Die Zerstörung des sozialen Immunsystems – am Beispiel der von der Stadt Gießen geplanten Privatisierung des Wochenmarkts

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

In der Gießener Stadtverwaltung gibt es offenbar Pläne, den dortigen Wochenmarkt zu privatisieren, für dessen Betrieb bisher die Stadt zuständig ist. Der Markt gehöre, so lässt die Oberbürgermeisterin verlauten, zu den „defizitären Einrichtungen“, die den Haushalt der Stadt belasteten. Mit 26.000 Euro habe der Eigenbetrieb Wochenmarkt im Jahr 2011 zu Buche geschlagen. Die Kosten fallen an für die Auswahl und Zulassung der Beschicker, die Führung der Gebührenkasse, die Marktaufsicht inklusive Reinigung und Instandhaltung des Marktgeländes und Abfallentsorgung. Man befinde sich gegenwärtig in einem „Interessenbekundungsverfahren“ und verhandle mit möglichen neuen Betreibern. Von Götz Eisenberg[*]

Die Berufung auf Sachzwänge, die in solchen Zusammenhängen gern erfolgt, versucht eine unerreichbare Schicksalsmacht für eine Realität verantwortlich zu machen, die in Wirklichkeit von Menschen verursacht und darum von Menschen auch korrigierbar ist. Die Privatisierung des Wochenmarktes würde den baldigen Tod einer Institution bedeuten, die für das soziale Immunsystem der Stadt eine enorme Bedeutung hat. Er ist, um in einem Bild zu sprechen, das emotionale Herzstück der Stadt. Viele Gießener nennen, wenn man sie fragt, was sie an diese ansonsten reichlich unattraktive Stadt bindet, an erster Stelle den Wochenmarkt.

Ein privater Betreiber würde den Markt nur aus einem einzigen Grund betreiben: Er will einen Gewinn erzielen. Im Handumdrehen würden die kleinen Marktbeschicker aus den Dörfern der Umgebung ihre Stände aufgeben müssen, weil sie die zu erwartenden höheren Standmieten nicht aufbringen könnten. Der Wochenmarkt würde zu einer Art Shopping Mall, zu einer ausgelagerten Obst- und Gemüseabteilung irgendeines Kaufhauses oder Großhändlers.

„Gut dasses de Makkt gibt, dass mer sisch trifft“, hörte ich vor einiger Zeit eine alte Frau zu einer Bekannten sagen. Hinter der Kulisse der ökonomischen Transaktionen geht es um ganz andere Dinge: Der Wochenmarkt ist ein Treffpunkt, eine Stätte der Kommunikation, eine Börse für Nachrichten, Klatsch und Tratsch. Jeder Marktbesucher hat seine speziellen Zeiten und bevorzugten Stände. Man kauft etwas, schlendert weiter, trifft Bekannte und plaudert, kauft an einem anderen Stand etwas anderes. Zwischen Kunden und Verkäufern entwickeln sich Beziehungen: Man wird wiedererkannt, jede längere Abwesenheit fällt auf, man spricht über dies und das. Wo sonst kann man in unserer ökonomisch ausgenüchterten, hektischen Welt diese Erfahrung noch machen? Das Einkaufen in Supermärkten und Malls geht – bis auf das obligatorische, floskelhafte „schönen Tag noch“ – vollkommen sprach- und emotionslos vonstatten; wer etwas sagt oder fragt, blockiert den reibungslosen Betrieb. Ältere Menschen, die etwas Zeit brauchen, ihre Einkäufe vom Band zu räumen und in ihren Geldbörsen umständlich nach Münzen suchen, gelten als Sand im Getriebe und Störfaktor.

Das ist auf dem Wochenmarkt erfreulich anders. Es ist, als beträte man eine andere Zeitzone, hier geht man hin, um Zeit zu verlieren, nicht um Zeit zu gewinnen oder einzusparen. Auf dem Markt sind die sinnliche Dichte der Welt und ihre saftige Fülle und Vielfalt noch erfahrbar. Er ist auch ein Ort der Balz und des Flirts. Und es wird viel gelacht auf dem Markt. Er besitzt einen spezifischen Humor, der sich nur in dieser ökonomischen Nische und seiner spezifischen Zeitstruktur entfalten kann. Kurzum: Der Wochenmarkt ist eine Enklave der Ungleichzeitigkeit, ein bunter Fleck in einer verödeten und total kommerzialisierten städtischen Lebenswelt. Er ist Teil eines sozialen Immunsystems, eines Geflechts von sozialen Bindungen und Kontakten, das Menschen ebenso dringend benötigen wie das körperliche Immunsystem. Das Vorhandensein und die Qualität beider haben großen Einfluss darauf, ob wir körperliche und seelische Abwehrkräfte mobilisieren können. In unserer durchökonomisierten Welt ist alles “in die Funktionale gerutscht”, wie Brecht sagte. Umso dringender benötigen wir Orte, an denen das Unzeitgemäße und Nicht-Funktionale gedeihen kann.

Ein demokratisches Gemeinwesen braucht Orte, an denen Demokratie und Öffentlichkeit sich festmachen und entfalten können, Orte, die sich sinnlich besetzen lassen. Dazu gehören Theater, Parks, Schwimmbäder, botanische Gärten, Bibliotheken und öffentliche Plätze. Den Erhalt solcher Einrichtungen – der Soziologe Oskar Negt spricht von „mittleren Gefäßen“, die zwischen Individuum und Gesellschaft vermitteln – kann und muss eine lebendige Demokratie sich etwas kosten lassen. Sie darf ihre Steuereinnahmen eben nicht nur für repräsentative und imageträchtige Ereignisse wie zum Beispiel eine Landesgartenschau, die Renovierung des Bahnhofsvorplatzes (ein paar hundert Meter weiter verrottet das Gebäude der alten Post, das sich ein Spekulant unter den Nagel gerissen hat) und irgendwelche neo-barocken Sichtachsen verausgaben. Der Wochenmarkt ist auch der Ort einer diskutierenden Öffentlichkeit, wo Bürger zusammentreffen und sich über ihre Belange austauschen. Immer wieder stößt man auf kleine Grüppchen, die sich über kommunalpolitische und gesellschaftliche Themen die Köpfe heiß reden. Nicht umsonst bildet der Markt, die Agora, im Athen des Altertums die Wiege der Demokratie. Jeder, der eine solche Einrichtung schleifen will, indem er sie vollständig dem Diktat der „gefühllosen, baren Zahlung“ (Marx) unterwirft, begeht einen weiteren Anschlag auf unsere ohnehin von Auszehrung befallene und gefährdete Gesellschaftlichkeit und damit einer lebendigen Demokratie. In Zeiten, da die Kanzlerin dieses Landes von der Notwendigkeit redet, die Demokratie „marktkonform“ umzugestalten, muss man ohnehin mit dem Schlimmsten rechnen. Wenn sich der Trend, Orte, an denen Demokratie gelebt und sinnlich erfahren werden kann, die Bindeglieder zwischen dem einzelnen und seinem Gemeinwesen darstellen, zum Verschwinden zu bringen, fortsetzt, werden immer mehr Individuen mit dem gesellschaftlichen Ganzen gar nicht mehr verbunden sein und sich gänzlich ins vermeintlich Private zurückziehen. „There is no such thing as Society“, das war das kalte Gesellschaftsbild von Margret Thatcher. Ein solcher Mangel an Verbundenheit trägt nicht nur zur Ausbreitung von Apathie und Desinteresse am Allgemeinwohl bei, sondern ist auch ein Risikofaktor für die Verbreitung „abweichenden Verhaltens“ bis hin zu Kriminalität und Drogenkonsum.

Ich hätte mir früher nicht träumen lassen, dass wir eines Tages den (Wochen-)Markt vor dem Markt würden verteidigen müssen! Wie kann man in einem rot-grünen Magistrat nur auf so eine Idee verfallen? Nur vom Virus des Neoliberalismus infizierte Gehirne können so etwas aushecken. Dessen erklärtes Ziel war und ist es, den Markt dem freien Spiel der Kräfte des Wettbewerbs zu überlassen, diese Kräfte als einziges Regulativ anzuerkennen und zur Quelle sowohl gesellschaftlichen Reichtums als auch individuellen Wohlergehens zu erheben.

Im Bann vermeintlicher oder auch realer Sparzwänge riskieren Bund, Länder und Gemeinden die Auszehrung und den Tod lebenswichtiger Institutionen und öffentlicher Einrichtungen. Wie man die Bedeutung der Vitamine erst entdeckte, als Mangelerkrankungen auftraten, so werden wir auch die Bedeutung der mittleren Gefäße und des sozialen Immunsystems erst erkennen, wenn soziale Mangelerkrankungen und Dysfunktionen überhand nehmen. Dann kann es aber bereits zu spät sein. Wie soll man zum Beispiel in einem Krankenhaus gesund werden, wenn niemand mehr Zeit hat, sich zu einem ans Bett zu setzen und einfach nur zu reden und Trost zu spenden?

Erinnern wir uns an einen berühmten Schwank aus Schilda. Danach hatten die Schildbürger ein Pferd, das mit weniger Hafer dieselbe Leistung wie vorher erbrachte. Um zu sparen, beschlossen sie, dem Tier die Rationen nach und nach weiter zu kürzen. Am Tag, als sie glaubten, ihr Ziel erreicht zu haben, das Pferd also ganz ohne Futter arbeiten würde, fanden sie es tot in seinem Stall vor.

Im Schlagschatten des Marktfundamentalismus sind unsere Städte zum Aufmarschgebiet der Waren verkommen. Den kapitalstarken Unternehmen und Ladenketten ist es gelungen, die alteingesessenen Geschäfte in den Ruin zu treiben. Mittels eines raffinierten “Stadtmarketings” und Arm in Arm mit willfährigen Kommunalpolitikern haben sie die angestammten Milieus aus den Innenstädten vertrieben und zu Stätten des kalten Kommerzes gemacht. Sie haben etwa den Seltersweg – die Gießener Fußgängerzone – in einen sterilen „Boulevard der Marken“ verwandelt – sie haben sogar die Chuzpe, ihn so zu nennen! Sie benehmen sich, als gehöre die Stadt ihnen.

Vor einiger Zeit sah ich den ehemaligen Inhaber eines alten Gießener Geschäfts. Er hatte die Räume seines einstigen Ladens betreten, in die nun eines dieser Franchiseunternehmen eingezogen ist, die kommen und gehen wie Goldgräber, die eine Weile schürfen und weiterziehen, wenn die Mine nicht mehr genug abwirft. Sie sind auf Kurzfristigkeit angelegt, ruhelos und nomadisch, ohne jede Bindung an Orte und Menschen. Stets stehen irgendwelche Geschäftsräume leer wie ausgelaugte Goldgräberstätten, die dann nach einer kurzen Renovierungs- und Umbaupause vom nächsten Glücksritter übernommen werden. Der Mann stand einfach da. Er wirkte in seiner Erstarrung inmitten des geschäftigen Treibens wie ein steinerner Gast. Die Höhe der Mieten und die Konkurrenz der Discounter haben ihn vor einigen Jahren zur Geschäftsaufgabe gezwungen. Am Ende seines beruflichen Lebens hat ein Mensch das Resultat seines jahrzehntelangen Bemühens gern vor Augen und möchte, wenn er zurückblickt, sagen können: „Das hat sich gelohnt, das ist halbwegs geglückt!“ Es muss etwas an sich und für mich eine zusammenhängende Bewegung ergeben, damit ich sagen kann: „Das hatte Sinn.“ Anonyme und abstrakte ökonomische Mechanismen haben diesen Mann enteignet, ökonomisch und existenziell. Mit dem Geschäft ging ja viel mehr verloren als nur eine Einnahmequelle. Ein Mensch verlor das Metronom, das den Takt seines Lebens bestimmte und es mit Sinn ausstattete, eine Familie das, was sie über Generationen verband und zusammenhielt und in die Zukunft wies.

Mit dem Verschwinden der alteingesessenen Geschäfte und ihrer Inhaber hat der Seltersweg seine charakteristischen Züge eingebüßt und ist eine Einkaufsmeile geworden, wie man sie in jeder anderen x-beliebigen Stadt findet. Paderborn, Passau und Pforzheim und Gießen unterscheiden sich nur durch die unterschiedliche Anordnung der Boutiquen, Handy-Shops und 1-Euro-Läden. Was Herbert Achternbusch über seine bayrische Heimat gesagt hat, könnte man auch über Hessen und Gießen sagen: „Früher ist hier Bayern gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Auch Bayern ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt regiert. Bayern ist eine Kolonie der Welt. Auch dieses Stück Erde ist Welt geworden. Und Welt ist nur ein anderes Wort für Geld. Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet, werden wir, die dieses Stück Erde bewohnen, vernichtet. Die Welt vernichtet uns, das kann man sagen.”

Auf Globalisierung und Ökonomisierung, die sich wie ein Alb auf das Leben der Menschen legen und es in eine eisige Gletscherlandschaft verwandeln, sollten wir mit einer kritischen Aufladung des Begriffs „Heimat“ und Strategien der Wiederaneignung von Lebensbedingungen, die unter die Kontrolle von Herrschaft und Profit gebracht worden sind, antworten. Wir dürfen Begriffe wie „Heimat“ nicht den reaktionären Kräften überlassen, sondern müssen ihn mit humanen und solidarischen Inhalten aufladen. Wir brauchen emanzipatorische Begriffe und Wegweiser für die unter der dünnen Decke angepassten Verhaltens schwelende Wut, sonst eignen sich wieder einmal die Rechten diese Energien an und setzen sie nach rückwärts und mörderisch in Gang. Zorn und Wut müssen aber auch deswegen planvoll in eine aufklärerische Richtung gelenkt werden, weil sie sich andernfalls, wie die Ghetto-Revolten der letzten Zeit gelehrt haben, eines Tages ungerichtet und blind entäußern.


[«*] Götz Eisenberg (* 1951), Sozialwissenschaftler und Publizist, arbeitet als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Neben der Arbeit mit den Gefangenen schreibt er Essays, die in “Der Freitag”, der Zeitschrift “psychosozial”, der „Frankfurter Rundschau“, im Online-Magazin „Auswege“ und auf den „NachDenkSeiten“ erscheinen. Als einer der ersten Autoren in Deutschland wandte er sich dem Thema „Amok“ zu und veröffentlichte zu diesem Thema zuletzt 2010 im Münchner Pattloch-Verlag den Band “Damit mich kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind”.

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