Frank Schirrmachers neues Buch „Ego“ – Überhaupt nicht marktkonform
In seinem neuen Buch „Ego – Das Spiel Lebens“ wirft FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher einen tiefen Blick in das Betriebssystem des Kapitalismus. Die Software dieses Betriebssystems ist es, die Schirrmacher in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. Diese Software ist auf dem Modell des egoistischen Menschen aufgebaut und steuert heute nicht nur die vernetzten Märkte des Finanzsystems, sondern ist zudem bereits auf dem besten Weg, die Demokratie abzulösen. Es ist zu wünschen, dass Schirrmachers Buch weitere Diskussion über das Wesen des modernen Kapitalismus auslöst – denn nur, wenn wir das Betriebssystem verstehen, können wir es ändern. Von Jens Berger.
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Dieses Buch basiert auf einer einzigen These, […] (dem) „ökonomischen Imperialismus“ […]. Damit ist gemeint, dass die Gedankenmodelle der Ökonomie praktisch alle anderen Sozialwissenschaften erobert haben und sie beherrschen.
Frank Schirrmacher
Was meint Angela Merkel eigentlich, wenn sie von „marktkonformer Politik“ spricht? Um erahnen zu können, was „marktkonform“ ist, muss man sich zunächst einmal vergegenwärtigen, was Märkte sind und wie sie ticken. Die Vorstellung von lautstark gestikulierenden Börsenhändlern, die sich gegenseitig ihre Order zurufen, gehört schon lange der Vergangenheit an. Heute handeln Supercomputer im Nanosekundentakt miteinander, sie kaufen, verkaufen, täuschen, manipulieren und testen dabei ihre Gegenspieler. Oder um es kurz zu sagen – sie spielen. „Ego – Das Spiel des Lebens“ wirft einen Blick auf dieses Spiel, seine Spieler und die Spielregeln.
Grundlage der Spielregeln sind dabei Rechenmodelle, genauer gesagt Computercode, basierend auf Algorithmen. Der Mensch ist in diesen Modellen ein „homo oeconomicus“, ein „rationaler Agent“, dessen einziger Antrieb es ist, im Sinne des Egoismus seinen eigenen Nutzen zu maximieren. Rational ist im Sinne dieses Menschenbilds stets nur ein Handeln, dessen einzige Triebfeder der Egoismus ist. Der „rationale Agent“ stellt nicht nur die Grundlage neoklassischer und neoliberaler ökonomischer Modelle dar, er ist auch die Kernkomponente der „Spieltheorie“, einem mathematischen Modell, bei dem mehrere Spieler auf Basis „rationaler“, also egoistischer, Motive gegeneinander antreten.
Schirrmachers Reise in die Welt der Algorithmen beginnt in den 1950ern, als die USA in Denkfabriken des militärisch-industriellen Komplexes, wie der Rand-Corporation, die Spieltheorie als Handlungsmodell für den Kalten Krieg weiterentwickelten, um im Pokerspiel der beiden atomaren Supermächte zu gewinnen. Dieses Spiel haben, wie wir alle wissen, die USA gewonnen. Nach dem Ende des Kalten Krieges verfügten die Denkfabriken des militärisch-industriellen Komplexes nun über ausgefeilte spieltheoretische Algorithmen und hoch spezialisierte Physiker und Mathematiker, denen das Spielfeld abhanden gekommen war.
Nach einem 50 Jahre währenden Kalten Krieg […] befinden wir uns nach dem Ende des Kommunismus in einem neuen Kalten Krieg zwischen demokratischen Nationalstaaten und globalisierten Finanzmarktkörpern.
Frank Schirrmacher
Viele dieser Forscher fanden in den 1990ern bei den boomenden Investmentbanken einen neuen Arbeitsplatz. Die Finanzmärkte waren das neue spieltheoretische Schlachtfeld, auf dem es sehr viel Geld zu verdienen gab. So entwickelten die Mathematiker und Physiker[*] auf Basis der Spieltheorie des Kalten Krieges die Algorithmen, die heute den Handel an den Finanzmärkten bestimmen. Wenn wir also heute von „den Märkten“ sprechen, dann sprechen wir streng genommen vom Ergebnis eines Spiels, dessen Spieler auf Basis vorgegebener Algorithmen handeln, die wiederum den Egoismus der handelnden Subjekte als „Ratio“ verklären und ihn zu alleinigen Triebfeder menschlichen Handelns machen.
Doch das Problem ist, dass die Theorie nicht nur Handeln beschreibt, sondern Handeln erzwingt, sie ist nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ. Sie postuliert nicht nur Egoisten, sie produziert sie auch.
Frank Schirrmacher
Im komplexen Spiel der Finanzmärkte gewinnt nur derjenige, der selbst streng „rational“ – also egoistisch – handelt. Hier setzt Schirrmachers Kritik im Kern an. Ihm geht es in seinem Buch vor allem um die Frage, „ob die Doktrin des »rationalen Selbstinteresses«, als des vernünftigen Egoismus, nicht gerade im Begriff ist, puren Irrsinn zu produzieren?“ Wer sich die Ereignisse auf den Finanzmärkten anschaut, kommt wohl nicht darum herum, diese Frage zu bejahen. Und dies geht weit über Subprime-Kredite, Lehman, HRE und Griechenland-Anleihen hinaus. Die Krise ist vielmehr der Normalzustand an den Märkten. In den USA wird eine Aktie heute im Schnitt zweiundzwanzig Sekunden gehalten – vor vier Jahren waren es noch zwei Monate. Zwischen 2006 und 2011 gab es fast laut Schirrmachers Quellen fast 19.000 ultraschnelle und völlig unerwartete Ereignisse am Aktienmarkt. Instabilität ist keine Ausnahme, kein schwarzer Schwan, sondern die Regel.
Die Krise ist nur ein Symptom. Sie zeigt die Instabilität nicht nur von Märkten, sondern von Gesellschaften, in denen Gesellschaften wie Märkte und Menschen als „homo oeconomicus“ organisiert werden. In meinen Augen: der erste Fall eines Systemversagens der Informationsökonomie.
Frank Schirrmacher
Handelt es sich wirklich, wie Schirrmacher schreibt, um ein Systemversagen? Oder ist dieses vermeintliche Versagen nicht doch vielmehr die nächste Stufe im großen Spiel um Geld und Macht? Ging es gestern noch um Subprimekredite und Kreditderivate, geht es heute ganze Volkswirtschaften. Das System hat nicht versagt, es hat heute mehr Macht als je zuvor und da jeder Spieler für systemrelevant erklärt wurde, steht der Verlierer bereits fest – die Gesellschaft.
Auch wenn Schirrmachers These vom Systemversagen der Informationsökonomie einer gründlichen Prüfung nicht standhält, hat er sehr wohl erkannt, wohin die Reise seit der Finanzkrise geht. Nicht nur das Spielfeld, sondern auch die Spieler und der Einsatz haben sich seit dem Beginn der Krise verändert. Spielten früher Finanzinstitute gegeneinander und der Staat schaute diesem Treiben zu, sind die Nationalstaaten heute mehr oder weniger unfreiwillig selbst in die Rolle eines Mitspielers getrieben worden. Das Schicksal ganzer Volkswirtschaften bestimmen heute nicht mehr die gewählten Regierungen. Unser Schicksal ist vielmehr der Einsatz im großen Spiel, dessen Regeln sich seit Beginn des Kalten Kriegs nicht verändert haben.
Bürger und Staat haben keine Souveränität mehr, sondern »spielen« sie nur. Darum werden Parlamente zu Staffagen und Öffentlichkeiten zu Echoräumen, die man anspricht, um in Wahrheit Märkte zu beeinflussen.
Frank Schirrmacher
Eine Politik, die „marktkonform“ ist, ist somit nichts großartig anderes als eine Politik, die dieses Spiel angenommen hat und sich den Spielregeln beugt. In einer Welt, in der das neoklassische Bild des „homo oeconomicus“ grundlegendes Element der Spielregeln ist und der Egoismus zum rationalen Handeln erklärt wird, bleibt jedoch kein Platz mehr für den Menschen als Mensch. Die „neue Supertheorie“, die laut Schirrmacher eine Melange aus neoklassischer und neoliberaler Ökonomie, Darwinismus und Computertechnologie ist, droht vielmehr in letzter Konsequenz zu einem neuen Totalitarismus zu werden.
Frank Schirrmacher gebührt Respekt und Anerkennung dafür, dass er die Auswüchse des modernen Kapitalismus im Kern benennt. Man kann sich vortrefflich darüber streiten, ob „Ego“ wirklich „ohne Zweifel links“ ist, wie Jakob Augstein es formuliert. Die Kritik an den Auswüchsen des modernen Kapitalismus, dem Dogma effizienter Märkte und der Prämisse, Egoismus sei die maßgebliche Triebfeder menschlichen Handelns, ist sowohl links als auch konservativ. Wenn Politiker und Leitartikler, die sich selbst als Konservative sehen, dies nicht wahrhaben wollen, liegt es vielleicht daran, dass sie eigentlich keine Konservativen, sondern vielmehr Marktliberale sind, die ihre Werte schon längst über Bord geworfen haben. Daher ist es auch ein großer Gewinn für die Debattenkultur, dass diese äußerst wichtige Debatte nicht von einem „Linken“, sondern vom konservativen Vordenker Frank Schirrmacher angestoßen wurde. Denn auf die Frage, ob Algorithmen oder gewählte Politiker über uns unsere Zukunft entscheiden sollen, müssten Linke und Konservative eigentlich die gleiche Antwort haben.
[«*] im Englischen werden die Programmierer der Handelsalgorithmen der Wall Street heute nicht umsonst „Rocket Scientists“ genannt