Rezension: Michael J. Sandel, “Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes”
Wer Fairness verhöhnt, wird seines Lebens nicht froh.
Von Marianne Bäumler [*]
Michael Sandel hat beharrlich schon etliche Debatten über Gerechtigkeit angezettelt in überfüllten amerikanischen Hörsälen, die nach wie vor auch online in alle möglichen Universitäten der Welt übertragen werden, und also eine Öffentlichkeit herstellen, die beachtlich ist. Der Philosophieprofessor – Jahrgang 1953 – begibt sich seit Jahren auf ein Terrain, das modern sein wollende Wissenschaftler gerne als altmodisch moralisches Gerede abtun mögen. Allerdings sprechen die neugierigen Reaktionen der interessierten Studenten auf die ernsthaften Argumente über die ethischen Grenzen kapitalistischer Märkte eine andere Sprache. In unseren nicht nur ökonomisch krisenhaften Zeiten, da politische Unübersichtlichkeit global mit der zunehmenden Schräglage von Überfluss und Armut einhergeht, wächst der Wunsch nach Orientierung auch in den wohlhabenden Gegenden unserer Welt.
Auch Michael Sandel treibt die Frage um, wie die Verantwortlichkeit schwindet im süßen Brei des elektronischen Fortschritts. Kritisch analysiert er unsere “Lebensweise, in der das Wertesystem des Marktes in alle Aspekte menschlicher Bemühung eingesickert ist, alle sozialen Beziehungen marktförmig geworden sind – Gesundheit, Ausbildung, Familienleben, Natur, Kunst, Bürgerpflichten.“
Dabei führt Sandel alltägliche Beispiele ins Feld, deren zerstörerische Dynamik auf den ersten Blick vielleicht noch gar nicht erkennbar ist: In den USA z.B. gibt es für alle privilegierten Bürger, also jene, die es sich leisten können, Möglichkeiten, Warteschlangen zu umgehen. Ob für die Zuteilung von Campingstellplätzen im Nationalpark, eine Erlaubnis, auf Autobahnen die Überholspur zum schnelleren Ankommen zu benützen, oder beim Arzt schneller dran zu kommen – denn, wer wartet schon gerne! Aber für gewisse Gebühren können Reiche das Prinzip „Jeder der Reihe nach“ locker umgehen, und die Armen bleiben auf der Strecke, da ihnen das nötige Geld für solche Überholmethoden nämlich fehlt. „Einige reiche Autofahrer sehen Bußgelder für zu schnelles Fahren als Preis, den sie dafür bezahlen, die Geschwindigkeitsbegrenzung übertreten zu dürfen.“ Dieses „Vordrängeln gegen Bezahlung läuft dem Gebot der Fairness zuwider.“
Immerhin gibt es auch Lichtblicke für die Erreichung von gerechterem Sozialverhalten: „In Finnland geht man gegen diese Haltung (und den entsprechenden Fahrstil) hart vor: Man koppelt das Bußgeld wegen überhöhter Geschwindigkeit an das Einkommen des Missetäters. 2002 hatte eine Führungskraft von Nokia 116 000 € zu bezahlen, als er mit seiner Harley-Davidson zu schnell durch Helsinki gebrettert war.“ Allerdings ist die gängige Haltung besonders in Amerika eine andere, der Ehrgeiz zu cooler Effizienz weniger von Skrupeln getrübt. Der „american way of life“ besagt ja „Freie Bahn dem Tüchtigen“, ignoriert also die strukturell ungleichen Voraussetzungen im Hinblick auf die ökonomischen Chancen der Individuen. Vielmehr gilt nur die Ideologie: wer eine Ware oder einen Zugang zu Annehmlichkeiten besonders schätzt, muss eben mehr dafür zahlen, und habe dann den legitimen Anspruch, diese Güter zu erlangen: „Man zahlt extra für schnelleren Service“.
Parallel zu der Beobachtung, dass die Fairness zunehmend verkommt, stellt Michael Sandel jedoch ein weiteres Merkmal „triumphierender Geschäftstüchtigkeit“ in den Mittelpunkt: auch in die privatesten Bereiche rage die „Korruption“: Sandel erläutert den korrumpierenden Aspekt eines Deals am Beispiel käuflicher Transplantate aus der Dritten Welt: Sollten Nieren überhaupt gehandelt werden dürfen, wenn solche Märkte „die Armen ausbeuten, deren Entscheidung, eine Niere zu verkaufen nicht wirklich freiwillig erfolgte (das Argument der Fairness).Zudem fördern solche Märkte eine herabsetzende Sicht des Menschen als Ersatzteillager (das Argument der Korruption)“
Micheal Sandel konstatiert den schleichenden Zerfall von Unrechtsbewusstsein als Ergebnis von globaler Beschleunigung. Die Fixierung auf den Profit durch die „Handelsware“ Mensch zerstört quasi wie eine „Zweite Natur“ (Karl Marx) die Anteilnahme am Schicksal „der da Unten“, sie scheinen „unbetrauerbar“ zu sein, wie es neulich die Adorno-Preisträgerin Judith Butler ausdrückte. Geldmächtige Leute mit im Wortsinn „exklusivem Zugang“ zu Gütern und Service interessiere vorrangig die „Nutzenmaximierung“, entwerte den sozialen Zusammenhalt zum zynischen Motto „Zeit ist Geld.“
In diesem gut recherchierten Buch lassen sich etliche empörende Beispiele von Käuflichkeit finden: Umweltverschmutzungs-Zertifikate, die es gestatten, per Honorar weiter die Natur zu verpesten, Leihmütter, die unter großen seelischen Schmerzen die von ihnen neun Monate ausgetragenen Babys dann wieder hergeben müssen, arme Leute, die sogar Körperregionen als Werbeträger gegen Geld tätowieren lassen, etc. Alles Symptome einer Gesellschaft, die sich spalte: „In einer Zeit zunehmender Ungleichheit läuft die allumfassende Kommerzialisierung des Lebens darauf hinaus, dass Arme und Reiche zunehmend getrennte Leben führen.“
Was also tun? Michael Sandel plädiert nachdrücklich dafür, gemeinsam zu handeln, und öffentlich zu benennen, was schief läuft und warum. Von seinen Studenten und von seinen Lesern erwartet er, dass sie ihre Erkenntnis in zivilgesellschaftliches Engagement umsetzen. Sandel liefert keine Rezepte, aber es ist ihm wesentlich, dem Empathie-Verlust weltweites Engagement entgegen zu stellen: „Sobald wir erkennen, dass Märkte und Kommerz den Charakter der von ihnen erfassten Güter verändern, müssen wir uns fragen, wo Märkte überhaupt hingehören – und wo nicht. Diese Fragen bleiben nicht unentschieden, wenn wir davor zurückschrecken, bewirken wir einfach, dass die Märkte sie für uns entscheiden.“
Bibliografische Angaben:”Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes”
von Michael J. Sandel
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Helmut Reuter
Ullstein Verlag 19,99 Euro
[«*] Marianne Bäumler ist Journalistin und arbeitet für verschiedene Printmedien und Hörfunksender. Sie hat Drehbücher für mehrere Fernsehfeatures geschrieben und Regie geführt. Sie ist u.a. Autorin des Buches „Die aufgeräumte Wirklichkeit des Erich Kästner“.
Siehe zu Michael Sandel auf den NachDenkSeiten auch: