Bundespräsident Gauck in Rostock – Pastorales Pathos genügt nicht, um die Ursachen der Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen

Ein Artikel von Orlando Pascheit

„Bundespräsident Joachim Gauck hat eine sehr gute Rede gehalten. Er hat in Rostock-Lichtenhagen eindringliche Worte gefunden. Worte des Entsetzens über den Mob, der voller Lust nicht nur Häuser, sondern Mitbürger brennen sehen wollte. Worte des Entsetzens aber auch über den Staat, über die Institutionen des Staates, die den Mob damals gewähren ließen. Er sprach auch nicht nur über die Vergangenheit“ schreibt Arno Widmann in einem Beitrag der Frankfurter Rundschau und fügt ein persönliches Schuldbekenntnis an, dass er nicht selbst nach Rostock fuhr und Hilfe organisierte. Liest man die Rede, so wirkt sie sehr allgemein gehalten und ziemlich pastoral, meint Orlando Pascheit
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Ob die Rede Joachim Gaucks sehr gut, eindringlich oder gar großartig war, wie Arno Widmann meint, kann wahrscheinlich letztlich nur derjenige beurteilen, der vor Ort war, denn zur Rede gehört auch, vielleicht sogar zentral der Klang der Rede. Liest man die Rede, so wirkt sie sehr allgemein gehalten und ziemlich pastoral.

Wahrscheinlich ist es zu viel verlangt, dass eine Rede zum Rückfall in die Barbarei uns bis in die Grundgewissheiten unseres Lebens erschüttern sollte, allerdings haben alle, die für Gauck votierten, so getan, als ob er dazu fähig sei. Aber zumindest ein wenig mehr Analyse wäre schon zu erwarten gewesen, wie sie Gauck einerseits selber einfordert: “Wir können die größten ausländerfeindlichen Ausschreitungen in der Geschichte der Bundesrepublik nicht mehr ungeschehen machen. Umso mehr sind wir verpflichtet, die Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, nicht irgendwie Gras über sie wachsen zu lassen, sondern sie immer wieder zu betrachten, zu analysieren, um aus den Fehlern und Versäumnissen von damals zu lernen.”

Nur, zu Rostock-Lichtenhagen ist bereits genug analysiert worden und den üblichen Gauckschen Hinweis: „Gerade wir Ostdeutschen blieben anfällig für ein Denken in Schwarz-Weiß-Schemata“, weil die SED keine „Kultur der offenen Bürgerdebatte“ geduldet habe, kennen wir nun allmählich zur Genüge.

Nein, es gilt die Versäumnisse von heute, die Fremdenfeindlichkeit als Konstante unserer Gemeinschaft zu thematisieren, zu analysieren.

Wollte Gauck nicht auch der eigenen Regierung ab und zu die Leviten lesen? Rostock wäre eine Gelegenheit dazu gewesen. Widmann zeigt in seinem Leitartikel die Richtung an, wenn er auf 34 rechte Straftaten in Deutschland – pro Tag (!) – hinweist, oder wenn er fragt, warum “Programme und Initiativen gegen Fremdenfeindlichkeit in den letzten Jahren staatliche Unterstützung, Unterstützung der Länder und Gemeinden, gestrichen bekamen.” Fragen, die der Pastor, der Hüter des Gemeinwesens, durchaus auch hätte stellen können. Und natürlich hätte der Bundespräsident in einem nächsten Schritt dann nach den Ursachen der immer tiefer gehenden Spaltung unserer Gesellschaft fragen können, müssen. Denn es “ist völlig unstrittig, dass massive Ungleichheit Gesellschaften zersetzen kann. Kernnormen wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness werden in unserer Untersuchung von großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr als realisierbar angesehen. Das hat Folgen, denn die sozialstrukturelle Desintegration unterer sozialer Lagen hängt mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zusammen. Spiegelt man dies auf soziale Spaltung, so hätte die Politik dieser Entwicklung massiv entgegenzusteuern. Tut sie das nicht, ist sie am Entstehungs- und Radikalisierungsparadigma beteiligt.” (Wilhelm Heitmeyer, 30.04.2012)

Wahrscheinlich bleibt einem Präsidenten, der mit der Forderung nach Eigenverantwortung derer, die unter Brücken schlafen, durch die Lande tourt, die Lektüre einer Untersuchung der Forscher um Heitmeyer verschlossen: „Der Effekt von Prekarisierung auf fremdenfeindliche Einstellungen. Ergebnisse aus einem Drei-Wellen-Panel und zehn jährlichen Surveys“ (in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin 2012). Da ist es doch viel einfacher im hohen patriotischen Ton zu schwadronieren: “Doch heute und hier versprechen wir: Allen Rechtsextremisten und Nationalisten, all jenen, die unsere Demokratie verachten und bekämpfen, sagen wir: Wir fürchten euch nicht – wo ihr auftretet, werden wir euch im Wege stehen: In jedem Ort, in jedem Land, im ganzen Staat. Wir sind stark. Wir wissen es: Wir sind stark! Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände!”

Dazu sagt Widmann: “Ich liebe diese Ausrufezeichen, aber wenn sie nicht dazu führen, dass die Leute, die in den Städten und auf dem Lande Bedrohten helfen, unterstützt werden, dann sind sie nichts als Rhetorik, ein Schwindel, der uns über feierliche Augenblicke des Erinnerns wortgewaltig hinweghilft.” Nur bleibt Widmann letztlich in der Falle der Eigenverantwortung, der Zivilcourage, der Selbstanklage hängen, wenn er schreibt: “Ich war nicht wütend darüber, dass ich nicht hinfuhr und sah, wie ich helfen konnte. Ich war nicht wütend darüber, dass ich nicht von Berlin aus Hilfe organisierte für die Angegriffenen, Angezündeten und die, die ihnen in Rostock-Lichtenhagen halfen.” Denn hier hat Gauck völlig recht: “Aber vor allem brauchen wir auch einen Staat, der fähig und willens ist, Würde und Leben der Menschen zu schützen, die in ihm leben. Wenn unsere Demokratie Bestand haben soll, muss sie auch wehrhaft sein. Sie darf sich das Gewaltmonopol niemals aus der Hand nehmen lasse.”

Der Bürger muss sich nicht nur braunen Gewalttätern stellen, er sollte die nächste Polizeiwache anrufen können. Und wenn dies nicht funktioniert, kann er die Politik wählen, die ihm diesen Schutz gewährt. Der Staat kann durchaus Polizeistationen, die nicht funktionieren, und leitende Beamte, die schlafen oder ideologisch fehlgeleitet sind, gegen bessere austauschen.

Nur machen wir uns nichts vor, die Lösung liegt nicht in der Verschärfung der Kontrolle oder dem Verbot von Parteien, die Hauptverantwortung liegt bei der Politik, die ein Ausmaß an Prekarisierung und eine bis dato in Deutschland unbekannte Spaltung der Gesellschaft zu verantworten hat – an diesem Spalt ag(it)iert Menschenfeindlichkeit.

Zuvorderst gilt es also aus unserer selbstgewählten Unmündigkeit heraus zu treten und unsere Eigenverantwortung darin zu verwirklichen, indem wir Politiker wählen, die nicht durch das Bashing von faulen Hartz IV-Beziehern oder Griechen von ihren eigentlichen Aufgaben ablenken, sondern auch wider die eigenen kurzfristigen Karriereschritte eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik betreiben, die statt der Finanzmärkte und Eigeninteressen das Gemeinwohl in Auge haben.

Die Gauckschen Demokratieverächter sind eine Etage höher zu verorten, denn was für Politiker sind das, die eine verschwurbelte Vulgärökonomie über den Demos, die Polis stellen? (Das klingt jetzt auch ein wenig pastoral. konkretere Ausführungen würden allerdings den Rahmen sprengen, aber die NachDenkSeiten bieten genügend Anregungen.)

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