Lügen mit Zahlen auf dem „Lehrstellenmarkt“
Widersprüchlicher könnten die Schlagzeilen an ein und dem gleichen Tag nicht sein: „Insgesamt gute Situation auf dem Ausbildungsmarkt“, meldeten gestern die Partner des Ausbildungspaktes und die Bundesagentur für Arbeit.
Eine Expertise des Deutschen Gewerkschaftsbundes stellte dieser Erfolgsmeldung folgende Zahlen entgegen: „Im Jahr 2011 befanden sich insgesamt rund 294.000 Jugendliche in den Maßnahmen des Übergangsbereichs. Damit mündeten 28,4 Prozent der Neuzugänge im gesamten Berufsbildungssystem in diesen Teilbereich ein, der keinen qualifizierten Berufsabschluss bietet [PDF – 104 KB].“
Wer hat nun Recht? Die Schönredner vom sog. „Ausbildungspakt“, den die Bundesregierung und die Spitzenverbände Wirtschaft sowie die Kultusministerkonferenz unterschrieben haben, oder die angeblichen Miesmacher von der Gewerkschaft? Von Wolfgang Lieb.
Zum 30.9. 2012 seien erneut mehr unbesetzte Ausbildungsplätze (33.300) als unversorgte Bewerber (15.700) vorhanden. Es gebe also einen Überhang von 17.600 Stellen. 35.300 Betriebe seien erstmalig für die Ausbildung gewonnen worden. “Insgesamt haben wir mehr unbesetzte Stellen als unversorgte Bewerber”, sagte Raimund Becker, Vorstand bei der Bundesagentur für Arbeit (BA). “Für die Betriebe wird es immer schwerer, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen”, sagte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Otto Kentzler, meinte, die Einstellungsbereitschaft in den Betrieben sei hoch. “Wichtig ist, dass die Jugendlichen bereit sind, etwas zu leisten.”
Wenn man also auf die Regierung, auf die Bundesagentur und die Wirtschaftsvertreter hört, scheint auf dem „Lehrstellenmarkt“ alles in bester Ordnung zu sein; die jungen Leute brauchten nur auf die unbesetzten Ausbildungsplätze zuzugreifen, dazu müssten sie nur ein bisschen flexibler, mobiler und leistungsbereiter sein und vor allem sei eine „Haltungs- und Mentalitätswechsel“ bei den jungen Leuten nötig, „damit sie nicht nur 10 von 300 Ausbildungsberufen kennen“ . Das hört sich dann so an, als seien die Jugendlichen selbst schuld, wenn sie ihre Chance nicht ergreifen. So soll man wohl diese Botschaften auch verstehen.
Liest man aber nicht nur die Überschriften der Jubelmeldungen und hört nicht nur auf die Schönrednereien der Vertreter der Wirtschaft, sondern studiert dazu auch noch die Zahlen die die „Paktpartner“ nach ihrer gestrigen Sitzung der Presse mitteilten, dann kommt man schon ein wenig ins Stutzen:
Im Berufsberatungsjahr 2011/2012 wurden bei den Agenturen für Arbeit und Jobcentern insgesamt 517.100 Ausbildungsstellen gemeldet, das waren annähernd so viele wie im Vorjahr (-0,5 Prozent). Bei den betrieblichen Ausbildungsplätzen betrug der Zuwachs 2,1 Prozent, die Zahl der gemeldeten außerbetrieblichen Ausbildungsplätze sank hingegen erheblich. Die Zahl der gemeldeten Bewerber stieg, auch als Folge doppelter Abiturjahrgänge, um 16.800 auf 559.900 (+3,1 Prozent) an.
Zwischen Angebot und Nachfrage bleibt also schon mal eine Lücke von 43.000.
Die neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge sind zum Stichtag Ende September im Handwerk um 2,9 Prozent auf 137.646 und bei Industrie und Handel um 1,7 Prozent auf 322.806 Ausbildungsverträge zurückgegangen. Auch bei den Freien Berufen gab es ein Minus von einem Prozent auf 42.703 Verträge. Insgesamt bleibt ein Minus von 3,4 Prozent gegenüber dem letzten Jahr. Für das Handwerk „ein historisch niedriges Ergebnis“, räumt der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) immerhin ein.
Vollends ins Staunen gerät man dann aber über die Anmerkung des Vorstandsmitglieds der Bundesagentur für Arbeit, Raimund Becker, nämlich dass auch in diesem Jahr wieder 60.000 Jugendliche in „Übergangssystemen“ gelandet seien. Das sind laut Matthias Anbuhl vom DGB 28,4 Prozent der Neuzugänge. Insgesamt befänden sich 294.000 junge Leute in diesem Übergangsbereich. Aber für die Bundesagentur für Arbeit ist es schon eine Erfolgsmeldung, dass diese Zahl in den letzten fünf Jahren von 400.000 auf knapp 300.000 verringert worden sei. Misst man die Zahl von 300.000 im Übergangsbereich mit dem Lehrstellenangebot des Handwerks, das doch angeblich „händeringend nach Nachwuchskräften“ sucht, so nehmen sich die knapp 140.000 neuen Ausbildungsplätze in diesem Sektor allerdings doch sehr bescheiden aus.
So sieht also unser „erfolgreiches System der beruflichen Bildung“ aus (Bundesbildungsministerin Annette Schavan), diejenigen jungen Leuten die keinen Ausbildungsplatz ergattern können, fallen aus der Statistik des „Lehrstellenmarktes“ und landen in einer „Warteschleife“ und schon ist alles gut.
Die Partner des „Bildungspakts“ klopfen sich gegenseitig auf die Schultern und führen die Öffentlichkeit mit angeblich offenen Lehrstellen an der Nase herum. Nach der Methode „Haltet den Dieb“ zeigen sie mit den Fingern auf die Jugendlichen, die eben nicht ausbildungsreif oder einfach zu unbeweglich seien.
Wir stoßen, wie so oft bei den Arbeitsmarktstatistiken, auch beim „Lehrstellenmarkt“ auf Lügen mit Zahlen.
Man könnte sich ja über diese statistische Täuschung hinwegtrösten, wenn die zahlreichen Maßnahmen im Übergang zwischen Schule und Ausbildung, wenn also die Bewerbungstrainings, die Praktika oder das Nachholen von Schulstoff die Chancen auf einen Ausbildungsplatz verbessern würden. Doch Berufsvorbereitung, Berufsgrundbildung, teilqualifizierende Berufsfachschulen oder Einstiegsqualifizierungen sind weniger eine Vorbereitung auf eine voll qualifizierende (insbesondere duale) Ausbildung, sondern sie führen meist ins berufliche Abseits.
Jeder dritte Jugendliche im Übergangsbereich mündet auch noch nach zwei Jahren nicht in eine Berufsausbildung ein. Auf 2,2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren hat sich bis zum Jahr 2011 die Zahl derjenigen erhöht, die keinen Berufsabschluss haben, das sind rund 15 Prozent dieser Altersgruppe. „Diese „abgehängte Generation“ wird kaum ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können“, ihr droht ein Leben in Arbeitslosigkeit oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen, heißt es in der Expertise des DGB.
Weder die vielzitierte „demografische Entwicklung“, noch der oft beschworene Fachkräftemangel haben an der „vor sich hergeschobenen ´Bugwelle` unbefriedigter Nachfrage“ (so zitiert Anbuhl den Nationalen Bildungsbericht 2006) Wesentliches geändert. Zwar ist die Zahl der Jugendlichen im Übergangssystem zwar seit 2009 von 348.000 auf 294.000 zurückgegangen, doch immer noch landet fast jeder dritte Jugendliche, der eine betriebliche Ausbildung sucht „im Dschungel der Maßnahmen“ (Anbuhl).
162.550 (29,0 Prozent) der insgesamt 559.877 Bewerberinnen und Bewerber auf Berufsausbildungsstellen im Berufsberatungsjahr 2011/2012 waren schon im Vorjahr von den Arbeitsagenturen und Jobcentern registriert (Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugend berufshilfe e.V. (BIAJ) [PDF – 76.1 KB])
Das Jammern der Wirtschaft über die mangelnde „Ausbildungsreife“ muss man in aller Regel als wohlfeile Ausrede bezeichnen. Über drei Viertel derjenigen, die in den Übergangsbereich abgedrängt werden, verfügt über einen Schulabschluss, nahezu jeder vierte Neuzugang sogar über einen mittleren Abschluss. Aber aufgrund des chronischen Ausbildungsplatzmangels und der vielen Bewerberinnen und Bewerber konnten die Ausbildungsplatzanbieter in den zurückliegenden Jahren nach dem Prinzip der „Bestenauslese“ einstellen. Bei der Hälfte aller Ausbildungsberufe gibt es inzwischen eine „faktische Abschottung“ für Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss.
Das Abschieben in den Übergangsbereich hängt auch nicht mit dem wirtschaftlichen Gefälle zwischen den einzelnen Ländern oder mit dem sog. „Nord-Süd-Gefälle“ zusammen: Bayern zählte 2011 zwar lediglich 15,7 Prozent der Neuzugänge im Übergangsbereich, aber im „reichen“ Baden-Württemberg waren es 39,1 Prozent, also mehr als es etwa in Niedersachsen waren. (Siehe Tabelle 2 der Expertise von Matthias Anbuhl)
Auch die Szenarien über die zukünftige Entwicklung des Übergangsbereichs sehen nicht rosiger aus, wenn sich das Angebot an Ausbildungsplätzen nicht deutlich erhöht. Doch die Quote der Ausbildungsbetriebe lag 2011 mit 22,5 Prozent auf dem tiefsten Stand seit 1999. Daran hat sich auch nicht viel geändert, auch wenn in diesem Jahr einige tausend Betriebe mehr Auszubildende aufgenommen haben.
Diese ernüchternden Zahlen über den „Lehrstellenmarkt“ können keineswegs nur als das typische gewerkschaftliche Klagelied abgetan werden, selbst die gewiss wirtschaftsnahe OECD stellte in ihrem jüngsten „Blick“ auf die Bildung fest, dass sich „12,0% der 15- bis 29-Jährigen …weder in Beschäftigung noch in Bildung oder Ausbildung“ befinden [PDF – 1.1 MB]“.
Bildungsministerin Schavan sagte nach der Sitzung des Lenkungsausschusses des Bildungspakts: Ein Schwerpunkt des Ausbildungspaktes sei die “Beratung, Begleitung, Qualifizierung derer, die sich schwer tun”. So könnten durch eine “Potenzialanalyse” schon in der siebten Klasse die Fähigkeiten eines Schülers ermittelt werden. Praktika noch in der Schulzeit sowie die Hilfe individueller Berater könnten die Chancen junger Menschen beim Übergang in die Berufswelt verbessern.
Wie aber die Warteschleifen im Übergangsbereich abgebaut werden könnten und welche Maßnahmen erforderlich wären um diesen „Dschungel“ zu lichten, darüber schweigen sich sowohl die Bildungsministerin als auch die übrigen die Partner des „Bildungspakts“ aus.
Der DGB hat hier Vorschläge gemacht, die dringend auf die Tagesordnung der Schönredner des „Bildungspaktes“ gehörten.
Als allgemeines Fazit bleibt jedoch: Die beste „Potenzialanalyse“ und noch mehr Praktika dürften die Lage auf dem „Lehrstellenmarkt“ nicht verbessern, wenn nicht mehr Lehrstellen angeboten werden.