Gibt es ein „europäisches Sozialmodell“? Kann es ein Gegenmodell in einer neoliberal globalisierten Wirtschaft sein?

Ein Artikel von Volker Bahl

Nachdem der Europäische Verfassungsvertrag durch das Nein der Franzosen und Niederländer vor allem deshalb gescheitert ist, weil in diesen Ländern das dem Vertrag zugrunde liegende ökonomische Leitbild und seine konkreten Auswirkungen von einer Mehrheit abgelehnt worden ist, stellt sich die Frage, ob ein stärker sozial ausgerichtetes Modell eine neue identitätstiftende Perspektive für eine politische Einigung Europas bieten könnte. Dazu wäre es notwendig, dass zunächst einmal eine Verständigung darüber herbeigeführt würde, welches unter den recht unterschiedlichen nationalen Sozialmodellen denn gemeint ist und welches Modell sich zu einem gemeinsamen europäischen entwickeln könnte. Dazu ist in letzter Zeit eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen; Volker Bahl hat sich mit ihnen auseinandergesetzt.

Das Elend mit dem (den) europäischen Sozialmodell(en)

Von Volker Bahl

Es erscheint mir eine der spannendsten “großen Erzählungen” für ein weiteres Zusammenwachsen Europas werden zu können, was sich an Perspektiven um das Projekt “europäisches Sozialmodell” gruppiert. Verdienstvoll ist daher jede Beschäftigung mit dieser Perspektive, vor allem um damit auch die bisherige Beschränktheit des Blickes auf die jeweils nationale Verhältnisse zu erweitern.
Ein erster Blick macht schon deutlich, dass die meisten die sich mit dem Thema „europäisches Sozialmodell“ befassen das meist mit einer nationalen Brille tun, so dass die Verschiedenheit der jeweiligen nationalen Sozialmodelle nicht aus der ihnen eigenen Logik betrachtet wird, sondern des jeweils „Andere“ eher in das Prokrustesbett der “eigenen” institutionellen und kulturellen Vorstellungswelt gepresst und dann von dieser Warte aus beurteilt wird.
Unter diesem verengten Blickwinkel ist aber ein echter Vergleich nicht möglich – auch mit Indikatoren oder Kennziffern gelingt es die Charakteristik und die jeweilige Leistungsfähigkeit der einzelnen Sozialmodelle lediglich von ihrer Oberfläche her anzugehen ( z.B. Alber ).

Es gibt aktuell einige Texte, die sich für diese Auseinandersetzung hervorragend eignen:

  • Thomas Blanke/Jürgen Hoffmann , “Auf dem Weg zu einem Europäischen Sozialmodell” – in: “Kritische Justiz” Heft 2/ 2006 , S. 134 ff.
  • Jens Alber, “Das europäische Sozialmodell und die USA” – in: “Leviathan”, Heft 2/2006, S.209 ff.
  • Christine Trampusch, “Postkorporatismus in der Sozialpolitik – Folgen für die Gewerkschaften”, in: WSI-Mitteilungen 6/2006, S. 347 ff.
  • aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung vgl. auch weiter Jürgen Beyer, “Deutschland AG – ade”
  • Werner Abelshauser, “Kulturkampf”, Berlin 2003 sowie ders. “Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945”, Bonn 2005

Es ist mir daran gelegen diese Darstellungen in eine allgemeine Entwicklung einzubetten und dies vor dem Hintergrund von zusätzlich zwei weiteren Strängen:
Zum einen soll uns Michel Foucault mit seiner “Geschichte der Gouvernementalität” (2 Bände, Frankfurt am Main 2004) nicht nur zu den ökonomischen und kulturellen Wurzeln – und auch Differenzen – der Modelle geleiten. Dabei könnte man natürlich auch schon auf Lord Bacon zurückgreifen, der in Bezug auf die Regierungsverantwortung gegenüber dem Volk die Feststellung traf, dass es für eine Volkswirtschaft sinnvoller ist, dass viele wenig haben, als dass wenige viel haben….

Zum anderen soll auch die Zäsur der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre mit ihrer Neukonstituierung der Wirtschaftstheorie durch die “keynesianische Revolution” – sozusagen der Begründung einer Makroökonomie – ins Blickfeld genommen werden.

Das liest sich dann etwa bei Abelshauser so: Während die angelsächsischen Länder – vor allem Roosevelt mit dem New Deal in den USA – die Wirtschaftstheorie zur Lösung der Probleme (der Arbeitslosigkeit !) heranzogen, gingen die Deutschen den Weg der Neugestaltung der Wirtschaftsordnung mit einem starken ordnenden Staat unter dem Primat der Wirtschaft. (Abelshauser “Kulturkampf”, S. 159 ff. ) Die deutschen “Ordoliberalen” standen somit in der Tradition des Bismarckschen Staates (Pfadabhängigkeit – vgl. auch Abelshauser, “Wirtschaftsgeschichte” – sowie M.Foucault, “Gouvernementalität” Bd. II (Biopolitik) die 4. bis zur 7. Vorlesung).
Diesen allgemeineren Hintergrund muss man im Auge haben, um die jeweiligen Arbeiten zu den europäischen Sozialmodellen deutlicher gegeneinander “konturieren” zu können.

Als Ausgangspunkt möchte ich die Autoren Blanke/Hoffman nehmen, schon weil diese mir am vertrautesten sind: Ein gravierender Einwand scheint mir zu sein, dass die Autoren die Dynamik des Wirtschaftsgeschehens in ihrer Betrachtung außen vor lassen und sich so auf eine bloße Analyse der Institutionen-Kontinuität beschränken, was vielleicht sogar wieder typisch deutsch ist – aber damit eben ihre enormen Schwächen in sich hat.
So stellen Blanke/Hoffmann etwa fest, dass der Flächentarifvertrag institutionell seine Kontinuität bewahrt habe – ohne gleichzeitig die Veränderung seiner ökonomischen Bedeutung zu reflektieren. So wird z.B. verkannt, dass es die Flächentarifverträge gerade über die letzten 10 Jahre nicht leisten konnten, die Binnennachfrage (Kaufkraft) durch angemessene Lohnsteigerungen zu stabilisieren, sondern dass laufend Lohneinbußen mit erheblichen volkswirtschaftlichen Auswirkungen hingenommen werden mussten. Was im Übrigen angesichts der damit sinkenden Wettbewerbsfähigkeit anderer Volkswirtschaften längerfristig nicht nur zu enormen ökonomischen Turbulenzen in der EU sondern zu einem allgemeinen Abschleifen sämtlicher Varianten der europäischen Sozialmodelle führen kann? (Exportüberschußweltmeister Deutschland drückt die anderen Nationalökonomien in der EU mit seinem Lohndumping, seinen Arbeitszeitverlängerungen, seiner Verlängerung der Lebensarbeitszeit oder inzwischen auch durch sein Unternehmenssteuerdumping an die Wand – vgl. Heiner Flassbeck u.a. in: WSI-Mitteilungen 12/2005) Wieso ist diese Entwicklung etwa bei der Kaufkraft in Frankreich z.B. eine ganz andere? (und überhaupt gegenüber Frankreich – da scheinen die Autoren geradezu mit Blindheit geschlagen.) Unter Einbeziehung der volkswirtschaftlichen Aspekte bekämen die sozialstaatlichen „Institutionen“ aber erst ihre Lebendigkeit und würden in ihrer (durchaus unterschiedlichen) Funktion vorgeführt. In diesem Aufsatz bleibt deshalb die Typologie von Sozialmodellen so blutleer wie eine verstaubte Käfersammlung.

Am bemerkenswertesten bleibt jedoch die Abstinenz gegenüber ökonomischen Daten, wie etwa der Arbeitslosigkeit. Und wenn dann einmal Zahlen hereingepurzelt kommen, wie z.B. die Konsequenzen der Deindustrialisierung für das angelsächsische Modell (Blanke / Hoffmann, S. 144 Anm. 20), dann bleiben sie unbewertet am Rande.
Nicht nur dass die Politiker selbst sich an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen und gemessen werden, der moderne Staat hat überhaupt „die Wirtschaft“ zur Schaffung seiner Legitimation gegenüber dem Volk in den Mittelpunkt seines Handelns gestellt. Und zur Messung der Effizienz seines Handelns “erfand” er die systematische Statistik ( vgl. Foucault ). Doch bei Blanke/Hoffmann werden eben nur „Typen“ herausgearbeitet, ohne nach deren ökonomischer Effizienz zu fragen…..

So ist z.B. die deutsche Mitbestimmung mit ihren produktivitätssteigernden Effekten ein “Pfund” mit dem das deutsche Sozialmodell als Exportüberschußweltmeister “wuchern” kann (vgl. Abelshauser “Kulturkampf” S. 142 ff. ). Wie diese Überschüsse in der Handelsbilanz auf Dauer austariert werden können, die jetzt systematisch sogar durch die Schwächung der Gewerkschaften auf sozialpolitischem Gebiet noch verstärkt werden (vgl. Trampusch), das müsste doch wenigstens als Frage auftauchen. Denn diese Entwicklung kann schließlich nicht ohne Folgen für die anderen „Sozialmodelle“ in einem einheitlichen Markt bei einheitlicher Währung bleiben. Die Probleme in Italien, Frankreich oder Spanien sind doch schon virulent.

Der von den Autoren festgestellte Bedeutungsverlust der Gewerkschaften in Europa wird so auch nicht als ein vor allem spezifisch deutsches bzw. von Deutschland ausgehendes Problem wahrgenommen (wie Blanke/Hofmann übrigens auch Trampusch). Dieser Bedeutungsverlust ist eben nicht sachzwanghaft vom Himmel gefallen (es sei denn man stützt sich auf diesen ominösen kaum empirisch oder analytisch belegten Sachzwang “Globalisierung”), sondern hat sehr viel zu tun mit dem durch eine angebotsorientierte ökonomische Doktrin erzwungenen zehnjährigen Rückgang der Kaufkraft, den die spezifisch deutsche Gewerkschaftskonstellation als “Lohnmaschine” vor all durch den Druck steigender Arbeitslosigkeit nicht in der Lage war, aufzuhalten (vgl. z.B. Flassbeck – auch www.flassbeck.de und weiter zu dieser die Nachfrage einbeziehenden makroökonomischen Sicht nebst den Widerständen dagegen vor allem auch auf den www.nachdenkseiten.de) Zum Kaufkraftverlust kommt dann nicht nur die zunehmende Lohnspreizung , sondern insgesamt das weitere Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich (vgl. z.B. den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und die weiteren Studien dazu – ein Ende dieser zunehmenden Einkommensungleichheit ist nicht in Sicht).

Deutschland hat eben keine zweihundertjährige Tradition des gesellschaftlichen Diskurses über das spannungsreiche Paar “Gleichheit und Freiheit” – oder gar noch der Brüderlichkeit (vgl. Pierre Nora (Hrsg,) “Erinnerungsorte Frankreichs”, München 2005 , S. 27 ff.) – konsequenterweise verengt sich die Diskussion bei uns in letzter Zeit zunehmend und reichlich dogmatisch allein auf die „Freiheit“ – womit aber vor allem die Freiheit der Unternehmer verstanden wird (vgl. zu der Geschichte der Unternehmenssteuerbefreiungen seit 2000 z. B. die Publikationen bei www.jarass.com)- hinzu kommt dann noch die Forderung nach „Eigenverantwortung“, die sich dann auch noch reichlich zynisch gerade auch an die Arbeitslosen richtet (Hartz IV & Co.).

Wie dieser in Deutschland reichlich beschränkte regierungsamtliche und mediale Diskurs dann bei den Menschen ankommt, wurde von einer Konstanzer Forschungsgruppe (in Anlehnung an die Vorbild-Studien von Bourdieu in Frankreich – sozusagen als eine neue Gouverne”mentalität”) dargelegt – mit im Übrigen recht wenig Hoffnung auf Alternativen. (vgl. Frank Schultheis, Kristina Schulz (Hrsg.) “Gesellschaft mit begrenzter Haftung” , Konstanz 2005)

Anders als Blanke/Hoffmann vergleicht Jens Alber die Sozialmodelle an Hand von Indikatoren und Kennziffern – und er kommt zu dem spannenden Ergebnis, dass zwei – ganz unterschiedliche – Sozialmodelle erfolgreich seien: auf der einen Seite das angelsächsische und das skandinavische auf der anderen Seite!
Der wirtschaftliche Erfolg in diesen Modellen, die ja in ihrer sozialstaatlichen Ausprägung recht unterschiedlich sind, hat aber m.E. weniger mit den jeweils unterschiedlichen Sozialmodellen sonder viel eher – zwar mit recht unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – etwas mit der dort praktizierten makroökonomischen Wirtschaftspolitik zu tun – aber soweit geht Alber nicht, er ist ja auch kein Ökonom…
Darüber hinaus sind das englische und das skandinavische Sozialmodell in einem ziemlich reinen protestantischen Milieu gewachsen. Max Weber könnte einem dazu einfallen, aber geeigneter müsste man für Deutschland und Frankreich – vielleicht auch für England – wahrscheinlich eher auf das Pastorat von Foucault zurückgreifen. (Bd. I, ab Vorlesung 5, um hier nur einige Stichworte aufzugreifen : “ich sorge für dich, also habe ich das Recht dir den Willen zu brechen” … und “Individualität ist zugelassen, auf Kosten der Subjektivität”… )

Vielleicht gelingt es besser auf dieser kulturellen Ebene den Zugang z.B. zu dem schwedischen Sozialmodell zu finden (vgl. zu einem ersten Verständnis der kulturellen Differenz z.B. Cornelia Heintze “Wohlfahrtsstatt als Standortvorteil”, Leipzig 2005 – dort besonders S.97 ff.) Wenn F.-X. Kaufmann behauptet, dass es sich bei den schwedischen Gewerkschaften um eine “mittelbare Staatsverwaltung” handele, so wird einmal mehr der deutsche Blick deutlich, der die kulturell unterschiedliche Rolle von Gewerkschaften zwischen Deutschland und etwa Schweden völlig verkennt. In Schweden handelt es sich bei der Gewerkschaftsbewegung nicht um eine etatistische sonder vielmehr um eine zivilgesellschaftliche Organisation innerhalb der Gesellschaft vermittelt über das ökonomische Medium Arbeitsmarkt. Aber in unserer deutschen Bismarckschen Tradition des sozialstaatlichen Denkens “muss” eben Gewerkschaften unter Verkennung der schwedischen Verhältnisse quasi eine staatliche oder wenigstens mittelbar staatliche Funktion zugeschrieben werden…
Es ist ein kluger Schachzug der schwedischen Sozialdemokratie gewesen, dass sie den Arbeitsmarkt, der den Güter- und Finanzmärkten nachgeordnet ist, in die Hand einer zivilgesellschaftlichen Organisation legte, die, wie die dortigen Gewerkschaften, über 80 % der Beschäftigten repräsentiert.
Hier wird “Gegenverhalten” ( Foucault) auf eine sehr kluge Art demokratisch institutionalisiert – besser noch als durch das individuelle Streikrecht in Frankreich. Der Erfolg der Skandinavier im Wirtschaftlichen wie im Sozialen ist die beste Bestätigung dafür!

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