Die SPD, Hans Werner Sinn und die Billionenfrage
Zwei Schritte vor, drei zurück – so könnte man die finanzpolitische Linie der SPD am Ende der Sommerpause beschreiben. Zunächst polterte der große Vorsitzende Gabriel aus seiner „Babypause“ lautstark gegen die „Organisierte Kriminalität“ der Banken – Gut gebrüllt, Löwe! Wenige Tage später legte sich der nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans in Sachen Steuer-CDs offen mit der Schweiz und der Berliner Regierung an – Wunderbar, dies ist weit mehr als nur ein Lichtstreif am Horizont. Wer nun jedoch dachte, die SPD wäre in der Sommerpause in sich gegangen und endlich zur Vernunft gekommen, wurde spätestens gestern wieder in die Tristesse der politischen Realität in Deutschland zurückgeholt. Carsten Schneider, seines Zeichens haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, schaffte es mit einem einzigen Interview das zarte, gerade erst keimende, Pflänzchen der Hoffnung auf eine geistige Gesundung der SPD brachial niederzutrampeln. Von Jens Berger
Glaubt man Schneider, der innerhalb der SPD sowohl Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises ist, als auch dem karriereorientierten Netzwerk Berlin angehört, haftet der deutsche Steuerzahler im Rahmen der Eurokrise heute schon für „eine Billion Euro“. Das hört sich freilich schneidig an und dürfte sein Ziel, dem Bürger gehörig Angst zu machen, nicht verfehlen. Schneiders Rechnung hält jedoch einer seriösen Überprüfung nicht stand. Es scheint vielmehr so, als habe er sich gleichlautende Äußerungen des berühmt-berüchtigten Stammtischökonomen Hans Werner Sinn zur Vorlage genommen und dessen Argumentation eins zu eins übernommen. Hans Werner Sinn genießt – trotz des Schiffbruchs, den er mit seinem im Juli veröffentlichten „Offenen Brief“ erlitt – in konservativen Kreisen immer noch hohes Ansehen. Daher ist es wohl leider nötig, seine Panikmache, die von Schneider weiterverbreitet wird, einmal auf den Prüfstand zu stellen.
Wofür haftet der Steuerzahler?
Die publikumswirksame „Billion“, für die der deutsche Steuerzahler“ angeblich bereits haftet, setzt sich aus 310 Mrd. Euro für die Griechenlandpakete und Risiken aus dem Euro-Rettungsschirm EFSF und weiteren 700 Mrd. Euro zusammen, für die angebliche die Bundesbank haftet. Beide Zahlen sind falsch. Richtig ist, dass die EFSF Garantien im Gesamtvolumen von 780 Mrd. Euro vergeben darf [PDF – 711 KB]. Bei einem Kreditausfall der EFSF haften in letzter Instanz die Mitglieder der Eurozone. Nach dem eigentlichen Verteilungsschlüssel haftet Deutschland bei einem Kreditausfall für 27,06% der abzuschreibenden Summe. Da man davon ausgehen kann, dass die EFSF-Kreditnehmer im Falle ihrer eigenen Insolvenz nicht am Verteilungsschlüssel beteiligt werden können, haftet Deutschland im Falle eines Kreditausfalls aller Kreditnehmer (also Irland, Portugal und Griechenland) somit sogar für 29,07% der Verluste. Wenn die EFSF also bis an ihre Kapazitätsgrenze gehen und das Maximalvolumen von 780 Mrd. Euro garantieren würde, müsste Deutschland für 211 Mrd. Euro haften. Von dieser Kapazitätsgrenze ist die EFSF jedoch sehr weit entfernt. Aktuell werden über den EFSF-Mechanismus „lediglich“ Kredite im Gesamtvolumen von 188,3 Mrd. Euro abgesichert. Selbst wann man ein (unwahrscheinliches) Worst-Case-Szenario aufstellt, bei dem diese Kredite zu 100% abgeschrieben werden müssen, müsste Deutschland „lediglich“ mit 54,74 Mrd. Euro haften.
Weitere Risiken schlummern in den Krediten, die im Rahmen des „ersten Rettungspaketes“ von EU und IWF an Griechenland vergeben wurden. Hierbei handelt es sich um eine Gesamtsumme von 73 Mrd. Euro, von denen Deutschland nach den Verteilungsschlüsseln bei EU und IWF für 16 Mrd. Euro haften würde. Dies alles sind wohlgemerkt bis dato lediglich Garantien, von denen noch kein einziger Cent aus dem Staatshaushalt abgerufen werden musste.
Reale Verluste sind indes an einer ganz anderen Stelle entstanden. Da der damalige SPD-Finanzminister Steinbrück bei der „Rettung“ der HypoRealEstate von den Banken gehörig über den Tisch gezogen wurde, haftet der Staat voll für die Risiken, die in den Bilanzen der Bad Bank der HypoRealEstate schlummern. Presseberichten zufolge macht das Griechenland-Engagement dieser Bad Bank 8,9 Mrd. Euro aus. Diese Summe muss man wohl oder übel – dank Peer Steinbrück – zur deutschen Haftungssumme hinzuzählen. Anders als die staatlichen Garantien zählt diese Haftungssumme sogar zu den Risiken, die mit großer Wahrscheinlichkeit fällig werden, da sie als private Kredite gelten und damit vom bereits vollzogenen griechischen Schuldenschnitt betroffen sind.
Milchmädchenrechnung
Addiert man nun die Risiken, die sich aus den bereits vergebenen EFSF-, EU- und IWF-Krediten ergeben und zählt die Risiken der Bad Bank der HypoRealEstate hinzu, kommt man auf 79,6 Mrd. Euro. Das ist zweifelsohne eine erschreckend hohe Summe, die jedoch meilenweit entfernt von den 310 Mrd. Euro sind, die Sinn und sein Faktotum Schneider öffentlichkeitswirksam in den Raum stellen. Wie kommen Sinn und Schneider auf diese wesentlich höhere Zahl? Ganz einfach, sie unterstellen, dass Deutschland nicht nur für die vergebenen Kredite, sondern für das Maximalvolumen haftet. Das ist jedoch unredlich. Staat und Steuerzahler haften nach Adam Riese zwar für die Garantien, die sie vergeben haben. Für Garantien, die niemand in Anspruch nimmt, haftet jedoch auch niemand. Das sollte eigentlich logisch sein.
An dieser Stelle sei jedoch eine andere Frage gestattet. Wo war Carsten Schneider eigentlich, als sein Parteifreund Peer Steinbrück im Herbst 2008 zusammen mit der Kanzlerin mal eben sämtliche Spar- und Sichteinlagen für „sicher“ erklärte? Diese Garantie, auch wenn sie freilich nie ernst gemeint war, hatte ein Gesamtvolumen von fast sechs Billionen Euro [PDF – 107 KB] – eine Steilvorlage für jeden Populisten.
Target-Wirrwarr
Entziehen sich die 310 Mrd. Euro, für die laut Carsten Schneider die Bundesrepublik im Rahmen der Griechenland-Pakete und des EFSF haften soll, bereits jeglicher seriöser Überprüfung, sind die weiteren 700 Mrd. Euro, mit denen die Schneider die Haftungssumme auf die „magische“ Billionengrenze steigert, geradezu absurd. Diese Summe entspricht dem vielzitierten Target2-Saldo der Bundesbank, der aktuell bei 727 Mrd. Euro liegt. Target2 ist ein Zahlungsverkehrssystem des Eurosystems, Target2-Salden sind Abgrenzungsposten bei den nationalen Notenbanken, die z.B. dann positiv bzw. negativ wachsen, wenn sich die Banken kein Geld mehr untereinander leihen und das Eurosystem Bilanzposten von den Überschussländern wie Deutschland in die Defizitländer wie Spanien umbuchen muss. Target2-Salden stellen jedoch keine Kredite dar, sie sind eher technischer Natur.
Da die Target2-Thematik sehr komplex ist und sich nicht ohne einen sehr tiefgreifenden Ausflug in das Rechnungswesen der Zentralbanken ausreichend vermitteln lässt, empfehle ich den Lesern, die sich intensiver mit der Materie auseinandersetzen wollen, die im kommenden Absatz verlinkten Studien und Aufsätze, die für Leser mit Vorkenntnissen einen tieferen Einblick in die Materie bieten.
Die Target2-Salden sind bekanntlich auch das Steckenpferd von Hans Werner Sinn. Leider ist der deutschen Öffentlichkeit jedoch nicht bekannt, dass Sinn in dieser Frage national und international eine radikale Minderheitsmeinung vertritt. Um es genauer zu sagen – Sinns Thesen werden von nahezu allen Ökonomen, die sich mit näher mit Geldpolitik und Zentralbankpolitik beschäftigen, bestenfalls mit einem unverständigen Kopfschütteln quittiert. Die Liste dieser Ökonomen ist sehr lang und reicht vom Notenbank-Experten Karl Whelan, dem EZB-Fachmann Ulrich Bindseil, dem ehemaligen Wirtschaftsweisen Olaf Sievert, den IWF-Ökonomen Bornhorst und Mody, den Finanzmarktexperten Burgold und Voll [PDF – 1.8 MB] bis hin zur „Grauen Eminenz“ der Monetaristen, Jürgen Stark. Scharfe Kritik an Sinns Thesen kommt dabei nicht nur von einer bestimmten „ökonomischen Schule“, sondern von allen Seiten. Der Wirtschaftsjournalist Olaf Storbeck fasst die Debatte mit dem griffigen Satz zusammen: „Ein VWL-Student, der so [wie Hans Werner Sinn] argumentiert, würde durch Examen fallen“.
Carsten Schneider ist zwar kein vollkommen Laie, er hat immerhin eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert, durch ein VWL-Examen würde er jedoch ebenfalls durchfallen, wenn er dort Hans Werner Sinns Target2-Thesen zum Besten geben würde. Kein seriöser Ökonom (und wohl auch nur die wenigsten unseriösen) würde das Target2-Saldo der Bundesbank ernsthaft als Haftung des deutschen Steuerzahlers im Rahmen der Eurokrise interpretieren. Diese These entbehrt nicht nur jeglicher Grundlage, sondern zudem auch der Logik.
Notenbankverluste sind keine Garantien des Steuerzahlers
Selbst wenn man einmal für einen kurzen Moment annimmt, dass Sinn und Schneider Recht hätten und im Falle eines kompletten Crashs des gesamten Eurosystems, bei dem ausschließlich Deutschland als zahlungskräftiges Land überbleibt (dieses Szenario ist die Grundvoraussetzung für den Rechnungsposten 700 Mrd. Euro), würde nicht der Steuerzahler, sondern die Bundesbank auf Rechnungsposten im Höhe von 700 Mrd. Euro sitzen, die dann (und auch nur dann) als Forderung gegen die Zentralbanken aller anderen Eurostaaten zählen würden. Man stelle sich dieses Szenario einmal bildlich vor: Der Euro zerbricht, alle Eurostaaten kehren zu ihrer Nationalwährung zurück und die Deutsche Bundesbank sitzt nun auf alten Forderungen eines nicht mehr existenten Clearingsystems der Eurozone in Höhe von 700 Mrd. Euro. Sicher, diese Forderungen müssten abgeschrieben werden, da ja nun weder das Clearingsystem Target2, noch die Eurozone mehr existieren. Aber warum sollte die Bundesrepublik in einem solchen Falle 700 Mrd. an die Bundesbank überweisen?
Die Bundesbank ist keine große Sparkasse und ist nicht verpflichtet, Abschreibungen in ihrer Bilanz auszugleichen. Mehr noch, die weit verbreitete Vorstellung, nach der die Bundesrepublik mit Steuergeldern für etwaige Verluste der Bundesbank haften müsste, ist ebenfalls falsch. Die gesetzlichen Bestimmungen dazu sind eindeutig und auch in der Vergangenheit kam es noch nie vor, dass Verluste der Bundesbank durch Steuergelder ausgeglichen wurden, obgleich die Bundesbank in den 1960er und 1970ern regelmäßig Verluste melden musste. Selbst wenn man das extrem unwahrscheinliche Szenario, dass den Sinn-Schneider-Thesen zugrunde liegt, einmal durchspielt, und daraus die gleichen falschen Schlüsse wie Sinn und Schneider zieht, kann man nicht zum Schluss kommen, dass der Steuerzahler auch nur für einen Cent aus den Target2-Salden haften müsste oder gar würde.
Zum interessanten Thema EZB, Bundesbank und die Abschreibung von Buchverlusten bei den Notenbanken werden sich die NachDenkSeiten in der nächsten Woche noch ausführlich berichten.
Da stellst sich die Frage, was Carsten Schneider eigentlich damit bezwecken will, wenn er Zahlen zur Haftung durch den Steuerzahler in den medialen Orcus schleudert, die nicht nur gigantisch, sondern auch gigantisch falsch sind. Hans Werner Sinn, der Erfinder dieser Zahlen, ist dafür bekannt, in nationalistischen Dimensionen zu denken und die Eurozone lieber heute als morgen kollabieren zu sehen. Ein solcher Kollaps wäre eine denkbare Folge, wenn sich das deutsche Parlament gegen erweiterte Programme zur Bekämpfung der Eurokrise stellen würde. Bis dato zählte die SPD jedoch nicht eben zum Kreis der Eurogegner. Wer weiß, was hinter den Attacken des Seeheimer-Sprechers Schneider steht? Wenn die SPD nun einen Rechtsschwenk vollziehen, mit Nationalismus punkten und dafür bei den Menschen Angst und Panik provozieren will, so ist dies ein fatales Signal. Sicher, die „Seeheimer“ sind selbst in der SPD keinesfalls unumstritten. Umso verwunderlicher ist es jedoch, dass es innerhalb der Sozialdemokraten keinen Proteststurm gegen Schneiders skandalöse Äußerungen gibt. Haben die „Genossen“ etwa schon das schöne alte lateinische Sprichwort „Qui tacet, consentire videtur“ (Wer schweigt, scheint zuzustimmen) vergessen?