Vorwort
Vorwort
Von Christoph Butterwegge
I
Als jahrzehntelang an Hochschulen tätiger Politikwissenschaftler, dessen Hauptforschungsgebiete der Sozialstaat, seine Umstrukturierung nach neoliberalen Konzepten, die dadurch vermehrte Armut sowie der auf diese Weise geförderte Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt sind, beobachte ich seit geraumer Zeit, dass die soziale Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten gleichermaßen zunehmen, aber im gesellschaftlichen Diskurs und in den Massenmedien entweder gar nicht oder nur als Randnotizen vorkommen. Inhalte, die der Mehrheitsgesellschaft und damit auch der etablierten Politik einen kritischen Spiegel vorhalten, werden ungern behandelt. Mehr noch, sie werden mit einem Tabu belegt und aus der öffentlichen Debatte verdrängt.
Nicht bloß die Boulevardpresse macht gegen sozial Benachteiligte oft Stimmung auf Stammtischniveau. Manchmal ist selbst dann von »Parasiten« und »Sozialschmarotzern« die Rede, wenn verfassungsmäßig verbürgte Grundrechte in Anspruch genommen werden. In einer Gesellschaft, deren Leitbild bestimmt, dass »jeder seines Glückes Schmied« ist, werden die Benachteiligten zu Störenfrieden erklärt und aufgrund ihres persönlichen (Sucht-) Verhaltens selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht, wohingegen die gesellschaftlichen Eigentums-, Machtund Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet werden.
Da den gesellschaftlichen Eliten bzw. jenen Personengruppen, die sich dafür halten, zunehmend jedes Mitgefühl gegenüber den »Verlierern« der kapitalistischen Hochleistungsund Konkurrenzgesellschaft fehlt und ein Großteil der Mittelschicht lieber der »Radfahrermethode« folgend nach unten tritt und nach oben buckelt, als die Profiteure des bestehenden Wirtschaftsund Finanzsystems für die immensen Kosten seiner Krisen haftbar zu machen, breitet sich in unserem Land wie fast überall soziale Eiseskälte aus. Die Armen haben in unserer Gesellschaft keine Stimme, von einer mächtigen Interessenvertretung ganz zu schweigen. Umso notwendiger sind die NachDenkSeiten, mit deren Hilfe auch sie zu Wort kommen bzw. ihren Interessen beredt Ausdruck verliehen wird. Ein besonderes Verdienst der NachDenkSeiten besteht nämlich darin, dass sie sozialpolitische Themen aufgreifen und mit Daten, Fakten und Argumenten jene Forderungen untermauern, die Erwerbslosenbewegung, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände erheben. Für alle, die den Erhalt und den Ausbau des Sozialstaates (etwa zu einer solidarischen Bürgerversicherung) verlangen, sind die NachDenkSeiten unentbehrlich.
Obwohl Helmut Schmidt den Sozialstaat in einem Gespräch mit dem TV-Talkmaster Günther Jauch am 23. Oktober 2011 als »größte kulturelle Errungenschaft der europäischen Länder im Laufe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet hat, begann er gegen Mitte der 1970er-Jahre als Bundeskanzler, ihn »um-« beziehungsweise abzubauen. Während der 1980er-Jahre vollzog sich in Westdeutschland unter seinem Nachfolger Helmut Kohl eine tiefgreifende soziale Spaltung zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen, deren materielle Schlechterstellung zuerst im Gewerkschaftsbereich registriert und als »neue Armut« etikettiert wurde. Durch den Zusammenschluss von BRD und DDR am 3. Oktober 1990 bekam die Armut in Deutschland ein anderes Gesicht. Das soziale Problemfeld der Arbeitslosigkeit wie der Armut veränderte sich in seiner Struktur und verlagerte sich stärker nach Osten, wohingegen im alten Bundesgebiet zumindest manche Bewohner von einem mehrjährigen »Vereinigungsboom« profitierten. Die neue Armut war weder vorübergehender Natur, noch trat sie nur vereinzelt auf, sie war vielmehr ein Strukturproblem, das (in seiner ganzen Schärfe) entweder nicht erkannt oder bewusst negiert wurde.
Wer gehofft hatte, die 1998 entstandene rot-grüne Koalition werde eine Sozialpolitik machen, von der die Armen profitieren würden, sah sich getäuscht. (Langzeit-)Arbeitslose, Rentner/innen und Asylbewerber/innen blieben die Stiefkinder der Sozialpolitik: Sie kamen in der ganz auf Produktivität ausgerichteten, leistungsbeziehungsweise konkurrenzorientierten und auf die Verbesserung der Weltmarktposition des heimischen Kapitals fixierten Regierungspraxis von SPD und Bündnis 90/Die Grünen nur als »Kostenfaktoren auf zwei Beinen« vor. Erwähnt seien die Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch den damaligen Arbeitsund Sozialminister Walter Riester und die nach dem damaligen VW-Manager Peter Hartz benannten Arbeitsmarktreformen.
Die NachDenkSeiten haben die Riester-Rente sofort als gigantisches Subventionsprogramm für Finanzdienstleister, Banken und Versicherungskonzerne durchschaut. Eine kapitalgedeckte Altersvorsorge ist keine Lösung für das Problem der alternden Bevölkerung, sondern ähnlichen Risiken wie das bestehende Umlagesystem ausgesetzt, unterliegt jedoch – wie wir derzeit feststellen können – zusätzlich den Turbulenzen der Finanzmärkte und fördert sie. Pensionsfonds erhöhen das Anlagevolumen, wodurch die Gefahr zunimmt, dass sich Spekulationsblasen bilden. Wie der demografische Wandel, also die kollektive Alterung unserer Gesellschaft und die gleichfalls wenig dramatische Tendenz zum Bevölkerungsrückgang, instrumentalisiert wird, um die (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge beziehungsweise ihre Umstellung auf Kapitaldeckung durchsetzen zu können, und welche enorme Wirkungsmacht die Demografie als Mittel der sozialpolitischen Demagogie in weiten Kreisen der Öffentlichkeit entfaltete, haben die NachDenkSeiten herausgearbeitet.
Auch die sogenannten Hartz-Gesetze wurden als das entlarvt, was sie sind, nämlich ein gesellschaftspolitisches Großprojekt, welches das Versagen der Wirtschaftsund Beschäftigungspolitik in ein persönliches Versagen umdefinierte und Erwerbslose in Arbeit zwingen sollte, egal zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis. Fälschlich als »Zusammenlegung mit der Sozialhilfe« bezeichnet, war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ein gravierender Rückschritt in der Entwicklung des Arbeitsund Sozialrechts. Im Unterschied zur früheren Arbeitslosenhilfe – einer den Lebensstandard sichernden und sich selbst Jahrzehnte später nach der Höhe des früheren Nettoverdienstes richtenden Lohnersatzleistung – soll die Grundsicherung für Arbeitsuchende nur deren Existenz sichern. Das am 1. Januar 2005 eingeführte Arbeitslosengeld II würde besser »Sozialhilfe II« heißen, weil es nicht bloß Arbeitslose, sondern auch Geringverdiener/innen erhalten, und weil es genauso niedrig ist wie die Sozialhilfe. Hartz IV sollte durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, aber auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr »Beschäftigungsanreize« im untersten Lohnsegment schaffen und massiven Druck auf die Belegschaften ausüben, um das Lohnund Gehaltsniveau zu senken.
Mittlerweile ist der wachsende Niedriglohnsektor denn auch zum Haupteinfallstor für die Armut in Deutschland avanciert. Bis heute umstritten ist die Frage, ob die Grundsicherung für Arbeitsuchende nur vorher verdeckte Armut sichtbar gemacht oder neue Armut erzeugt hat. Vermutlich ist beides der Fall: Einerseits nahmen und nehmen das Arbeitslosengeld II auch viele Menschen, vor allem Geringverdiener/innen, sogenannte Freiberufler/innen und (Solo-)Selbstständige, in Anspruch, die aus Scham nicht zum Sozialamt gegangen wären, um »Stütze« zu beantragen, andererseits erhalten mehrere hunderttausend frühere Empfänger/innen von Arbeitslosenhilfe seither weniger oder gar kein Geld mehr, weil das Partnereinkommen (zum Beispiel gut verdienender Ehemänner und Lebenspartner) bei Hartz IV sehr viel strikter auf den Leistungsanspruch der Antragsteller/innen (überwiegend Frauen) angerechnet wird.
Nach Angela Merkels Wahl zur Bundeskanzlerin wurde Gerhard Schröders »Agenda«-Politik in einer Neuauflage der Großen Koalition in abgewandelter Form fortgesetzt. CDU, CSU und SPD wollten die Lebensarbeitszeit unter Hinweis auf den demografischen Wandel verlängern und 2007 – wie im Koalitionsvertrag angekündigt – die gesetzliche Grundlage für eine 2012 beginnende und für den ersten Jahrgang bis spätestens 2035 abgeschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre schaffen. Am 1. Februar 2006 preschte der damalige Arbeitsund Sozialminister Müntefering mit der Idee vor, das gesetzliche Renteneintrittsalter schneller anzuheben, als es die sogenannte Rürup-Kommission empfohlen und die Große Koalition vereinbart hatte: Nach dem auf Drängen des Vizekanzlers vom Bundeskabinett gefassten Beschluss erhöht sich das Regelrentenalter 2012 für den Geburtsjahrgang 1947 um einen und für Folgejahrgänge jedes Jahr um einen weiteren Monat, bis der Jahrgang 1958 im Alter von 66 Jahren eine abschlagsfreie Rente ab 2023 bezieht; für die Folgejahrgänge beschleunigt sich die Anhebung der Altersgrenze um jeweils zwei Monate pro Jahr, bis der Jahrgang 1964 bereits 2029 erst mit 67 Jahren in Rente gehen kann. Nur wenige Publikationsorgane, darunter die NachDenkSeiten, haben die neoliberale Standortlogik hinter der »Rente mit 67« erkannt und diese als verkappte Rentenkürzung und als Geschenk an die (Groß-) Unternehmen kritisiert.
Die nach der Bundestagswahl 2009 gebildete CDU/CSU/FDPRegierung, von ihren Wegbereitern als »Wunschkoalition der bürgerlichen Mitte« tituliert, macht mehr denn je eine Politik nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben, und wer kaum etwas hat, dem wird auch das noch genommen. Einerseits sollten angeblich der »Wachstumsbeschleunigung« dienende »Korrekturen« der Unternehmenund Erbschaftsteuerreform (zum Beispiel Rücknahme der »Zinsschranke«, der Mindestbesteuerung der Schlechterstellung von Geschwistern, Nichten und Neffen beim Erbschaftsteuersatz) sowie Entlastungen der Erben von Familienunternehmen (Verkürzung der Behaltensfrist und Absenkung der Lohnsumme, die zur Befreiung von der betrieblichen Erbschaftsteuer führt) die »Leistungsträger« belohnen und ihnen zusätzliche Profite ermöglichen.
Andererseits wurde der Sozialabbau durch das im Sommer 2010 geschnürte »Zukunftspaket« (zum Beispiel Beschleunigung des Sturzes in die Armut durch Streichung des Zuschlages beim Übergang vom Bezug des Arbeitslosengeldes zum Bezug des Arbeitslosengeldes II, Anrechnung des Elterngeldes auf die Transferleistung und Ausschluss der Langzeitarbeitslosen aus der gesetzlichen Rentenversicherung) sowie die Hartz-IV-Neuregelung im Frühjahr 2011 (zum Beispiel Verschärfung der Sanktionen, Verzicht auf Regelsatzerhöhungen bei Kindern beziehungsweise Jugendlichen und Schaffung der Möglichkeit einer Pauschalierung von Mietund Heizkosten) vorangetrieben.
II
Bei den kritischen Geistern unseres Landes haben sich die NachDenkSeiten nicht zuletzt durch ihre fundierte Kritik des Neoliberalismus einen Namen gemacht. Während sich der »klassische« Liberalismus als fortschrittliche Bewegung des Bürgertums in erster Linie gegen den Feudalstaat beziehungsweise seine Überreste richtete, bekämpft der Neoliberalismus – verstanden als eine Wirtschaftstheorie, Ideologie und politische Zivilreligion, die den Staatsinterventionismus zurückdrängen und den Markt zum universalen, alle Gesellschaftsbereiche übergreifenden Regulierungsmechanismus erheben möchte – vorrangig den Sozialstaat. Die NachDenkSeiten haben den sozialen Klimawandel, der durch die neoliberale Reformpolitik, die »Agenda 2010« und die HartzGesetze eingeleitet wurde, früh als tiefe gesellschaftliche Zäsur erkannt und seine negativen Folgen für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland aufgedeckt.
Was gegenwärtig stattfindet, ist keineswegs der Niederoder Untergang des Neoliberalismus, seinem öffentlichen Abgesang zum Trotz. Kaum hatte die Finanzmarktkrise das neoliberale Projekt in der Praxis widerlegt und seine Vorherrschaft in der öffentlichen Meinung zumindest erschüttert, wehrten sich führende Repräsentanten dieser Richtung gegen angebliche Verteufelungsbemühungen und gingen zum argumentativen Entlastungsangriff beziehungsweise zur ideologischen Gegenoffensive über. Statt nachhaltig Lehren aus dem Krisenfiasko zu ziehen, tun neoliberale Professoren, Publizisten und Politiker/innen gern so, als hätten sie immer schon prophezeit, dass die Blase an den Finanzmärkten irgendwann platzen werde. Die meisten Hohepriester der Marktfreiheit weisen jede Mitschuld am Bankenund Börsenkrach von sich, sprechen in Anlehnung an John Maynard Keynes heute zum Teil selbst vom »Kasinokapitalismus« und erwecken damit den Eindruck, sie hätten womöglich eher als Globalisierungsund Kapitalismuskritiker/innen vor dessen schlimmen Auswüchsen gewarnt. Sehr geschickt nutzen prominente Neoliberale auch die TV-Talkshows und andere öffentliche Bühnen, um »der Politik« den Schwarzen Peter zuzuschieben. Entweder wird das Desaster auf die Fehlentscheidungen einzelner Personen (Spitzenmanager, Investmentbanker) oder auf das Versagen des Staates und seiner Kontrollorgane (Politiker, Finanzaufsicht) reduziert.
All das unterstreicht nur die fehlende Bereitschaft der verantwortlichen Politiker/innen wie Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, einen Kurswechsel zu wagen, und die Notwendigkeit für deren Kritiker/innen wie die NachDenkSeiten, inhaltliche und programmatische Alternativen zu erzwingen. Zwar befindet sich der Neoliberalismus in einer Legitimationskrise, seinen dominierenden Einfluss auf die Massenmedien und die öffentliche Meinung sowie die politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozesse hat er bisher jedoch weder hierzulande noch im Weltmaßstab eingebüßt. Obwohl die Finanzmarktkrise von den angelsächsischen Musterländern einer »freien Marktwirtschaft« ausging, ist die neoliberale Vorherrschaft in der Bundesrepublik, der Europäischen Union und den USA vielmehr ungebrochen.
Ursächlich für die schwerste Wirtschaftsund Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg sind nicht bloß der Kapitalismus als solcher und die ihm eigene Tendenz zur Überakkumulation beziehungsweise Überproduktion im Rahmen »normaler« Konjunkturzyklen, sondern auch seine jüngsten Strukturveränderungen. Um die globale Finanz-, Weltwirtschaftsund Währungskrise der Jahre 2007 folgende erklären sowie ihre Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen begreifen zu können, muss man das Wesen und die spezifischen Charakterzüge des Gegenwartskapitalismus berücksichtigen. Zutreffend ist meist von »Finanzmarktkapitalismus« die Rede, für den nicht auf geregelten Märkten gehandelte Kapitalbeteiligungen (Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften) und Spekulationsblasen unterschiedlicher Art kennzeichnend sind.
Die meisten Debattenbeiträge zu möglichen Krisenursachen bleiben allerdings an der Oberfläche, statt bis zu den Wurzeln der Krisenhaftigkeit vorzustoßen. Wenn die globale Finanz-, Weltwirtschaftsund Währungskrise nicht einfach ignoriert oder in ihrer zentralen Bedeutung für das gesellschaftliche Leben relativiert wird, begreift man sie meistens entweder als eine Art Naturkatastrophe, die wie eine Sturmflut über die Weltwirtschaft hinweggefegt ist, oder als Folge des Versagens einzelner Personen, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden, sondern der »Verlockung des Geldes« erlegen sind. In diesem Zusammenhang werden vor allem der Größenwahn des Spitzenmanagements, die Gier der Boni in Millionenhöhe kassierenden Investmentbanker und der Börsenspekulanten sowie der Geiz von Großinvestoren für die Misere verantwortlich gemacht.
Die sogenannte Eurobeziehungsweise »Staatsschuldenkrise« ist eine mittelbare Folge und die Fortsetzung der Finanzmarktkrise 2007/08 auf einer anderen Ebene. Den eigentlichen Ausgangspunkt dieses Krisengeflechts bildete die staatlicherseits geförderte Ungleichheit in der Einkommensund Vermögensverteilung. Da die Reichen immer reicher und die Armen zahlreicher geworden sind, haben einerseits die spekulativen Anlagen auf den Finanzmärkten neue Rekordhöhen erreicht, während andererseits die zur Stärkung der Binnenkonjunktur in Krisenphasen nötige Massenkaufkraft fehlt. Ähnliches gilt für die Krisenerscheinungen und Schuldenprobleme im Euro-Raum: Da die Bundesrepublik durch jahrzehntelange Reallohnsenkungen noch exportstärker geworden ist, haben andere EU-Länder, besonders die an der südlichen Peripherie gelegenen, ihr gegenüber so drastisch an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, dass sie ihre wachsenden Importe über Kredite finanzieren mussten.
Entscheidend ist letztlich immer, wer am Ende die Zeche zahlt: Während die das Krisendebakel wesentlich mit verursachenden Hasardeure und Spekulanten mittels des beim Bund angesiedelten »Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung« (SoFFin) und der »Euro-Rettungsschirme« (EFSF und ESM) aufgefangen werden, müssen die Arbeitnehmer/innen, Erwerbslosen und Rentner/innen der EU-Staaten jene Suppe, die Banker, Broker und Börsianer der gesamten Bevölkerung eingebrockt haben, einmal mehr auslöffeln.
Versagt haben in der jüngsten Bankenkrise nicht allein das Spitzenmanagement, die Aufsichtsräte und ihre politischen Kontrolleure in Regierung und Verwaltung, sondern auch die Medien als öffentliches Korrektiv, weil sie eng damit verquickt und fast ausnahmslos von der neoliberalen Pseudophilosophie und der alles beherrschenden Marktmythologie beseelt sind. Den am Krisenmanagement von Bundeskanzlerin Angela Merkel zweifelnden Menschen stehen nur wenige Informationsquellen zur Verfügung, die das Interessengeflecht zwischen Staat und Finanzwirtschaft durchdringen, Zusammenhänge herstellen und Hintergründe ausleuchten. Zweifellos gehören die NachDenkSeiten zu den Organen, die unabhängig über das Zeitgeschehen berichten, es kritisch beurteilen und es bissig kommentieren. Sie konnten allerdings nicht verhindern, dass Marktradikale, die nach dem Bankrott ihrer Liberalisierungs-, Deregulierungsund Privatisierungskonzepte in Sack und Asche hätten gehen müssen, schnell wieder Oberwasser bekamen.
Selbst massive Staatseingriffe wie das im Oktober 2008 unter maßgeblicher Beteiligung von Spitzenvertretern des Bankenverbandes und der betroffenen Finanzinstitute geschnürte 480-Milliarden-Euro-Paket zur Rettung maroder Banken waren nunmehr erwünscht, weil hierdurch die Börsen stabilisiert und die Gewinnaussichten der Unternehmen verbessert wurden. Dabei handelte es sich um einen »marktkonformen« Staatsinterventionismus im Sinne der Monopolwirtschaft und der privaten Großbanken, die entsprechende Konzepte selbst vorgeschlagen und teilweise gemeinsam mit den zuständigen Ministerien entwickelt haben. Kann man sich vorstellen, dass Ursula von der Leyen die erwähnte Hartz-IV-Neuregelung unter Mitwirkung von Arbeitslosenforen und Armutskonferenzen, also Initiativen direkt Betroffener, auf den Weg gebracht hätte?
Das für den Gegenwartskapitalismus kennzeichnende Kasino im Finanzmarktbereich wird derzeit nicht etwa – wie es zum Beispiel die globalisierungskritische Organisation attac verlangt – geschlossen, sondern mit Steuergeldern saniert und modernisiert. Enttäuscht wurde nicht bloß die Hoffnung auf einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, sondern auch die Hoffnung auf das Ende der neoliberalen Hegemonie im Geistesleben. Schließlich wäre die Vorstellung naiv, der Neoliberalismus hätte seine Macht über das Bewusstsein von Millionen Menschen verloren, nur weil sie um ihr Erspartes fürchten und mit ihren Steuergeldern für Spekulanten und Finanzjongleure einspringen müssen. Da die ökonomische, soziale und politische Krise als Drohkulisse beziehungsweise als Disziplinierungsinstrument benutzt wird, herrscht derzeit ein größerer Konformismus als je zuvor seit den späten 1960er-Jahren.
Der neoliberale Dreiklang von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung ist zwar durch die globale Finanz-, Wirtschaftsund Währungskrise in Verruf geraten, wird aber eine Renaissance erleben, wenn sich kein Protest dagegen regt. Die öffentliche Meinungsführerschaft derjenigen, die den Markt, Konkurrenz und privates Profitstreben ins Zentrum der Gesellschaftsentwicklung rücken, bleibt so lange ungebrochen, wie kaum konkrete und wissenschaftlich fundierte Gegenmodelle existieren. Umso notwendiger erscheint die intensive Beschäftigung mit den wirtschaftsund gesellschaftspolitischen Konzepten, die auf eine umfassende Deregulierung sowie eine weitgehende Privatisierung staatlicher (Groß-)Unternehmen, öffentlicher Dienstleistungen und sozialer Risiken abzielen. Die NachDenkSeiten haben dem betriebswirtschaftlichen Tunnelblick, wie er für Neoliberale in allen Gesellschaftsbereichen typisch ist, stets eine klare Absage erteilt und vor dem Irrweg des angebotsorientierten Wirtschaftsdogmas gewarnt. Sie gehören zu den wenigen Stimmen in Deutschland, die trotz der Übermacht neoliberalen Denkens die Bedeutung der Nachfrage im Wirtschaftskreislauf nie aus dem Auge verloren haben.
III
Die soziale Frage ist zuletzt umso mehr auf der Strecke geblieben, je stärker »Rettungsschirme« für die Banken und den Euro (genauer: die Kapitalanleger) ins Zentrum der Politik gerückt sind. Mittlerweile beherrscht die Sorge um die Stabilität der europäischen Währung den öffentlichen Diskurs so einseitig, dass die Polarisierung in Arm und Reich aus dem Blick und die soziale Gerechtigkeit unter die Räder zu geraten droht. Zwar sind die Verelendungstendenzen hierzulande viel weniger dramatisch als etwa in Athen, wo 25000 Obdachlose durch die Stadt irren und die Suppenküchen wie Pilze aus dem Boden sprießen. Aber auch die deutsche Gesellschaft zerfällt immer mehr. Beispielsweise beläuft sich das Vermögen der Familie Albrecht, Eigentümerin der Aldi-Ketten Nord und Süd, nach Angaben des US-Wirtschaftsmagazins Forbes mittlerweile auf 43,2 Milliarden US-Dollar. Die Familie Quandt-Klatten, zweitreichste der Bundesrepublik, hat 2012 allein aus BMW-Aktien 650 Millionen Euro an Dividenden erlöst. Gleichzeitig frisst sich die Armut immer mehr in die Mitte der Gesellschaft hinein. Knapp ein Viertel der Beschäftigten arbeiten mittlerweile im Niedriglohnsektor, verdienen also weniger als zwei Drittel des Durchschnitts. Dass circa 600 000 Haushalten pro Jahr der Strom und/oder das Gas abgestellt wird, zeigt zur Genüge, dass es auch in einem so reichen Land wie dem unseren Not und Elend gibt.
Ebenso wie die EU-Gipfeldiplomatie hinter verschlossenen Türen ist der Sozialabbau eine akute Gefahr für die Demokratie. Diese beinhaltet nämlich mehr als die Möglichkeit, alle vier oder fünf Jahre eine Wahlurne aufsuchen zu dürfen. Sie impliziert darüber hinaus, dass alle Wohnbürger/innen eines Landes über dessen Schicksal mitbestimmen können, also in die politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Aber wie soll eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug, die am 20. des Monats für sich und ihre Kinder selbst dann kein warmes Essen mehr auf den Tisch bringt, wenn sie keiner Stromsperre der Stadtwerke unterworfen ist, Einfluss auf Regierungsbeschlüsse und Gesetzgebungsprozesse nehmen?
Wenn selbst Teile der gehobenen Mittelschicht die Angst vor dem sozialen Abstieg oder Absturz ergreift, wächst die Gefahr, dass sich Ausgrenzungsideologien wie Rassismus, Nationalismus und Sozialdarwinismus innerhalb einer Gesellschaft durchsetzen. Es war immer schon ein Kernbestandteil des deutschen Nationalismus, sich von aller Welt ausgenutzt zu fühlen. Obwohl es sich bei den »Euro-Rettungsschirmen« um Kredite beziehungsweise Bürgschaften handelt und sich die Bundesrepublik mittlerweile Geld auf den Finanzmärkten leihen kann, ohne dafür Zinsen entrichten zu müssen, fühlt sich Deutschland teilweise als Zahlmeister der EU und spielt sich dort als Zuchtmeister auf.
Thilo Sarrazins neuester Bestseller Deutschland braucht den Euro nicht vermittelt den Eindruck, dass alle Völker nur unsere »harte« Währung wollen. Sarrazin knüpft einmal mehr geschickt an bestehende Ressentiments an und verbreitet Stammtischparolen. War es in seinem Buch Deutschland schafft sich ab das Klischee vom Hartz-IV-Empfänger, der nicht mit Geld umgehen kann, und vom Migranten muslimischen Glaubens, der faul in der Hängematte des Sozialstaates liegt, so fügt ihnen Sarrazin nun das Klischee vom faul in der Sonne liegenden und »unser sauer erarbeitetes Steuergeld« verprassenden Südländer hinzu. Er setzt seinen Feldzug fort, der in Richtung rechtspopulistischer Parteien weist, die ja in mehreren europäischen Ländern Aufsehen erregende Wahlerfolge feiern. Ein »seriöser Rechtspopulismus«, wie ihn Marine Le Pen in Frankreich zu verkörpern sucht, hat bei uns bislang keine Chance gehabt. Am ehesten kann wohl ein früherer Berliner Finanzsenator und Ex-Bundesbanker die Quarantäne durchbrechen, in der sich die extreme Rechte in Deutschland seit 1945 befindet. Sarrazin bereitet womöglich publizistisch vor, was später auch parteipolitisch mehr Erfolg haben und sich zu einer Gefahr für die Demokratie entwickeln kann.
Solche dunklen Seiten der Gesellschaftsentwicklung leuchten die NachDenkSeiten aus, ohne in Resignation oder in Pessimismus zu verfallen, machen vielmehr Mut zu politischem Engagement, indem sie zum Zweifel und zum eigenständigen Denken gegenüber dem gängigen Meinungsstrom anregen. Sie machen nachvollziehbar, warum es zu Strukturbrüchen etwa in der Rentenoder der Arbeitslosenversicherung gekommen ist, wie das Lohndumping zu den Leistungsbilanzüberschüssen geführt hat, durch die unsere europäischen Nachbarn in die Schuldenfalle gerieten, während ihre Volkswirtschaften gezielt »niederkonkurriert« wurden. Besonders rühmlich ist, dass sich die NachDenkSeiten nicht scheuen, in einem ideologisch verminten Gelände klar und deutlich Position zu beziehen, obwohl kritische Überlegungen angesichts des neoliberalen Mainstreams in Politik und (Fach-)Publizistik bisher noch auf zu wenig Resonanz stoßen. Das neue Jahrbuch bietet einen kompakten Rückblick auf jene Fehler, die unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesregierung zur Eurokrise, zur Verelendung einiger südeuropäischer Staaten und hier wie dort zur Ausschaltung demokratischer Entscheidungsmechanismen geführt haben. Was von einem Krisengipfel zum anderen führen musste, zeichnen mehrere Beiträge nach. Sie enthüllen, wie das europäische Sozialmodell durch eine rücksichtslose Austeritätspolitik, die Parallelen zu den Notverordnungen des Reichskanzlers Heinrich Brüning im Endstadium der Weimarer Republik aufweist, ramponiert und die Demokratie in den EU-Mitgliedstaaten durch die strikten Vorgaben des Fiskalvertrages (»Schuldenbremse«) stranguliert wird.
Wer – wie ich – ein beinahe sinnliches Verhältnis zu Büchern hat und schon deshalb eher »Offliner« ist, bekommt durch das Jahrbuch wenigstens ausschnittsweise in gedruckter Form nachgeliefert, was die Besucher der NachDenkSeiten tagesaktuell aus dem Netz ziehen. Übersichtlich strukturiert und nach Themenbereichen gebündelt lässt sich eine kritische Chronik der Fehlentwicklungen des vergangenen Jahres in Ruhe nachlesen. Hier wird auch fündig, wer sich nicht auf Suchmaschinen (allein) verlassen und nicht endlos durch Texte »scrollen« möchte. Man kann dem Jahrbuch nur eine möglichst weite Verbreitung wünschen, damit seine Informationen und die damit verbundenen kritischen Positionen die Debatte um die Zukunft von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft befruchten.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft und ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) an der Universität zu Köln. 2012 sind von ihm die Bücher »Armut in einem reichen Land« sowie »Krise und Zukunft des Sozialstaates« erschienen.
Bibliographie
Albrecht Müller, Wolfgang Lieb
„Nachdenken über Deutschland. Das kritische Jahrbuch 2012/2013“
Westend Verlag, Oktober 2012, 256 Seiten,
14,99 €
ISBN 978-3-86489-030-7
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