirtschaftlichen Lage sei alles, was die Nachfrage belebt, hilfreich, weil es dadurch zugleich Umsätze, Produktion und Beschäftigung steigert. Deficit Spending ist dann genau der richtige Stimulus für die wirtschaftliche Aktivität und eine Quelle zur Steigerung des Volkseinkommens. Dieser stimulierende Effekt hilft dann auch bei der Konsolidierung des Staatshaushaltes, indem er durch die steigenden Einkommen die Steuereinnahmen erhöht und die Ausgaben für die Arbeitslosigkeit senkt. Höhere Staatsschulden sind in diesem Zusammenhang eine Investition, die sich in der Zukunft durch ein höheres Nettoeinkommen und eine verbesserte Einnahme/Ausgabe-Situation des Staates ökonomisch rechnet. Unzureichende Staatsausgaben aufgrund des Konsolidierungsirrtums verschlimmern dagegen konjunkturelle Schwächephasen und verursachen – unnötigerweise – großen und breit verteilten Schaden durch steigende Arbeitslosigkeit, unterausgelastete Produktionskapazitäten, reduzierte Einkommen und Wohlstandsverluste.
Diese Lektion hätten aber weder heute alle Ökonomen gelernt noch wäre sie bis in die 1930er Jahre auch in den USA von vielen einschließlich Präsident Roosevelt verstanden worden. Prof. Baumol hält es für ein gerechtfertigte These, dass die Widerstände gegen die staatlichen Ausgabenprogramme in den USA vor und während des „New Deal“ die Große Depression verlängert und einen zweiten Abschwung bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ausgelöst haben.
Hart ins Gericht geht Prof. Baumol auch mit den von den Gegnern des Deficit Spending gepflegten Missverständnis, dass die Staatsverschuldung eine Belastung für die nachwachsenden Generationen bzw. eine „Bürde für unsere Enkelkinder“ („burden upon our grandchildren“) – in Deutschland bezeichnet man dies modisch als Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit – darstellen würde. Zugegebenermaßen sei das zwar unter bestimmten Umständen möglich – er führt es nicht aus, spielt aber auf denkbare Konstellationen von Zinshöhe und Wachstumsraten an -, man könne nicht so weit gehen, zu behaupten, dass Staatsverschuldung keinerlei abträgliche Konsequenzen für die künftigen Staatsbürger haben könnte. Doch die landläufige und besonders naive Variante dieses Gedankens sei ein weiteres Beispiel für die „fallacy of composition“. Offensichtlich können Vermögensverluste von Individuen durch ungerechtfertige Ausgaben während deren Lebenszeit deren Erben ärmer machen. Aber für einen Staat sei die Angelegenheit eine völlig andere, Staatsschulden sind entgegen landläufigen Auffassungen nicht per se ein finanzielles Problem.
Zusätzliche Staatsverschuldung etwa durch Ausgabe zusätzlicher staatlicher Obligationen entlastet die Steuerzahler der Gegenwart, die dadurch ihr Vermögen stärker mehren können als sie das bei sofortigen Steuererhöhungen/Ausgabenkürzungen zum Ausgleich des Staatsdefizits tun könnten, was wiederum Konjunktur und Wachstum tendenziell begünstigt. Wenn nach beispielsweise 20 Jahren die zusätzlichen Staatschulden durch Bedienung der Obligationen zurückgezahlt werden müssen und dafür zusätzliche Steuern erhoben werden, belaste dies zwar diese künftigen Steuerzahler (allerdings auf höherem Einkommens- und Vermögensniveau als im Vergleichsfall ohne Staatsverschuldung). Doch in exakt der gleichen Höhe erfolgen ja Auszahlungen an die privaten Besitzer der Obligationen. Nicht die künftige Generation wird belastet, sondern eine künftige Gruppe von Bürgern zugunsten einer anderen (sofern die Obligationen nicht im Auslandsbesitz sind). Da staatliche Obligationen typischerweise von den Wohlhabenderen gehalten werden, empfangen diese also auch die Auszahlungen. Sofern sie einer progressiven Einkommensteuer unterworfen sind, sind sie zugleich von der korrespondierenden Steuererhöhung stärker betroffen, d.h. es handelt sich weitgehend um die gleichen Individuen, die profitieren und die belastet werden, finanziell sozusagen eine „Linke-Tasche-Rechte-Tasche-Operation“, die keinen signifikanten Kaufkrafttransfer hervorruft (so hat es übrigens schon Adam Smith ausgedrückt).
Ökonomisch belastet wird durch die Staatsverschuldung daher nicht die künftige Generation, sondern stets die gegenwärtige Generation, dies jedoch nicht durch die Verschuldung an sich, sondern durch die Art der damit finanzierten Ausgaben und deren realwirtschaftlichen Effekte. Wenn die zusätzlichen Staatsausgaben nicht konjunkturwirksam eingesetzt werden oder in größerem Umfang privatwirtschaftliche Aktivitäten und allokativ sinnvollere Investitionen verdrängen (z.B. durch zu hohe Ausgaben für das Militär), entstehe ebenso wie bei zu geringen Staatsausgaben eine Bürde für die gegenwärtige Generation. Baumols Beispiel sind Arbeitskräfte, die für den Bau zusätzlicher Panzer eingesetzt werden und damit nicht für die zivile Automobilproduktion zur Verfügung stehen. Dann lassen sich heute weniger Autos produzieren als eigentlich nachgefragt. Die Militärausgaben etwa hätten aber keine direkten Auswirkungen auf das verfügbare Arbeitskräfteangebot in 20 Jahren.
Dies wäre von früheren Ökonomengenerationen nicht verstanden worden und werde heute noch von der allgemeinen Öffentlichkeit nicht verstanden. Doch sei das kein Irrtum von rein akademischem Interesse. Wenn durch solche ökonomischen Irrtümer eine schnellere Erholung von Rezessionen oder Depressionen verhindert wird, hatte und habe das beachtliche und unglückliche Folgen für das Allgemeinwohl.
Kann sich die Gesellschaft mehr Gesundheits- und Bildungsdienste leisten?
Ein weiteres Beispiel für einen weit verbreiteten, gesellschaftlich schädlichen ökonomischen Irrtum sieht Baumol in der mittlerweile in allen Industrieländern zu verzeichnenden heftigen politischen Kritik an den Kosten bestimmter Dienstleistungen, bei denen der öffentliche Sektor eine wesentliche Rolle spielt und ihr Hauptanbieter ist. Insbesondere gelte das für Gesundheits- und Bildungsdienste, beides Güter von großer Bedeutung für das Allgemeinwohl. Die Kosten für diese Dienste sind laut Baumol in allen entwickelten Volkswirtschaften anhaltend, kumulativ und mit Zuwachsraten deutlich über der Inflationsrate gestiegen. Gestritten werde deshalb darum, wie diese überdurchschnittliche Kostenentwicklung zustande gekommen ist und ob die Gesellschaft sich das noch länger leisten könne. (Prof. Baumol hat hierbei speziell die enorm gestiegenen Kosten im Krankenhaussektor und im Schul- wie auch Hochschulwesen der USA vor Augen.)
Für Baumol ist dieses Phänomen auf einen allgemeinen Einflussfaktor zurückzuführen, der oft abschätzig als „Kostenkrankheit“ der personellen Dienstleistungen bezeichnet. Viele Dienstleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungsbereich erfordern den direkten personellen und mithin zwischenmenschlichen Kontakt, sie lassen sich nicht so leicht und schon gar nicht ohne Qualitätsverluste rationalisieren und automatisieren wie die industrielle Produktion, die Landwirtschaft oder andere Dienstleistungen (etwa Medien und Telekommunikation). Der technologische Wandel hat deshalb vor allem in der Industrie zu arbeitssparenden technischen Fortschritten und Produktivitätssteigerungen geführt, die von den personellen Dienstleistungen überhaupt nicht erreicht werden können und die deren Produktivitätsentwicklung permanent unter den gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt drücken. Demzufolge liegt auch die Kostenentwicklung der personellen Dienstleistungen zwangsläufig über der gesamtwirtschaftlichen Inflationsrate, langfristig summiere sich das zu enormen Unterschieden und ihr Anteil am Sozialprodukt (in den USA heute über 20%) steige unweigerlich. Das habe jedoch grundsätzlich nichts mit Ineffizienz oder Gier in diesen Sektoren zu tun, sondern mit der notwendigerweise anderen „Technologie“ der Leistungsprozesse im Bildungs- und Gesundheitswesen.
Das Missverständnis dieser vermeintlichen „Kostenkrankheit“ habe in der Politik den (Irr-) Glauben bzw. die fiskalische Illusion hervorgerufen, die Gesellschaft könne sich diese Dienste nicht mehr im bisherigen Umfang leisten, die Ausgaben dafür, vor allem die des Staates, müssten gekürzt werden. Richtig sei aber, auch wenn das für Viele überraschend klingt, genau das Gegenteil. Denn genau dieselben Gründe, die zu diesen (relativen) Kostennachteilen der personellen Dienste führen, sorgten dafür, dass sich die Gesellschaft immer mehr davon leisten kann. Die relativ größeren Produktivitätssteigerungen und damit Kosteneinsparungen bei Industriegütern ermöglichten es – gesamtwirtschaftlich betrachtet – gerade, mehr für andere Güter wie eben Gesundheits- und Bildungsdienste zu zahlen. Insgesamt steigende ökonomische Produktivität bedeute im Hinblick auf die Ertragsseite nämlich nichts anderes, als dass sich die Gesellschaft mehr Konsum von allem und jedem erlauben kann. Deshalb komme es wirtschaftspolitisch entscheidend darauf an, die Produktivitätsdifferenzen zwischen den verschiedenen Sektoren für die Gesellschaft in möglichst nützlicher Weise arbeiten zu lassen und d.h. den durch die höhere Produktivität im industriellen Sektor erzielten Mehrwert (via angemessener Besteuerung) für gesellschaftlich erwünschte Dienstleistungen einzusetzen.
Es bestehe leider die Gefahr, dass die Regierungen, die Hauptfinanzierungsquelle für diese Dienste in den meisten Ländern, aus zwar verständlichen, aber letztlich unnötigen Gründen für so entscheiden, dass die Kostenlast jenseits ihrer Finanzierungskapazität liege und Mittelkürzungen die einzige Option sei. Das geschehe in etlichen Ländern bereits in Form von Sparoperationen im Gesundheitswesen oder bei der universitären Lehre und Forschung. Dabei würden ökonomisch vernünftige und z.T. lebenswichtige Aktivitäten eingeschränkt. Ein weiterer Fall, wie ökonomische Irrtümer einen durchaus vermeidbaren Schaden am Allgemeininteresse erzeugten.
Dienen Preissteigerungen dem öffentlichen Interesse?
Anknüpfend an die Kostenproblematik der (personellen) Dienstleistungen räumt Baumol mit dem verbreiteten und politisch gängigen Vorurteil auf, dass nur niedrige Güterpreise im öffentlichen Interesse lägen bzw. Preissteigerungen das (außer für die jeweiligen Anbieter) nicht tun würden. Gerade freie Marktwirtschaft bedeute nicht immer nur sinkende Preise. In einer Marktwirtschaft reflektieren die Preise normalerweise die realen Knappheiten. Wenn ein Gut knapper würde, müsse das zu Preissteigerungen führen, damit der Markt wieder ins Gleichgewicht käme und Anreize zur Angebotsausweitung erzeugt würden. Falls die Preise künstlich, etwa durch eine entsprechenden Gesetzgebung zur Preisregulierung, niedrig gehalten und die Marktmechanismen geknebelt würden, hätte dies einen ineffizienten Ressourceneinsatz und anhaltende Verknappungen zur Folge – mit teilweise tragischen Konsequenzen.
Als besonders drastisches Beispiel zitiert Baumol den irischen Ökonomen Mountifort Longfield, der 1834 an der Universität Dublin vor den damaligen Höchstpreisvorschriften für Kartoffeln gewarnt hatte, die im Fall einer Missernte sehr schnell zu anhaltenden Versorgungsausfällen mit der Folge von Hungersnöten führen könnten. 10 Jahre später kam es zu genau zu so einer schrecklichen Kartoffelmissernte, die in Verbindung mit den seinerzeitigen Preisbestimmungen Hungersnot, Elend und Tod für viele Menschen zur Folge hatte (und ein maßgeblicher Grund für die Auswanderungswellen von Irland in die USA waren).
Weitere von Baumol angeführte Beispiele von weitaus geringerer Tragweite sind die auf vielen Flughäfen im Tagesverlauf einheitlichen Landegebühren selbst zu Stoßzeiten. Die Fluggesellschaften und selbst Privatjets hätten so keinen Anreiz auf andere Start- und Landezeiten auszuweichen, was die Überfüllung zu den Stoßzeiten vergrößere und damit die Wartezeiten für die Fluggäste verlängere. Höhere Gebühren zu Stoßzeiten seien zwar politisch unpopulär, könnten das Problem aber entschärfen. Künstliche Niedrigpreise hätten in der Vergangenheit für die USA ebenso schon ein Chaos in der Benzinversorgung, ein Unterangebot im Wohnungsbau und sogar vereinzelte militärische Niederlagen (weil die Versorgungsbasis zusammenbrach) verursacht, so Baumol. Steigerungen der Marktpreise können darum dem Gemeinwohl dienlicher sein als Niedrigpreise, auch wenn das für Nichtökonomen nicht leicht zu akzeptieren sei. Selbstverständlich gebe es auch Fälle krasser Preissteigerungen und Preisexplosionen, die arme Leute überforderten und Rationierungen zur gesellschaftlich akzeptableren Option machten. Ebenso können Preissteigerungen dem Missbrauch von Marktmacht geschuldet sein, die deshalb dringlich zu unterbinden sei. Doch bevor die Marktkräfte durch künstliche Beschränkungen gezähmt würden, müsste eine sehr sorgfältige Prüfung des jeweiligen Sachverhalts und der möglichen Konsequenzen erfolgen, besonders wenn Knappheiten die allgemeine Wohlfahrt bedrohen. Politische Schnellschüsse in der Beurteilung von Preisentwicklungen wären jedenfalls gefährlich.
Nutzt internationales “Outsourcing” allen beteiligten Nationen oder sind langfristige Schäden durch Globalisierung möglich?
Während sich die Normalbürger mit Blick auf den kurzfristigen Vorteil über die möglichen langfristigen Schäden von politisch propagierten Billigangeboten meist nicht im Klaren sind, gibt es ökonomische Irrtümer, die vor allem unter professionellen Ökonomen verbreitet sind und noch viel schwerwiegendere Folgen nach sich ziehen können. Baumol kritisiert das im neoliberalen Mainstream der Ökonomie recht pauschale Gutheißen von Freihandel und Globalisierung. Hier ließen sich die Ökonomen von den Vorteilen des Billigangebots blenden. Sie argumentieren dabei zwar i.d R. differenzierter, weil sie einräumen, dass Standortverlagerungen aus Hochlohnländern in Billiglohnländer natürlich den betroffenen Arbeitnehmer in den Hochlohnländern schaden und der internationale Wettbewerb zu einem Prozess der Lohnangleichung führt, der starken Druck auf das allgemeine Lohnniveau der Hochlohnländer ausübt. Doch unterstellen die Mainstream-Ökonomen unter Verweis auf die Freihandelstheorie, dass sich aus der ökonomisch insgesamt günstigeren Arbeitsteilung ein gesamtwirtschaftlicher Vorteil ergeben würde, der die negativen Effekte überwiegt. Die Unternehmen könnten zu geringeren Kosten produzieren und wären dadurch wettbewerbsfähiger, die Konsumenten im Hochlohnland könnten die betreffenden (dann: Import-)Güter billiger einkaufen und dadurch ihr Realeinkommen steigern und die Billiglohnländer könnten Produktivitäts- und Beschäftigungszugewinne verzeichnen, die ihre Entwicklung förderten und ihr Lohnniveau steigerten. Für Baumol ist diese Sicht der Dinge indessen eine zwar nicht haltlose, aber doch übervereinfachende Einschätzung, die sich meist auf einen simplen 2 Länder/2 Güter-Fall mit konstanten Rahmenbedingungen stützt und den erwartbaren dynamischen Effekten nicht genügend Rechnung trägt.
Ganz ähnlich, aber schon eher (doch mit weniger öffentlichem Aufsehen) als vor kurzem sein noch berühmterer Ökonomen-Kollege und Nobelpreisträger Paul Samuelson hat Baumol die These aufgestellt, dass den Hochlohnländern durch solches “Outsourcing” ein dauerhafter Schaden entstehen kann und auch die Billiglohnländer keineswegs eindeutig bevorteilt würden, weshalb auch der ökonomische Gesamteffekt zumindest kurz- und mittelfristig fragwürdig sei. Denn zum einen könnten multinationale Unternehmen auf liberalisierten internationalen Märkten, worauf die Globalisierungsgegner nicht zu Unrecht hinwiesen, eine ruinöse Konkurrenz der Löhne und Arbeitsbedingungen in Gang setzen. Zum anderen sorgten in Verbindung mit der Globalisierung der technische Fortschritt und der Technologietransfer in die Billiglohnländer dafür, dass sich gewissermaßen die Spielregeln, die theoretisch den gesamtwirtschaftlichen Vorteil der Arbeitsteilung garantierten, während des Spiels änderten. Billiglohnländer hätten dann nicht nur einen Lohnkostenvorteil, sondern ihre Produktion könnte auch mit der gleichen oder jedenfalls angenäherten Technik und damit Produktivität operieren (Vgl. China, der Verf.) Beispielsweise zerstöre die vermehrte Nutzung von Computerprogrammieren und EDV-Diensten in Indien durch US-Firmen die Beschäftigungschancen für entsprechende Qualifikationen in den USA. Das Hochlohnland verliere dann nicht nur industrielle Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich und die Fertigkeiten der betroffenen Arbeitnehmer würden weitgehend entwertet. Auf diese Weise könne es bei den Hochlohnländern zu Beschäftigungs- und Wertschöpfungsverlusten auf breiter Front kommen. Tatsächlich zeigten empirische Erkenntnisse in einer Reihe von Industrieländern, dass Standortverlagerungen im Zuge der Globalisierung zu einer Abschwächung des Wachstums und zu Verlusten beim Pro-Kopf-Einkommen, also reale Verschlechterungen des allgemeinen Lebensstandards bewirken könnten. Auch in den Entwicklungsländern könnten durch den Zutritt neuer Produzenten und Techniken traditionelle Strukturen zerstört werden, was für die betroffenen Gruppen zunächst einmal alles andere als ein Vorteil wäre und den volkswirtschaftlichen Aufholprozess mindestens verzögere. Diese Schäden müssten keineswegs nur vorübergehend sein. Die Wirtschaftsgeschichte der Industrialisierung zeige, dass Verminderungen von Löhnen und Verschlechterungen der Lebensbedingungen jahrzehntelang andauern könnten und das gleiche gelte für die Verbesserung der Einkommensverhältnisse von bestimmten Bevölkerungsgruppen in den Entwicklungsländern. Das alles will Baumol nicht als generelles Plädoyer gegen die Globalisierung oder gegen ökonomische Opfer der wohlhabenderen Länder zugunsten der Entwicklungsländer verstanden wissen. Allerdings wäre es illusorisch zu glauben, dass alle Industrieländer sichere Vorteile aus dem Globalisierungsprozess ziehen würden und dass es keine Gefahren für sie gäbe – es komme sehr auf die konkreten Umstände an, nicht auf Glaubenssätze. Auch dürfe die Debatte nicht überhitzt, fragmentiert und allein bezogen auf die vom Strukturwandel jeweils benachteiligten oder bevorteilten Gruppen geführt werden. Die Ökonomen müssten sich bemühen den Gesamt- bzw. Nettoeffekt zu ermitteln, der allerdings schwerer zu bestimmen und quantifizieren sei.
Angesichts der für einzelne Individuen und Gruppen untragbaren Belastungen könne zugunsten der Globalisierung nur dann in gesellschaftlich akzeptabler Weise argumentiert werden, wenn den Opfern und Verlierern der Anpassungsprozesse systematische und substanzielle Hilfe gewährt werde, und zwar vornehmlich durch die staatlichen Regierungen und mit freiwilliger Unterstützung durch die Wohlhabenderen und die Globalisierungsgewinner.
Auf lange Sicht hält auch Baumol die Globalisierung für vorteilhaft oder besser gesagt: chancenreich für alle beteiligten Länder. Denn die Globalisierung fördert und verbreitet mit allen (Fehl-)Entwicklungen zugleich die machtvollen ökonomischen Gegenkräfte des internationalen Wettbewerbs, die, soweit Markt und Wettbewerb in einen vernünftigen politischen Rahmen gestellt werden, ein historisch beispielloses wirtschaftliches Wachstum und eine gemessen an früheren Generationen unvergleichlich spektakuläre Innovationsdynamik ermöglicht haben. Irren könne aber da selbstverständlich auch er selbst.
Quelle: Errors in economics and their consequences / William J. Baumol / englischer Originalartikel