„Lügenpack!“– Ist das Skandieren dieses Vorwurfs zu viel des Guten?
Man könnte es meinen, wenn man an eine normale politische Auseinandersetzung und an demokratische Regeln denkt. Jedenfalls sind Trillerpfeifen und Sprechchöre mit der Botschaft „Lügenpack“, wie sie bei der Kundgebung mit Angela Merkel und dem Stuttgarter OB Kandidaten Sebastian Turner am vergangenen Freitag zu sehen und zu hören waren, nicht die Art der politischen Auseinandersetzung, die wir uns wünschen müssten. Aber diese Sprechchöre und Trillerpfeifen sind die – vielleicht hilflose – Antwort auf eine Politik gegen die Interessen der Mehrheit unseres Volkes bei gleichzeitiger Überlagerung dieser Politik mit Propaganda. Angela Merkel und der OB Kandidat Turner sind Symbole für diese Entwicklung. Deshalb sind die störenden Sprechchöre mit der Hauptbotschaft „Lügenpack“ verständlich und treffend. Ich muss diese Einschätzung erläutern. Albrecht Müller.
Fangen wir mit Stuttgart und seinem Großprojekt Stuttgart 21 an:
Was sollen die Gegner von Stuttgart 21 noch anderes rufen? Sie sind hingehalten und belogen worden und man hat durch den Abriss von Teilen des Bahnhofs Fakten geschaffen, die jede Revision unmöglich machen – auch dann, wenn die Kosten weit über die gesetzten Grenzen hinweg steigen oder gravierende Mängel wie beim Brandschutz bekannt werden. (Siehe z.B. hier). Das Projekt verdankt seine Durchsetzung großen Interessen und einer professionellen wenn auch verlogenen Agitation – wie etwa der Behauptung, an der Durchsetzung von Stuttgart 21 zeige sich Deutschlands Zukunftsfähigkeit.
OB Kandidat Turner ist einer der Erfinder der Propagandaorganisation „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“
Die laute Demonstration in Stuttgart galt nicht nur den Befürwortern von Stuttgart 21 und Angela Merkel, sondern auch dem CDU-Kandidaten für die OB-Wahl, Sebastian Turner. Er ist einer der Erfinder der Propagandaorganisation „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM). (Siehe hier: „Der Meister des großen Geldes“) Sie wurde am 12. Oktober des Jahres 2000 von den Arbeitgebern der Metall- und Elektroindustrie auf Empfehlung von Turners Werbeagentur Scholz & Friends aus der Taufe gehoben und damals als erstes für fünf Jahre mit 100 Millionen ausgestattet. Mit diesem und weiterem Geld wurde den Deutschen neoliberales Denken anerzogen und ihre damals noch vorhandene Sympathie für Sozialstaatlichkeit zurückgedrängt. Alle, die diese Propaganda systematisch und gegen die Interessen der Mehrheit betrieben haben, nennt man mit Recht „Lügenpack“. Deshalb verdienen die Demonstranten von Stuttgart ein dickes Kompliment. Sie haben den Kern des Vorgangs getroffen.
Der Vorwurf „Lügenpack“ zielt auf die Glaubwürdigkeit der herrschenden Kreise
Die Demonstranten von Stuttgart haben verstanden: Der sachliche Widerspruch alleine hilft nicht weiter. Die demokratische Willensbildung ist ausgehebelt, weil das Verhältnis der Informationsimpulse der herrschenden Kreise zu der von ihrer Politik und ihrer Propaganda betroffenen Mehrheit wie 100:1 sein dürfte. Die herrschenden Kreise besitzen „BILD“ und Geld, sie verfügen über weite Teile der Lokal- und Regionalpresse wie auch die meisten Fernseh- und Hörfunksender. Kritische Stimmen oder auch einfach nur Freunde unserer Verfassung und ihres Versprechens von der Sozialstaatlichkeit sind dünn gesät. Sie können der Dauerkanonade der neoliberalen Agitation nicht ähnlich viele Informations- und Werbeimpulse entgegensetzen. Deshalb müssen sie die Glaubwürdigkeit der Agitatoren der neoliberalen Bewegung in Zweifel ziehen. „Lügenpack“ klingt in normalen bürgerlichen, oder auch nur schwäbischen Kreisen vielleicht etwas radikal, aber es sitzt, es trifft den Kern.
Mit der Kandidatur Turners wird der Start einer „Revolution von oben“ sichtbar, die als Dauerindoktrination im Jahre 2000 begann
In dem oben verlinkten Artikel in der Wochenzeitung „Kontext“ wird noch einiges näher beschrieben, was in unserem Zusammenhang von Bedeutung ist: Stuttgarts OB Kandidat Turner versteht sich als Vertreter des großen Geldes. Aber er weiß auch, dass dies nicht gut ankommt. Also wird eine volkstümliche Propaganda gemacht.
Auch seine Rolle bei der Erfindung und beim Entwurf und der Durchsetzung von Kampagnen der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft will er offensichtlich eher im Dunkeln lassen.
Dass Turner jetzt als OB Kandidat in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit tritt und wir endlich auch über den Hintergrund der Gründung der INSM ein bisschen mehr erfahren, ist begrüßenswert. Die INSM ist von den Arbeitgeberorganisationen gegründet worden und im Hause des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) betreut worden, um das politische Klima in Deutschland zu verändern: für Privatisierung, gegen den Staat, für Flexibilisierung, für die „Revolution von oben“, wie ich das 2004 in „Die Reformlüge“ genannt hatte.
Die Gründung der NachDenkSeiten geht übrigens auf die Gründung der INSM zurück.
Sie sind ein Versuch, wenigstens ein kleines Gegengewicht gegen die Übermacht des großen Geldes zu schaffen. Und wie bei den Sprechchören in Stuttgart war uns von Anfang an klar, dass wir bei der Quantität der Informationsimpulse weit unterlegen sein werden und deshalb immer wieder den Versuch machen müssen, die Glaubwürdigkeit der mächtigen Dauerpropaganda zu erschüttern. Das ist auch der Rat an alle jene, die sich in Gesprächen, in Reden und in Foren mit der „Revolution von oben“ auseinandersetzen und wenigstens noch versuchen wollen, den Rest an Demokratie zu retten, der uns nach dreizehnjährigem Wirken der INSM, ihrer Erfinder vom Schlage Turners und den vielen anderen Parallel- und Nachfolgeorganisationen und der so genannten Initiativen geblieben ist.
Übrigens: Es wäre ganz gut, die NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser im Raum Stuttgart würden alles in ihrer Macht verbliebene tun, um den Erfolg des Agitators des Großen Geldes, Sebastian Turner, zu vereiteln. Das wäre wenigstens ein kleiner Dienst im Sinne demokratischer Verhältnisse.
Ein Anstoß für die Gründung der INSM war eine Allensbach Umfrage mit dem für das Große Geld bedrückenden Ergebnis, dass die Mehrheit der Deutschen die Sozialstaatlichkeit und die Rolle des Staates schätzte.
Hier sind einige der Kernaussagen jener Umfrage dokumentiert. Sie sind einer Broschüre des Instituts der deutschen Wirtschaft entnommen, die mit Unterstützung der INSM veröffentlicht wurde. Leider hat die Agitation der INSM die Grundeinstellung vieler Menschen verändert. Das war ja auch das Ziel.
Ergebnisse aus einer Allensbach-Umfrage im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
»Gefragt, was denn an der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik so besonders sei, entscheiden sich:
- 40 Prozent der Deutschen für die soziale Absicherung. ›Es ist keine reine Marktwirtschaft, sondern ein soziales System, in dem auch den sozial Schwächeren geholfen wird.‹
- 23 Prozent heben die bessere Funktionsweise der sozialen Marktwirtschaft hervor
- 20 Prozent verbinden mit der sozialen Marktwirtschaft die Besonderheit, dass ›man in diesem System Ideen frei verwirklichen und Unternehmen gründen kann, und man wird nicht vom Staat dirigiert. (…)‹
Festzuhalten bleibt also, dass sich die soziale Sicherheit inzwischen als Markenzeichen in der Marktwirtschaft durchgesetzt hat – Freiheit und Wettbewerb sind als Werte dagegen in den Hintergrund gerückt. Wenn aber die soziale Absicherung das Wichtigste an der Markwirtschaft in Deutschland ist, dann stellt sich die Frage, wer denn für diese Sicherheit verantwortlich ist.
Für die meisten Deutschen ist die Antwort auf diese Frage klar: der Staat. Und der soll sich, wie die Allensbacher Umfrage zeigt, möglichst umfassend um das Wohl des einzelnen Bürgers kümmern.«
»Der Wunsch nach dem ›dritten Weg‹:
Schon mit der ›sozialen Marktwirtschaft‹ haben sich die Deutschen verglichen mit der ›freien Marktwirtschaft‹ z.B. in den USA eine Extrawurst gebraten. Doch selbst die scheint ihnen noch nicht genug zu schmecken. (…) – jedenfalls plädieren erstaunlich viele und zudem eine steigende Anzahl von Deutschen für den ›dritten Weg‹.
›Wir brauchen bei uns im Land eine neue Politik, einen neuen Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus‹ – dieser Aussage stimmten 1999 insgesamt 42 Prozent der Deutschen zu, während nur 34 Prozent diese Notwendigkeit nicht sehen.
Damit hat sich der Anteil der Befürworter eines ›dritten Weges‹ innerhalb nur eines einzigen Jahres um fast ein Drittel erhöht.
Und das nicht nur in den neuen Bundesländern (von 43 auf 56 Prozent), sondern auch in den alten Ländern (von 30 auf 38 Prozent).«[1]
Beunruhigend für die Auftraggeber der 1999 durchgeführten Umfragen waren auch die abgefragten Reformwünsche der Deutschen.
Zum Beispiel:
- Für kürzere Arbeitszeiten waren 20 Prozent,
- für längere Arbeitszeiten nur 10 Prozent;
- für mehr Kündigungsschutz waren 25 Prozent,
- für den Abbau von Kündigungsschutz nur 8 Prozent der Westdeutschen.
Die Reformwünsche der Ostdeutschen müssen den Auftraggebern noch unangenehmer in den Ohren geklungen haben:
- 27 Prozent waren für kürzere Arbeitszeiten, nur 4 Prozent für längere;
- 33 Prozent für mehr Kündigungsschutz und nur 7 Prozent für den Abbau von Kündigungsschutz.
[«1] Institut der Deutschen Wirtschaft (Hrsg.): Gesellschaft im Zwiespalt, Marktwirtschaft und Unternehmer im Spiegel der öffentlichen Meinung, Köln 2000