Psychopathen ohne Hitlerbart
Bei aller Pflicht zur historisch genauen Erinnerung an die Bedingungen der Möglichkeit der sogenannten „Machtergreifung“ und zur Beantwortung der Frage: „Wie war das eigentlich?“ (Max von der Grün) darf man sich nicht den Blick auf Gefahren der Gegenwart verstellen. Adorno hat auf die vernebelnden Tendenzen der berühmten „Aufarbeitung der Vergangenheit“ bereits früh hingewiesen, indem er eingangs seines gleichnamigen Vortrags aus dem Jahre 1959 sagte: „Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“ Man ruft mit Blick auf Hitler: „Haltet den Dieb!“ – und lässt die heutigen Diebe entkommen. Von Götz Eisenberg
Heute vor 80 Jahren kam die „Kanalratte“ an die Macht, von der Alfred Andersch in seinem autobiographischen Bericht „Kirschen der Freiheit“ spricht. Er erinnert sich an einen 9. November Mitte der 1930er Jahre in München. Hitler fuhr, vom Haus seines Blutordens kommend, in einer Wagenkolonne in Richtung Odeonsplatz. „Die Mauer aus Menschen stand entlang seinem Wege, die Rufe pflanzten sich fort, und als ich sein weißliches, schwammiges Gesicht sah, mit dem schwarzen Haarstriemen in der Stirne, mit dem feigen, lächelnden Betrüger-Ausdruck, das Gesicht einer bleichen, abgewetzten Kanalratte, da öffnete auch ich meinen Mund und schrie: ‚Heil!‘. Und als die Menge sich zerstreute und ich wieder ins Freie trat, in freien Raum um mich, da dachte ich damals, wie ich es heute denke: Du hast einer Kanalratte zugejubelt.“
Bei aller Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit und des Kampfes gegen die Neonazis dürfen wir nicht übersehen, dass Demokratie und Rechtsstaat gegenwärtig von anderen Kräften und Tendenzen bedroht werden. Die Gefahr geht von „Psychopathen ohne Hitlerbart“ aus, von denen uns Rainald Goetz in seinem neuen Roman in Gestalt der Titelfigur „Johann Holtrop“ ein Exemplar vorführt.
Peter Brückner und Johannes Agnoli haben Adornos Hinweis in ihrem Buch „Die Transformation der Demokratie“ aufgegriffen und vorgeschlagen, von einer „Involution der Demokratie“ zu sprechen. Involution bildet den Gegenbegriff zu Evolution und bezeichnet in der politischen Sprache den komplexen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Prozess der Rückbildung demokratischer Staaten in vor- oder antidemokratische Formen der Herrschaftsausübung. In den parlamentarisch regierten Ländern wird die Involution dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht gegen die geltenden Verfassungsnormen und –formen durchsetzen will, sondern sich ihrer zu bedienen sucht. Um die Demokratie zu transformieren, wird die Funktion der traditionellen Institute verändert und werden die Gewichte innerhalb der traditionellen Strukturen verlagert.
Das von Anfang an spannungsvolle und konfliktträchtige Verhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie wird dadurch zu entspannen versucht, dass man die Substanz der Demokratie aushöhlt und den wirtschaftlichen Imperativen opfert. Die Idee, dass eine demokratisch verfasste Gesellschaft mit einem ihrer Teile reflexiv auf sich als ganze einwirken kann, ist bisher nur im Gehäuse des Nationalstaats zum Zuge gekommen. Diese Konstellation wird inzwischen durch Entwicklungen in Frage gestellt, die unter dem Namen Globalisierung verhandelt werden. Die lähmende Aussicht, dass sich die nationale Politik in Zukunft auf das mehr oder weniger intelligente Management einer erzwungenen Anpassung an Imperative der „Standortsicherung“ und der „Märkte“ reduziert, entzieht den politischen Auseinandersetzungen den Rest an Substanz. Nationale Politik droht, wie Oskar Negt gesagt hat, in die „Ohnmacht einer Institution zu geraten, die über das Wetter herrscht.“ Das ist eine Facette der „Involution der Demokratie“ und der Herausbildung einer nachdemokratischen Herrschaftsmethode: Politik verkommt zur diskussions- und scheinbar alternativlosen Anpassung an vermeintlich unausweichliche systemische Imperative der Finanzmärkte.
Unter Verweis auf die von den Märkten ausgehenden „Sachzwänge“ wird von gewissen Leuten die Demokratie mehr und mehr als dysfunktional empfunden. Sie liebäugeln mit einer nachdemokratischen Methode der Herrschaft, in der dem Staat mit neuen Aufgaben auch neue Befugnisse zuwachsen. So erwog man in Berlin, in ökonomischen Notsituationen das Parlament auf neun Leute schrumpfen zu lassen. Milliardenschwere Notprogramme sollten von nur neun zur Geheimhaltung verpflichteten „Eingeweihten“ abgesegnet werden dürfen! Das finanzpolitische Krisenmanagement verlange schlanke und effiziente Entscheidungsstrukturen und das demokratisch-parlamentarische Procedere sei einfach zu schwerfällig und langwierig. Angela Merkel ließ als Begründung für das neunköpfige „Notparlament“ verlauten: “Wir leben ja in einer Demokratie und das ist eine parlamentarische Demokratie und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.”
Statt den Markt demokratisch einzuhegen und zu begrenzen, soll die Demokratie marktkonform beschnitten werden. Wenn zwischen Markt und demokratischen Prinzipien ein Widerspruch existiert, sollte er zugunsten der Demokratie und zu Lasten des Marktes gelöst werden. Angesichts der sich ständig weiter öffnenden Schere zwischen arm und reich und der fortschreitenden Verelendung der unteren Einkommensschichten, muss die Frage gestellt werden, ob die durch die „Märkte“ erzeugte Ungleichheit noch mit einer demokratischen Gesellschaftsordnung in Einklang zu bringen ist, ob der „Preis der Ungleichheit“ (Joseph Stiglitz) nicht zu hoch ist und ob diese nicht nach einer anderen Produktionsweise und anderen Formen der Vergesellschaftung verlangt. Über lange Strecken der Durchsetzungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft war die Demokratie die dem Geldverdienen günstigste Staatsform. Nun, da das Geld gewissermaßen tobsüchtig geworden ist und die entfesselten Finanzströme um den Erdball jagen, soll die Demokratie den Funktionsimperativen der Finanzmärkte geopfert werden. „Wollen wir ökonomisch, sozial, ökologisch und ethisch überleben, brauchen wir demokratiekonforme Märkte“, widerspricht Ingo Schulze in seiner Streitschrift „Unsere schönen neuen Kleider“. (München 2012)
Herbert Marcuse pflegte, wenn man ihm mit sogenannten Tatsachen kam, die seinen Theorien widersprächen und der Verwirklichung seiner und unserer Ideen entgegenstünden, zu sagen: “Umso schlimmer für die Tatsachen!” Dieser rebellische Gestus stünde uns angesichts der Übermacht angeblich alternativloser Sachzwänge gut zu Gesicht.