96,8 Prozent der 4,35 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher halten sich an die Gesetze.
So und ähnlich hätten die Schlagzeilen lauten können und müssen, wenn unsere Medien ehrlich berichten würden und nicht auf herablassende Diffamierung der Hartz-IV-Bezieher aus wären. Stattdessen titelte die SZ: „Neuer Rekord: Jobcenter verhängen mehr als eine Million Hartz-IV-Sanktionen“. Inzwischen übernahmen alle, aber auch alle, die Meldung in dieser Form: Welt, Spiegel, Bild, Stern, Handelsblatt usw. Selbst die “taz” ist sich nicht zu schade und titelt: “Rekord bei Hartz-IV-Sanktionen. Strafe muss sein.” Die Aufmache der SZ wie auch die unkritische Übernahme durch andere Zeitungen ist skandalös. Rücksichtslos wird nach dem Titel gesucht, der die Aufmerksamkeit der Leser erregt. Von Orlando Pascheit
Es ist wahrlich nichts Neues, dass Schlagzeilen zugespitzt werden, die Diffamierung ganzer Bevölkerungsgruppen ist unverantwortlich. Freiwillige Gleichschaltung könnte man das nennen. Nun könnte man einwenden, dass in den Artikeln selbst die Schlagzeilen selbst relativiert werden. Aber wie hat bereits im Oktober, als die Bild-Zeitung mit einer ähnliche Meldung aufmachte, Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur, vermerkt: “Es sind genau solche Schlagzeilen über Sanktionen, die Vorurteile in der Bevölkerung verstärken.” Wie im Text der SZ und auch in den anderen Zeitungen irgendwo so nebenbei hat Alt schon damals schon darauf hingewiesen, dass zwei Drittel der Sanktionen auf Meldeversäumnissen beruhen. Von der Sache her hätte die SZ, der Stern und die anderen hätten titeln müssen: “96,8 Prozent der 4,35 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher halten sich an die Gesetze. Meldeversäumnisse angestiegen.” Wenn das Thema den Journalisten so am Herzen lag, hätte sie sich z.B. fragen können, wie diese Meldeversäumnisse zustande kamen. Aber nein, man liefert lieber niederträchtige Schlagzeilen, die dann unreflektiert in diversen Talkshows weiter instrumentalisiert werden. Kann man sich dann noch wundern, dass sich die Bevölkerung von den Sanktionszahlen in seinen Vorurteilen bestätigt sieht, dass Hartz-IV-Empfänger faul, schlecht ausgebildet und bei der Arbeitssuche zu wählerisch seien. Das von der Bundesagentur für Arbeit beauftragte Institut für Demoskopie Allensbach kommt in seiner Umfrage u.a. zum Ergebnis [PDF – 125 KB]: “So stimmen jeweils rund 60 Prozent derjenigen, die weder in der Familie, noch im näheren Bekanntenkreis Bezieher von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld I oder II oder Wohngeld haben, voll und ganz oder eher zu, wenn es heißt, so genannte “Hartz IV-Empfänger” seien bei der Arbeitssuche zu wählerisch, seien schlecht ausgebildet oder suchten selbst gar nicht aktiv nach Arbeit.”
Da nützt es dann wenig, wenn Heinrich Alt das Ergebnis einer IAB-Studie entgegenhält: “Dabei ist für 75 Prozent der Hartz-IV-Empfänger die Arbeit das Wichtigste in ihrem Leben, diese Menschen wollen arbeiten”. Oder wenn er das Bild der “inaktiven” Hartz-IV widerlegt: “Wir wissen, dass 62 Prozent der Arbeit suchenden Hartz-IV-Empfänger direkt beim Arbeitgeber anklopfen, 71 Prozent von ihnen würden sogar eine Arbeit annehmen, für die sie überqualifiziert sind.” Ebenso wenig stimmt das Vorurteil vom schlecht ausgebildeten Hartz-IV-Bezieher: 73 Prozent haben einen Schulabschluss. 44 Prozent haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. “Wir haben 60.000 Arbeitslose mit einem akademischen Abschluss in unserer Kartei”, so Alt. Dass solche Informationen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ankommen, verschulden Journalisten, die solch miese Schlagzeilen produzieren. Und natürlich machen diese Vorurteile auch bei den Arbeitgebern nicht Halt, führ Alt aus: “Der vermeintliche Makel ‘Hartz IV’ und die damit verbundenen Vorbehalte gegenüber Arbeitsuchenden erschweren die Vermittlung ins Berufsleben erheblich.” – Und so wird wieder einmal am großen Rad der Volksverhetzung gedreht. Glaubt im Ernst jemand, dass hier Lukas, 23, 33 gilt: ” … sie wissen nicht, was sie tun”. Hier wird durch eine schlichte Umschichtung einer relativ bedeutungslosen Zahl zumindest Material für Volksverhetzung geliefert. Und bald werden Politiker bei passender Gelegenheit (Wahlen) die Steilvorlage aufnehmen und wie weiland Wolfgang Clement absurden Missbrauchszahlen einbringen oder gar wie dieser Broschüren herausgeben, mit den Titel: “Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat”, darin die Rede war von Schmarotzen, Trittbrettfahrern, Abzockern und Parasiten.