Frankreich: „Links“regierung lahm, Rechtsopposition offensiv und aggressiv.
Auch die Arbeitgeberverbände setzen das sozialdemokratische Kabinett François Hollandes immer wieder unter Druck. Von gewerkschaftlicher Seite rührt sich wenig Widerstand. Eine Einschätzung der politischen Lage in Frankreich nach dem Parteitag der „Parti socialiste“ (PS) von Bernard Schmid [*]
„Einen Hund, den man zum Jagen tragen muss, taugt nichts“ – besagt ein altes süddeutsches Sprichwort. Mutmaßlich hat der neue Parteivorsitzende der französischen Sozialdemokratie, Harlem Désir, bei seiner Antrittsrede auf dem Parteitag in Toulouse am vergangenen Wochenende (26.-28. Oktober 2012) nicht an diese Redensart gedacht. Doch es hörte sich beinahe so an, als müsse er einen Hund zum Jagen tragen, als er seine Partei dazu aufforderte, sie solle sich „mobilisiert“, ja „übermobilisiert“ zeigen. Und zwar, um die positiven Maßnahmen der Regierung zu verteidigen, für Fortschritte zu kämpfen und um eine „revanchistische Rechte“ im Zaum zu halten.
Bitter nötig hatte die französische Parti socialiste (PS) solche Appelle. Kein einziges Plakat und so gut wie keine Parteifahne war in dem großen Kongressaal zu sehen – er ähnelte einer Produktionshalle für Flugzeuge -, was in der von Airbus geprägten Stadt Toulouse nicht verwundert. Amtierende Minister zeigten sich genervt darüber, dass die Partei so wenig tue, um die Arbeit des Kabinetts zu flankieren. Da über die stimmberechtigten Delegierten hinaus weitaus weniger als die angekündigten 4.000 Parteimitglieder als Gäste zum Kongress gekommen waren, wirkte die Versammelten in der Halle zeitweilig ziemlich verlassen.
Als einen „Parteitag der morosité“, also der Griesgrämigkeit, bezeichneten mehrere französische Zeitungen den Kongress. In dessen Vorfeld hatte nur rund die Hälfte der rund 172.000 eingeschriebenen Mitglieder ohne Beitragsrückstand an der innerparteilichen Urabstimmung teilgenommen. Die Wochenzeitung ,Le Canard enachaîné’ rechnet dazu vor: Es wurden rund 85.000 Stimmen abgegeben. Zum Vergleich: Vor dem letzten Parteitag in Reims, im November 2008, wo die Parteibasis zwischen Martine Aubry und Ségolène Royal als potenziellen Parteivorsitzenden zu entscheiden hatte, waren es noch 130.000 Stimmen gewesen. Im Übrigen gehörten, folgt man der Zeitung, mindestens 60.000 dieser 85.000 Stimmen zu jenem „harten Kern“ der Partei, der aus Mandatsträgern (von der kommunalen Ebene aufwärts bis zu den zentralstaatlichen Parlamenten und Institutionen) sowie Mitarbeiter/inne/n von Mandatsträger/inne/n besteht – welche ihren Lebensunterhalt oder einen Teil davon durch die Partei verdienen. Daran lässt sich die derzeitige, ausgesprochen schwache gesellschaftliche Mobilisierung rund um die französische Sozialdemokratie ablesen.
Bei dem diesjährigen Mitgliedervotum ging es darum, für einen der fünf Parteitagsanträge zu votieren, die gleichzeitig die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation analysieren über die Zusammensetzung des Parteivorstands entscheiden sollten. Denn der jeweils erzielte Stimmenanteil entscheidet über die Anzahl an Sitzen, die eine Strömung oder Unter- oder Nebenströmung in dem Gremium besetzen darf. Entgegen vorheriger Erwartungen entfielen dabei nicht 80 oder 90 Prozent auf den Leitantrag der bisherigen Parteispitze sondern „nur“ 68,1 Prozent.
Die so genannte Parteilinke, die dieses Mal ohne prominente Namen antrat und vor allem Änderungen am neuen EU-Vertrag vom 2. März d.J. – dem so genannten Sparpakt – beantragte, erzielte unter Emmanuel Maurel rund 13,5 Prozent. Der Sparpakt ist Anfang Oktober vom französischen Parlament verabschiedet worden, trotz einiger Widerstände auch innerhalb der regierenden Linksparteien und obwohl François Hollande als damaliger Wahlkämpfer am 1. März ausdrücklich dessen Neuverhandlung versprochen hatte. In der Nationalversammlung stimmten 70 Abgeordnete größtenteils aus dem sozialdemokratischen und grünen Lager gegen den Sparpakt, doch dieser wurde mit über 400 Ja-Stimmen angenommen, weil die konservative und wirtschaftsliberale Opposition gemeinsam mit der Regierungsspitze zustimmte. Zuvor hatte Ende September ein „kleiner Parteitag“ der mitregierenden französischen Grünen mit siebzigprozentiger Mehrheit beschlossen, dass die Partei den Sparpakt ablehne. Premierminister Jean-Marc Ayrault tolerierte diesen „Schritt zur Seite“ unter einer Bedingung, nämlich der, dass die Grünen daraufhin dem auf dem Sparpakt basierenden Haushaltsgesetz für 2013 zustimmen mussten. So funktioniert offenbar „Realpolitik“: Man erklärt, dass man „im Prinzip“ etwas ablehne, wirkt dann aber bei dessen Umsetzung aktiv mit.
Gut elf Prozent erzielte ein weiterer Antrag, der vor allem von der moralischen Reputation seines prominentesten Unterzeichners lebte. Nämlich von Stéphane Hessel, 94 Jahre alt, ehemaliger Résistancekämpfer und an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 beteiligt; er veröffentlichte in den letzten Jahren zwei kleine Büchlein: „Empört Euch!“, gefolgt von „Engagiert Euch!“ Darin bietet er allerdings nur die Einsicht, dass es auch noch heute moralisch gerechtfertigt sei, die Welt verändern zu wollen, weil es auf ihr nicht gerecht zugehe. Darüber hinaus reichende Analysen sucht man jedoch eher vergeblich. Weniger bekannt war, dass Hessel seit langem auch Mitglied der französischen Sozialdemokratie ist. In diesem Jahr stellte er dem Antrag aus dem Mitte-Links-Spektrum der Partei seinen prominenten Namen zur Verfügung. Innerparteiliche Funktionen strebe er aufgrund seines hohen Alters ohnehin nicht an, fügte er gegenüber der Presse hinzu.
Der neue Vorsitzende wurde durch die ausscheidende Vorgängerin, Martine Aubry, vorgeschlagen. Ihr Vorschlag wurde dadurch unterstrichen, dass Aubry Harlem Désir in der zweiten Septemberwoche zum „ersten Unterzeichner“ des Leitantrags bestimmte. Ihre Entscheidung, die schon im August erwartet wurde, hatte sich um mehrere Wochen verzögert. Der Hintergrund dafür war, dass Staatspräsident François Hollande sich in die Personalentscheidung einmischte und – entgegen seiner anfänglichen Präferenz für Désirs Gegenkandidaten Jean-Christophe Cambadélis – einen altlinken Zyniker und einstmaligen Trotzkisten – schlussendlich für den früheren Apparatschik der parteinahen Vereinigung „SOS Racisme“ (eine französische NGO gegen rassistische Diskriminierung) optierte. Aubry und andere Führungspersonen wurden durch diese Kehrtwendung überrascht, folgten aber letztlich der Entscheidung, die im Elysée-Palast getroffen wurde. Dies bedeutet – nebenbei bemerkt – einen flagranten Bruch eines Versprechens François Hollandes im Wahlkampf: Bei der Fernsehdebatte mit Nicolas Sarkozy hatte er noch Anfang Mai hoch und heilig versichert, als Präsident werde er sich nicht in das Parteileben der Sozialdemokratie einmischen.
(Harlem Désir erhielt in der vorausgegangenen Urwahl 72,5 Prozent der Stimmen. (WL))
Hoffnungen auf irgendwelche progressive Veränderung: mau!
Wäre es doch nur das einzige Wahlkampfversprechen François Hollandes, das längst zu Makulatur wurde… Viele andere wurden nämlich gleichfalls schon längst in die Mottenkiste gepackt, angefangen mit den schönen Sprüchen über mehr soziale Gerechtigkeit. Solche Versprechen wurden nach der Wahl zumindest bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Ende Februar hatte Hollande z.B. den sich müde dahinschleppenden Wahlkampf dadurch belebt, dass er einen neuen Spitzensteuersatz für Einkommensmillionäre in Höhe von 75 Prozent ankündigte. Darüber wurde daraufhin in ganz Europa diskutiert. Zwar sieht das neue Haushaltsgesetz einen solchen Spitzensteuersatz nun vor, aber er wird voraussichtlich nur circa 1.500 Personen in ganz Frankreich betreffen. Denn der Clou ist, dass sämtliche Formen von Kapitaleinkünften – Mieteinnahmen, Aktiendividenden, Börsengewinne – aus dem in dieser Höhe zu besteuernden Einkommen ausgeklammert wurden. Nur Einkünfte in Form von Lohn und Gehalt werden berücksichtigt. Davon betroffen sind aber nur einige wenige Manager der höchsten Gehaltsstufe, die jedoch ihr Einkommen nunmehr umschichten dürften, um statt Gehalt lieber Aktienpakte zu verlangen. Anders hätte es ausgesehen, wenn man auch Vermögens- und Kapitaleinkünfte einbezogen hätte.
Dennoch sind es vor allem Kapitaleigentümer, die sich von den angeblich schädlichen Steuern geplagt fühlen; sie konnten in den letzten Monaten die Regierung massiv und erfolgreich unter Druck setzen. Denn während soziale Bewegungen sich kaum rührten – abgesehen von Streiks in einzelnen Großunternehmen, wie vergangene Woche bei dem Bahnbetreiber SNCF am Donnerstag und der Fluggesellschaft Air France am Freitag, die jedoch unternehmensspezifische Forderungskataloge betrafen -, tat sich auf der wirtschaftsliberalen Seite umso mehr. Unter hohem Einsatz von Kommunikationsexperten und PR-Agenturen organisierten Unternehmer eine Kampagne, die sie unter der Überschrift „Les pigeons“ durchführten. „Pigeons“ das bedeutet so viel wie „Tauben“, aber auch „leichte Opfer“, in dem Sinne, das man gerupft zu werden drohe. Anlass ihres Zorns war die geplante Anhebung einer Steuer für die Veräußerung von Unternehmen. Es dauerte nur fünf Tage bis die Regierung vor der Kampagne der angeblich armen, „gerupften Opfer“ einknickte.
Ein Karikaturist der liberalen Abendzeitung Le Monde hat die Dinge ins passende Bild gebracht. Xavier Gorce zeichnete zwei Figuren, von denen die eine dem Gurren von Tauben zuhört. Die andere Figur kommentiert trocken: „Wechsle Deine Brille“.
Quelle: Altermonde-sans-frontières
Übrigens steht derzeit bereits die dritte „Unternehmer“-Bewegung mit reichlich PR-Begleitung in den Startlöchern. Nach den ,pigeons’ (Tauben) und den ,moutons’ (Schafen) – die erste gegen Steuern, die zweite gegen Sozialbeiträge für Selbständige und Unternehmer – kommen jetzt die ,dindons’ (Truthähne). Dieses Mal sind es Eigentümer im Hotel- und Restaurantgewerbe, die gegen die Mehrwertsteuer protestieren. Warum nur muss mensch bei all diesen Kampagnenamen immer nur an „Kochtopf, Kochtopf“ denken? Nicht gar so satirisch gemeint war hingegen der Aufruf von 98 Wirtschaftsbossen in der Sonntagszeitung Le Journal du Dimanche (JDD) vom 28. Oktober 12, welche die Regierung mehr oder minder ultimativ zu erheblichen Absenkungen der Staatsausabgaben und bei den „Lohnkosten“ aufforderten.
Nicht alle sozialen Gruppen wurden bislang allerdings so gut bedient wie die als „Tauben“ daherkommenden Unternehmer. Weitaus weniger rücksichtsvoll schickte die Regierung ihre uniformierten Staatsdiener in Gestalt der Sicherheitskompanie CRS (Compagnies Républicaines des Sécurité) gleich gegen mehrere Gruppen los: Im August waren zunächst die „illegal“ campierenden Roma dran, Anfang Oktober dann die Automobilarbeiter, die – das Wasser bis zum Hals spürend – gegen die anlaufende Welle von Massenentlassungen für ihre Arbeitsplätze oder mindest substanzielle Abfindungen kämpfen. Am 9. Oktober versuchten sie, bei der prestigereichen Automobilmesse in den Pariser Messehallen (ungeladen) Einlass zu finden, wurden jedoch mit Tränengas und Knüppeln empfangen. Zwei Wochen später wiederum wurden die CRS gegen die Geländebesetzer in Nantes losgeschickt, die eine Verlagerung des dortigen Flughafens verhindern möchten – ein ebenso unnötiges wie ökologisch zerstörerisches Großprojekt.
Es verwundert deswegen nicht, dass die Bilanz der „linken“ Regierung derzeit aus Sicht vieler ihrer Wählerinnen und Wähler ausgesprochen bescheiden aussieht. François Hollandes Popularität befindet sich dementsprechend geradezu im freien Fall und unterschritt Ende vergangener Woche die Vierzig-Prozent-Marke – anlässlich des jüngst durchgeführten Sprungs des Österreichers Felix Baumgartner aus 39 Kilometern Höhe wurden in den Medien viele satirische Vergleiche gezogen. Im Laufe dieser Woche kommt er nun in einer Umfrage gar bei Popularitätswerten von nur noch 36 Prozent an.
Die Spitzen der Gewerkschaftsdachverbände, vor allem die linke CGT (Confédération générale du travail) und der größte Gewerkschaftsbund, die CFDT (Confédération française démocratique du travail), sind stärker als zu Zeiten der konservativ-wirtschaftsliberalen Vorgängerregierung in die Vorbereitung mancher Regierungsprojekte eingebunden oder aber hoffen jedenfalls darauf. Beide Dachverbände sind derzeit aber eher mit internen Fragen beschäftigt, da die jeweiligen Generalsekretäre Bernard Thibault und François Chérèque sich dazu anschicken, das Ruder an ihre Nachfolger – Thierry Lepaon und Laurent Berger – zu übergeben. Druck auf die Regierung kommt deswegen vor allem von rechts. Auch die größte Rechtspartei, also die konservative und wirtschaftsliberale ebenso wie nationalrassistische Strömungen umfassende UMP (Union pour un mouvement populaire), bereitet sich auf die Wahl einer neuen Spitze vor. Am 18. November fällt die Entscheidung zwischen ihrem Generalsekretär Jean-François Copé und dem früheren Premierminister François Fillon. Letzterer ist derzeit besser platziert. Vor allem Copé setzt auf eine auf Ressentiments gegen Minderheiten und Rassismus anspielende Kampagne, die seine Partei noch weiter an den derzeit ebenfalls erstarkenden rechtsextremen Front National von Jean-Marie Le Pen annähert. Sollte Copé gewinnen, dann würde eine aus der antigaullistischen radikalen Rechten kommende Abgeordnete, Michèle Tabarot, stolze Tochter eines in den sechziger Jahren bei der rechten Terrororganisation OAS aktiven Vaters und erklärte de Gaulle-Hasserin, zur Nummer Zwei der „postgaullistischen“ Partei.
Am vergangenen Wochenende (27./28. Oktober) verkündete Copé, falls er am 18. November gewählt werde, dann würde die Rechte künftig auch auf die Straße gehen, zum ersten Mal seit ihren Demonstrationen zur Verteidigung der katholischen Privatschulen von 1984, die damals durch Konservative und dem Front National gleichermaßen getragen wurden. Und dieses Mal geht es nicht um eine satirische so genannte „fausse manif de droite“ („falsche Demo der Rechten“), sondern um eine echte Drohung mit rechter Mobilisierung auf der Straße…
Besonders gegen die Pläne der Regierung zur Erlaubnis der Homosexuellenehe – die er, als Bürgermeister von Meaux, in „seinem“ Rathaus dann gesetzwidrig boykottieren möchte – und gegen die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts will Copé mobilisieren. Die Pläne für das Ausländerwahlrecht wird die Regierung allerdings mutmaßlich ohnehin auf die lange Bank schieben. Copés Ankündigung war jedoch beinahe ein Segen für den neuen Chef der Regierungspartei, Harlem Désir. Seine Warnungen auf dem Parteitag vor einer Rechten, die „ihre republikanischen Werte zu verraten“ drohe, gehörten zu denen, die am stärksten Applaus erhielten. Es geht eben nichts über einen hässlichen Feind, um die eigenen Leute zu motivieren.
[«*] Bernard Schmid, geboren 1971, ist promovierter Jurist und freier Journalist. Er lebt seit 1995 in Paris. Er arbeitet für eine NGO gegen Rassismus. Er ist zudem Autor mehrerer Bücher, darunter „Algerien – Frontstaat im globalen Krieg?“, „Das koloniale Algerien“ und „Der Krieg und die Kritiker“, „Die arabische Revolution“.