Innenansicht der Wahlen in Mexiko
Einer unserer Leser in Mexiko hat uns eine Wahlanalyse der dortigen Wahl vom 2. Juli von Onel Ortíz Fragoso, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion der sozialdemokratischen Partido de la Revolución Democratica (PRD) im Senat, zur Verfügung gestellt. Da der Wahlausgang große Bedeutung für die weitere politische Entwicklung in Süd- und Mittelamerika, vor allem für das Verhältnis dieser Staaten zu den USA hat, wollen wir Ihnen diesen Bericht zur Kenntnis bringen. Wir haben bisher jedenfalls keine vergleichbare Innenansicht der Wahlen in Mexiko nachlesen können.
Die Wahlergebnisse vom 2. Juli
von Onel Ortíz Fragoso
7. Juli 2006
Die Wahlergebnisse vom 2. Juli zeichnen sich besonders durch zwei Punkte aus:
- der knappe Wahlausgang bei der Präsidentschaftswahl,
- die neue Wahlgeografie, bei der die PRI (Partido Revolucionario Institucional, über 70 Jahre an der Regierung, 2000 von PAN unter Vicente Fox abgelöst, neoliberal) vom ersten auf den letzten Platz fiel.
Friedlicher Wahltag, sonniger Morgen, regnerischer Nachmittag. Hohe Wahlbeteiligung (59%). Ängste wurden beschwört. Die Polarisierung und die den Wahlen vorausgehenden Disqualifikationen konnten den Urnengang nicht schmälern. Die Bürger gingen ihrem Wahlrecht nach. Eine Herausforderung für die Wahlbehörde IFE (Instituto Federal Electoral) und die Parteien. Aufruf zur Verantwortlichkeit. Das Land schwebt nicht in Ungewissheit, aber es eröffnet sich die Möglichkeit einer den Wahlen folgenden Mobilisation.
Bei der Präsidentenwahl waren sowohl die Hochrechnung des IFE als auch die des PREP (Computerprogramm des IFE für Hochrechnungen) unzureichend, um einen Sieger festzustellen. Im Gegenteil, es wurde vielmehr die Begrenztheit beider offengelegt.
Die Aufrufe zur Mäßigung von Seiten des IFE-Präsidenten Luis Carlos Ugalde bewirkten wenig. So erklärten sich Sonntagnacht sowohl Andrés Manuel López Obrador von der PRD (Partido de la Revolución Democratica, sozialdemokratisch) als auch Felipe Calderón von der PAN (Partido Acción Nacional, rechtskonservativ) zum Wahlsieger.
Am Montag endete die PREP-Auszählung. Felipe Caledrón (PAN) erhielt 36,38 % der Stimmen, Andrés Manuel (PRD) 25,34 %, Roberto Madrazo (PRI) 21,57 %, Patricia Mercado (Alternativa Socialdemócrata y Campesina, sozialdemokratisch) 2,81 % und Roberto Campa Cifrián (PANAL – Partido Nueva Alianza, konservativ) 0,99 %. Von diesem Moment an änderten sich die Strategien. Felipe Calderón begann mit einer Kampagne, um seinen Sieg zu legitimieren. Andrés Manuel hingegen setzte all seine Kraft darauf, die Wahlunterlagen zu sammeln und die Widersprüche im PREP offenzulegen.
Im Verlauf des Montags begann Roberto Campa das vorläufige Resultat des PREP öffentlich zu unterstützen und Dienstagmittag schickte die PP (Partido Popular) Spaniens ein Glückwunschschreiben an Felipe Caledrón. In verschiedenen Kreisen der Macht und der Medien kursierten Gerüchte, deren Ziel es war zu verbreiten, dass der Kandidat der PAN die Wahlen gewonnen habe. Auf diese Weise sollte Andrés Manuel unter Druck gesetzt werden.
Auf der anderen Seite beklagten der Kandidat der Coalición por el Bien de Todos (Koalition aus PRD und zwei kleinen Parteien (PT – Partido del Trabajo, Convergencia, beide sozialdemokratisch)) und sein Wahlkampfteam die Unregelmäßigkeiten des PREP. Die eindeutigste Unregelmäßigkeit dabei war, dass 3,5 Millionen Stimmen vom PREP nicht registriert wurden. Stimmen aus Wahlurnen, deren Akten aus verschiedensten Gründen unleserlich waren. Diese Klage wurde am späten Dienstag vom für die Hochrechnung und das PREP verantwortlichen Technischen Komitees des IFE bestätigt.
Am Mittwoch, 5. Juli, ab 8 Uhr morgens bis in die Morgenstunden des 6. Julis wurden dann die Wahldistriktsausrechnungen vorgenommen. Erneute Anspannung. Wieder verzerrte Gesichter. Von Mittwochmittag an lag Andrés Manuel für die nächsten 16 Stunden im Computer vorne. Offene Augen und Gesichter des Unglaubens vor jeder Aktualisierung der Resultate. Um Mitternacht verließ der Kandidat der Coalición por el Bien de Todos seine Wahlkampfzentrale und fuhr nach Hause. Zur gleichen Zeit begannen Sympathisanten und Mitarbeiter von Felipe Caledrón sich in der nationalen Parteizentrale der PAN zu treffen. In den jeweiligen Wahlkampfzentralen wusste man Bescheid, welche Distrikte noch fehlten und wie sich die Resultate noch ändern würden. Die Differenz verringerte sich dramatisch und um 04:07 morgens überholte Felipe Caledrón Andrés Manuel.
Mit 100% der Ergebnisse erhielt Felipe Calderón 35,88% und Andrés Manuel López Obrador 35,31 %. Der Unterschied beläuft sich gerade einmal auf 0,57%.
Nachdem der Präsident des IFE das Ergebnis offiziell verkündete, erklärte Felipe Calderón eine Regierung der Nationalen Einheit zu bilden und in einen Dialog mit den anderen Kandidaten zu treten. Andrés Manuel erkannte das Ergebnis nicht an und verkündete, vor das Wahltribunal zu ziehen, gleichzeitig rief er zu einer öffentlichen Versammlung am Samstag, 8.Juli, auf dem Zocalo (zentraler Platz in Mexiko Stadt) um 17 Uhr auf.
Am Samstag auf einem von Sympathisanten überfüllten Zocalo (ca. 400.000 Teilnehmer) wurden zwei Tonbandaufnahmen präsentiert, eine mit Elba Esther Gordillo (Vorsitzende der einflussreichsten Lehrergewerkschaft) und dem Gouverneur von Tamaulipas (PRI), eine andere mit diesem und dem Kommunikationsminister Pedro Cerisola. Diese Tonbandaufnahmen konnten beweisen, auf welche Weise die Kazique der Lehrer eine politische Operation zugunsten Felipe Calderóns durchführte. Andrés Manuel bezeichnete Vicente Fox als Verräter der Demokratie und disqualifizierte den IFE. Er richtete sich an das höchste Wahltribunal (TEPJDF- Tribunal Electoral del Poder Judicial de la Federación) und das Höchste Gericht (SCJN – Suprema Corte de Justicia de la Nación), verantwortungsvoll zu agieren. Zugleich bat er das Militär darum, die Distriktszentralen des IFE zu bewachen. Außerdem rief er zu einer sozialen Mobilisation zur Verteidigung der Demokratie auf.
Geografisch gesehen gewann Felipe Calderón 16 Staaten: Aguascaliente, Baja California, Coahuila, Colima, Chihuahua, Durango, Guanajuato, Jalisco, Nuevo León, Puebla, Querétaro, San Luis Potosí, Sinaloa, Sonora, Tamaulipas und Yucatán.
Andrés Manuel gewann in 15 Staaten und im Distrito Federal: Baja California Sur, Campeche, Chiapas, Distrito Federal, Guerrero, Hidalgo, México, Michoacán, Morelos, Nayarit, Oaxaca, Quintana Roo, Tabasco, Tlaxcala, Veracruz und Zacatecas. Roberto Madrazo gewan nirgends.
Felipe Caledrón gewann die Wahlbezirke I und II; Andrés Manuel die drei restlichen.
Geografisch geht der Norden mit Ausnahme von Baja California Sur an die PAN, der Süden mit Ausnahme von Yucatán an die Coalición por el Bien de Todos. Das Zentrum ist dabei hart umkämpft.
Einige Fakten, die das Ergebnis der Präsidentschaftswahl und die neue Wahlgeografie erklären mögen:
- Die Polarisierung der Wahlkampagnen. Die extreme Gegnerschaft der Kandidaten, wie sie sich vor den Wahlen zeigte, wurde in ein eindeutiges Votum für Felipe Calderón und für Andrés Manuel López Obrador übertragen.
- Die differenzierten Stimmen. Vor allem in den 16 von der PRI regierten Staaten zeigt sich eine differenzierte Stimmabgabe bzgl. der Parlamentarier und Senatoren auf der einen Seite und des Präsidenten auf der anderen Seite. Die Nordstaaten differenzierten ihre Stimmen zugunsten Felipe Calderóns, die Staaten des Zentrums und Südens zugunsten Andrés Manuels.
- Die korporativistische Kontrolle, jedoch nicht vergleichbar mit früher. Die verschiedenen gewerkschaftlichen Organisationen schlossen sich einem der drei Kandidaten an. Trotzdem sticht vor allem die Rolle des SNTE (Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación – Lehrergewerkschaft Gordillos) hervor.
Bei der Diputierten- und Senatorenwahl stimmten sie für die PANAL, dadurch konnte diese Partei ihren endgültigen Parteienstatus erhalten, bei der Präsidentenwahl stimmten sie für Felipe Caledrón. Im Hinblick auf den engen Wahlausgang, waren die Stimmen der von Elba Esther Gordillo kontrollierten Lehrer für den Triumpf Caledróns maßgebend.
Wie auch immer das Endergebnis ausfallen möge, die neue Regierung ist dazu verdammt, mit den restlichen politischen Kräften Vereinbarungen auszuhandeln. Ohne Zweifel wird die junge mexikanische Demokratie in den kommenden zwei Monaten ihrer härtesten Prüfung unterzogen.