Denkfehler 15: »Konjunkturprogramme sind Strohfeuer.«
Variationen zum Thema:
- »Globalsteuerung funktioniert nicht mehr.«
- »Keynes ist out.«
Es ist schon eigenartig: Kaum eine Betrachtung zur heutigen Wirtschafts- und Finanzpolitik kommt ohne einen Rückblick auf die siebziger Jahre aus. Immer wieder tauchen diese Siebziger wie der Leibhaftige auf, wenn es um ein Urteil über Konjunkturprogramme geht. Reihum setzen sich die Agitatoren des Neoliberalismus mit jener Konjunkturpolitik auseinander – Friedrich Merz und Gabor Steingart, Oswald Metzger und Hans-Werner Sinn. Und alle behaupten immer das Gleiche und in den gleichen Worten: Strohfeuer seien es gewesen, den Weg in die Schuldenfalle hätten diese Programme geöffnet, sie hätten nicht gewirkt und so weiter. Psychologen würden vielleicht von Fixierung sprechen. Jedenfalls bleibt einem nichts anderes übrig, als die Vorgänge in den siebziger Jahren zu betrachten, wenn man klären will, ob Konjunkturprogramme Strohfeuer sind oder nicht.
Konjunkturprogramme waren erfolgreich
In der Mitte und gegen Ende der siebziger Jahre brach die Konjunktur ein. Die Ölpreisexplosionen von 1973 und 1977/8 hatten dem Wirtschaftskreislauf nach Schätzungen des Sachverständigenrats jeweils 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit 10 bis 15 Milliarden D-Mark entzogen. Eine zögerliche Trippelschritt-Zinspolitik der Bundesbankverschärfte die Unsicherheit über die konjunkturelle Entwicklung.
Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt versuchte mit mehreren Konjunkturprogrammen Wachstumsimpulse zu geben, zum Beispiel mit dem »Programm für Zukunftsinvestitionen« (ZIP) vom 23. März 1977. Diesem bescheinigte das Ifo-Institut Anfang 1978 in einer Konjunkturanalyse: »Wachstumsprogramm verhindert Anstieg der Arbeitslosigkeit.« Auch andere Institute und die Fachleute der Bundesregierung einschließlich des FDP-Wirtschaftsministers bewerteten die Konjunkturprogramme positiv. Die Zahl der Erwerbstätigen im Inland wuchs von Ende 1977 bis 1980 um 1,1 Millionen. Auch die realen Wachstumsraten jener kritischen Jahre bestätigen das positive Urteil (siehe Tabelle 17).
Tabelle 17: Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts und die Arbeitslosenquote in Deutschland zwischen 1975 und 1980
Wachstum des realen Bruttoinlandprodukts (prozentuale Veränderung gegenüber dem Vorjahr) | Arbeitslosenquote | |
---|---|---|
1975 | – 1,3 | 4,7 |
1976 | + 5,3 !! | 4,6 |
1977 | + 2,8 | 4,5 |
1978 | + 3,0 | 4,3 |
1979 | + 4,2 | 3,8 |
1980 | + 1,0 | 3,8 |
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Statistisches Taschenbuch 1998, Arbeits- und Sozialstatistik, Bonn 1998, 1.2 und 2.10
Durchschnittlich 2,5 Prozent reales Wachstum in einer Phase mit zwei Ölpreisexplosionen sind ein Ergebnis, von dem wir heute träumen. Ohne den Einbruch von 1975 sind es sogar 3,3 Prozent reales Wachstum im Jahresdurchschnitt der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Und dennoch ist das Urteil wie festgezimmert: Konjunkturprogramme bringen nichts. Der SPD-»Vordenker« Peter Glotz, seines Zeichens einer der »Botschafter« der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, behauptet gegen alle Realität und voll im Trend aller Nachplapperer, 1975 sei die Wachstumsphase der Nachkriegszeit zu Ende gegangen. [1]
Eine Analyse der Medienberichterstattung vom Ausgang der Siebziger bis zum Ende der Regierung Schmidt 1982 würde zeigen, dass die Union mit Hilfe von FDP und Wirtschaftsverbänden damals eine massive Kampagne lanciert hat. Die Hauptbotschaft: »18 Konjunkturprogramme hat Kanzler Schmidt in Gang gesetzt, und sie haben nichts gebracht. Lauter Strohfeuer.« Das Brainwashing reicht bis heute und erfasst mit der SPD auch eine jener politischen Gruppierungen, die damals bewiesen haben, dass die Parole nicht stimmt.
Die Strohfeuer-Parole wird heute immer noch geglaubt. Sogar Zeitgenossen, die sich für kritisch und fortschrittlich halten, sind der Kampagne erlegen. Auch von der Geschichtsschreibung darf man nicht die Wahrheit erwarten, denn auch sie wird nicht schreiben, was war, sondern was die Medien von damals bis heute mehrheitlich an Wertung transportiert haben.
»Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.« George Orwell: 1984)
Von den früheren Urteilen, zu denen die Fachleute aus den Wirtschaftsforschungsinstituten über die Programme und ihre Wirkung gekommen sind, will man heute nichts mehr wissen. Am apartesten ist dabei das Vorgehen des heutigen Präsidenten des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn, der die Studien und Verlautbarungen seines eigenen Instituts nicht zur Kenntnis nimmt.
»Wachstumsprogramm verhindert Anstieg der Arbeitslosigkeit (…) Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist im Mai und Juni deutlich gestiegen, und die Produktionspläne der Unternehmen lassen für die kommenden Monate wieder einen Anstieg der Fertigung erwarten. Die von der Bundesregierung am 28. Juli beschlossenen Maßnahmen zur weiteren konjunkturellen Belebung werden, obwohl sie erst 1979 und 1980 in Kraft treten sollen, das wirtschaftliche Klima bereits in der zweiten Hälfte dieses Jahres positiv beeinflussen.« Ifo-Institut (Hrsg.): Wirtschaftskonjunktur 7/1978, München 1978
»Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) und das Institut für angewandte Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommen zu einer positiven Beurteilung der Programmwirkungen auf die Beschäftigungslage und treten wirtschaftspolitisch dafür ein, dass ähnliche Programme zur Förderung wirtschaftsnaher öffentlicher Infrastruktur und zur Bekämpfung der sonst drohenden Zuspitzung der Arbeitsmarktlage in den achtziger Jahren durchgeführt werden sollen.« Klaus Wegner: »Entstehung und Wirkung des öffentlichen Zukunftsinvestitionsprogramms 1977/81 als Modell für mehr Beschäftigung und Wachstum in der Zukunft«, in: Georg Kurlbaum/Uwe Jens (Hrsg.): Beiträge zur sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik, Bonn 1983.
»Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der letzten Jahre hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit wieder stark abgebaut wurde. Diese positive Entwicklung spiegelt sich insbesondere auch in der Zunahme der Beschäftigung wieder. (1977: + 59 000; 1978: + 258 000; 1979: + 383 000; 1980: + 200 000 nach Schätzung des Frühjahrsgutachtens) (…) Hervorzuheben ist dabei, dass die Preissteigerung in der Bundesrepublik auf einem Niveau gehalten werden konnte, das trotz der internationalen Preiszusammenhänge nicht einmal halb so hoch wie die durchschnittlichen Preissteigerungsraten vergleichbarer Industrieländer ist.« Bilanz der Legislaturperiode, die Arbeit der Regierung Schmidt/Genscher seit 1976, Bonn, 6.8.1980
Nach Feststellungen des Instituts für angewandte Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben die Konjunkturprogramme von 1974/75 die Beschäftigung von 235 000 Menschen gesichert; das Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP) hatte demnach 1978 bis 1980 einen Beschäftigungseffekt von knapp 80 000 im Jahresdurchschnitt. [2]
Trotz dieser Erfolge war schon in jenen Jahren eine ungestörte und ideologiefreie Politik zur optimalen Kapazitätsausnutzung unserer volkwirtschaftlichen Möglichkeiten nicht (mehr) möglich (vergleiche die Zahlen in der Tabelle A5 im Anhang, S. XXX). Die Kapazitätsauslastung (im verarbeitenden Gewerbe) fiel 1982 auf den sehr schlechten Wert von 76,8 Prozent. Der Einfluss der Gruppe um den späteren Staatssekretär und Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer und der Einfluss von sogenannten Angebotsökonomen in der Bundesbank und in einzelnen Ministerien war schon zu Zeiten der sozialliberalen Koalition recht groß. »Die Bundesbank verweigert eine Zinssenkung und unterläuft damit die Bonner Konjunkturpolitik«, schrieb der Spiegel am 14. November 1977. Es gab immer wieder Rückzieher und auch Störfeuer durch die Geldpolitik der Bundesbank – schließlich kulminierten diese Auseinandersetzungen zwischen der neuen angebotspolitischen Linie und den Verfechtern von Globalsteuerung und Konjunkturprogrammen im Regierungswechsel von Schmidt zu Kohl im Oktober 1982. Die Krönung des Konflikts war das sogenannte Lambsdorffpapier, benannt nach dem damaligen Wirtschaftsminister im Kabinett Schmidt. Das war das erste neoliberale Dokument von großer Resonanz.
Nun hätten Kohl, Lambsdorff und Kollegen dann ja im weiteren Verlauf nach den Rezepten des Lambsdorffpapiers und der dahinterstehenden Ideologie regieren können. Das hat man teils getan, teils nicht. Das Ergebnis ist auf jeden Fall ganz und gar nicht überzeugend. Ohne die verfemten Konjunkturprogramme wuchs die Arbeitslosigkeit, die privaten und staatlichen Investitionen gingen zurück, das gemeinsam geschaffene Bruttoinlandsprodukt wuchs weniger als zuvor (mit Ausnahme der Phase kurz vor und nach der deutschen Vereinigung), und die Schulden stiegen deutlich mehr als in den siebziger Jahren – 1970 bis 1980 um 175 Milliarden Euro, 1980 bis 1990 um 299 Milliarden Euro und im nächsten Jahrzehnt –auch bedingt durch die Deutsche Einheit – um 673 Milliarden Euro. Dass sich die Vertreter dieser Politik heute immer noch an den Konjunkturprogrammen der siebziger Jahre reiben, ist so gesehen nur dadurch zu erklären, dass die damalige positive Erfahrung wie der Pfahl im Fleisch der neoliberalen Ideologie steckt.
(…)