Im Interesse der ArbeitnehmerInnen kann die Forderung nach einer weiteren Absenkung der Beitragspunkte in der Arbeitslosenversicherung allerdings nicht sein.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Das steht in einem Brief des Betriebsratsvorsitzenden Manfred Steingrube an Bundeskanzlerin Merkel. Der Brief ist bemerkenswert. Der Autor stellt messerscharf heraus, dass das ganze Getue um die Senkung der Lohnnebenkosten an den Interessen der Arbeitnehmerschaft weit gehend vorbeigeht. Für sie wäre eine intakte Arbeitslosenversicherung wichtig. Diese ist aber mit Hartz IV zerstört. Der Brief könnte auch für andere unsere Leser in ähnlichen Funktionen wichtig sein. Manfred Steingrube ist mit der Veröffentlichung auf den NachDenkSeiten einverstanden. Dankschön.

Manfred Steingrube
Betriebsratsvorsitzender
33824 Werther / Westfalen

Arbeitslosenversicherung / Lohnnebenkosten

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

im Interesse der von mir zu vertretenden 200 MitarbeiterInnen eines mittelständischen Unternehmens schreibe ich Ihnen erneut als Betriebsratsvorsitzender.
Nach Medienberichten wird voraussichtlich bei der Bundesagentur für Arbeit im laufenden Jahr ein finanzieller Überschuss von ca. 6 Milliarden € anfallen. Dieser Überschuss weckt bei Politikern wie bei Verbänden große Begierde. Die einen wollen mit dem Überschuss Schulden abtragen, die anderen die Lohnnebenkosten senken. Beides kann nicht im Interesse von Arbeitnehmern liegen. Zum einen handelt es sich bei dem Überschuss um Beitragsgelder der Versicherten und zum anderen kann die Politik nicht ständig Arbeitnehmern die Lasten politischer Fehlentscheidungen aufbürden.

Der Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, der auch gleichzeitig Vorsitzender des Verwaltungsrates der Bundesagentur für Arbeit ist, Peter Clever, sagte der Berliner Zeitung hinsichtlich dieses Überschusses am 31.07.2006: “Wir können uns vorstellen, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld generell auf zwölf Monate begrenzt wird. Zudem sollte ein Karenzmonat eingeführt werden, indem im ersten Monat der Arbeitslosigkeit keine Zahlungen erfolgen. Unter diesen Voraussetzungen kann der Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung auf vier Prozent abgesenkt werden.”

Dass Herr Peter Clever die Interessen der Arbeitgeber vertritt, ist wirklich nicht schwer zu erkennen. Im Interesse der ArbeitnehmerInnen kann die Forderung nach einer weiteren Absenkung der Beitragspunkte in der Arbeitslosenversicherung allerdings nicht sein. Man muss nicht besonders mathematisch talentiert oder besonders klug sein, um erkennen zu können, dass zukünftig zweistellige Milliardenbeträge in der Arbeitslosenversicherung durch die bereits beschlossene Absenkung von zwei Beitragspunkten fehlen werden. Dies wird zur Folge haben, dass im nächsten Schritt massive Leistungskürzungen vorgenommen werden müssen. Dazu passt auch folgende Meldung vom 28.7.06: Der Vorstand der Bundesagentur (BA), Heinrich Alt, sagte der Berliner Zeitung: “Wir haben jetzt zwischen 70 und 80 arbeitsmarktpolitische Instrumente, deren Nutzen höchst unterschiedlich ist. Wir können uns eine radikale Reduzierung dieser Elemente vorstellen, und wir würden auch gern die Politik in dieser Richtung beraten”.

Mit der Forderung nach weiteren Absenkungen und einem Karenztag schürt Herr Clever bewusst oder unbewusst die Ängste der Menschen, die ihr Leben lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Diese Forderung muss wie blanker Hohn in den Ohren von ArbeitnehmerInnen klingen, deren Unternehmen von Finanzinvestoren übernommen wurden oder übernommen werden. Solche Übernahmen bedeuten in der Regel Entlassungen und Zerschlagung von Unternehmen bzw. Unternehmensteilen. Als Beispiel möchte ich die Firma Grohe in Hemer erwähnen. Dort wurden durch “zerstörerische Investorentätigkeiten” Unternehmensteile zerschlagen, 900 Kündigungen ausgesprochen. Diese Art von “zerstörerischer Investorentätigkeiten” wird vom Staat auch noch mit Steuerfreiheit fürstlich belohnt. Und niemand in der Politik kümmert sich um eine Rücknahme der Steuerfreiheit solcher Veräußerungsgewinne.

Das Arbeitslosengeld I ist keine Hilfe des Staates an Bedürftige, sondern die Leistung einer Versicherung an ihre Mitglieder. Deshalb ist es nicht mehr als richtig, diesen Überschuss den Versicherten zukommen zu lassen oder dafür zu verwenden, dass arbeitslose Bürger wieder in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kommen.

ArbeitnehmerInnen haben ein sehr großes Interesse an einer stabilen Arbeitslosenversicherung. ArbeitnehmerInnen wollen für einen bestimmten Zeitraum nach einem möglichen Verlust ihres Arbeitsplatzes auf Zeit finanziell abgesichert sein – nichts anderes wollen Abgeordnete auch: abgesichert sein!
Das wiederum hat nun wirklich nichts mit einer “Vollkaskomentalität” zu tun, wie es oft aus Berlin zu vernehmen ist. Arbeitslose Bürger haben ein großes Interesse daran, schnell eine neue versicherungspflichtige Arbeit zu finden. Und dafür hat die Politik den Rahmen zu setzen, aber nicht alles zu übernehmen, was ihnen “Lobbyistengruppen” suggerieren wollen: sparen, sparen, sparen.

Eine erneute Absenkung um 0,5 % bedeutet faktisch ein weiteres “Ausbluten der Arbeitslosenversicherung”. Manchmal kann man sich oft nicht des Eindrucks erwehren, dass dies vielleicht sogar politisch gewollt ist, um dann in einem weiteren Schritt begründen zu können, warum die Leistungen der Arbeitslosenversicherung drastisch gekürzt werden müssen.

ArbeitnehmerInnen werden zukünftig weiter massiv mit Abgaben belastet: 0,5 % Krankenversicherung, 0,4 % Rentenversicherung, 3 % Mehrwertsteuer. Die Unternehmen werden mit 5 Milliarden € entlastet. Glauben Sie denn wirklich, dass diese Maßnahme zu mehr sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung führen wird?

Dazu möchte ich Ihren Parteifreund Jürgen Rüttgers antworten lassen. Das vollständige Interview können Sie im Stern 32/2006 nachlesen.
Jürgen Rüttgers fordert seine Partei auf, sich von zentralen “Lebenslügen” zu verabschieden. Rüttgers: “Die CDU ist keine kapitalistische Partei. Sie ist eine Wertegemeinschaft, die nicht nur am Materiellen hängt. Tut sie es doch, geht sie unter.” Weiter sagt er: “Es sei falsch zu glauben, dass “Steuersenkungen zu mehr Investitionen und damit zu mehr Arbeitsplätzen führen. Gleiches gelte für die Behauptung, die Löhne in Deutschland seien zu hoch. Wer das vertritt, weiß nicht, wie die Menschen hier leben. Man müsse zur Kenntnis nehmen, dass der Lohnkostenanteil in vielen Betrieben nicht mehr die Rolle spielt, die wir ihm lange Zeit zugesprochen haben.”

Herr Rüttgers scheint erkannt zu haben, dass die neoliberale Politik in Berlin nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat. Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.

Zur Lohnnebenkostendebatte Ihrer Partei:

Ihre Parteifreunde versuchen in den öffentlichen Debatten die Lohnnebenkosten zum Dreh- und Angelpunkt für die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu erklären. Dass das völliger Blödsinn ist, der da verbreitet wird, brauche ich Ihnen hoffentlich nicht zu sagen.

Wenn Unternehmen ihre Produktion ausweiten oder größere Investitionen vornehmen wollen, haben sie ein ganzes Bündel von Fakten auf dem Tisch liegen.
Unternehmen fragen nach Gewinnen, Gewinnerwartungen, Infrastrukturen, Absatzmärkten, Umsatz, Zinserwartungen, Steuern, Rechtssicherheiten, qualifiziertem Personal, steuerlichen Vergünstigungen, Abschreibungsmöglichkeiten usw. usw. Vordergründig stehen also niemals allein nur die Lohnneben- kosten. Lohnnebenkosten können daher immer nur ein Teil des Ganzen sein. Zugegeben: Ein nicht ganz unwichtiger! Aber für Investitionen nicht das entscheidende Kriterium.

Wenn Ihre Parteifreunde sich heute über die hohen Lohnnebenkosten öffentlich in so unsachlicher und unehrlicher Weise beklagen, dann sollten sie einmal darüber nachdenken, welche Hinterlassenschaften sie den Bürgern und besonders den Arbeitnehmern aus der Kohl-Ära aufgebürdet haben. Die Lohnnebenkosten sind doch gestiegen durch Frühverrentungen. Auch Unternehmen haben daran mitgewirkt. Die Lohnnebenkosten sind doch gestiegen, weil die Gelder unserer Sozialversicherungssysteme durch versicherungsfremde Leistungen “missbraucht” worden sind.

Des Weiteren blendet die CDU/CSU die Kosten des Wiedervereinigungsprozesses aus der öffentlichen Diskussion aus. Sie schweigt einfach und sagt nichts. Nach dem Motto: Wird sich schon keiner erinnern, dass wir daran eine Mitschuld tragen. Aber das sagen wir lieber nicht. Sonst könnten uns die WählerInnen nicht mehr mögen.

Zur Erinnerung, Frau Bundeskanzlerin:

Allein von 1991 – 1999 wurden durch die damals verantwortliche Koalition 188,7 Milliarden € zweckentfremdet aus unseren Sozialsicherungssystemen abgeschöpft.
Weitere 275,9 Milliarden € wurden dem Steuerzahler aufgebrummt. Hinzu kam, dass von der CDU/CSU und der FDP der Solidaritätszuschlag eingeführt wurde.
Das insgesamt ist einer der Hintergründe, der dafür mit verantwortlich ist, dass unsere Sozialsicherungssysteme heute in Schieflage sind.

Das alles, Frau Bundeskanzlerin, wissen Sie genau so gut wie ich. Und trotzdem schweigen auch Sie wie alle Abgeordneten der Parteien. Vielleicht mit einigen Ausnahmen, die sicherlich leicht abzuzählen wären. Sie persönlich plädieren doch dafür, dass man den Menschen die Wahrheit sagen muss und Sie sprechen von einem “Sanierungsfall Deutschland”. In einem “Sanierungsfall” müssen alle Fakten und Hintergründe, die zum Sanierungsfall geführt haben, auf den Tisch gelegt werden. Legen Sie alle Fakten und Hintergründe zum “Sanierungsfall Deutschland” offen und ehrlich der Öffentlichkeit vor. Was bisher von Ihnen dazu öffentlich formuliert wurde, hat nichts gemein mit Zahlen, Daten, Fakten und Hintergründen, sondern ist bisher nur allgemeines Gerede gewesen und trägt nicht zum Verständnis Ihres “Sanierungsfalles Deutschland” bei.

Damit ich richtig verstanden werde, Frau Bundeskanzlerin. Ich bin kein Gegner der Wiedervereinigung. Ganz im Gegenteil. Ich freue mich, dass Deutschland wieder vereint ist, und ich gebe seit Jahren persönlich meinen finanziellen Beitrag zur Wiedervereinigung. Es geht einzig und allein darum, dass uns Arbeitnehmern / den Bürgern die “ungeschminkte Wahrheit” gesagt wird. Aber vermutlich werden Sie sich das nicht trauen, denn dann müsste die CDU/CSU Fehler eingestehen.

In Erwartung einer Antwort verbleibe ich bis dahin

mit freundlichen Grüßen

Manfred Steingrube
Betriebsratsvorsitzender