Wie der Neo-Nationale Matthias Mattusek die WM-Euphorie umdeutet: Die „Bejahungswelle“ stelle selbst die Wiedervereinigung in den Schatten.
Der Kulturchef des SPIEGEL sieht in einem DLF-Interview in der Begeisterung und Partystimmung der Fußballfans auf einer „atavistischen tiefen Ebene in jedem von uns des Gefühl der Zugehörigkeit zu den eigenen Leuten“. Was da wachgerufen wurde, habe „sich ins kollektive Bewusstsein gesenkt und abgelagert und wird als abrufbare Erinnerung bleiben“.
In Klinsmann sieht er geradezu eine germanische Heldenfigur, „wo ein einzelner verkörpert, was kollektiv vorher gewünscht, geträumt, gedacht wurde.“ Eine solche „Lichtgestalt“ brauche man auch in der Politik. „Wir brauchen in der Politik unbedingt so jemanden“.
Der ausgebrochene Patriotismus sei „natürlich sehr tauglich“ durch schwierige Zeiten zu kommen und „schmerzhafte Einschnitte“ hinzunehmen und zu sagen: „Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir.“
Warum machen solche Sätze als einem Deutschen wie mir Angst?
Vielleicht habe ich ja schon immer ein viel positiveres Gefühl und unverkrampfteres Verhältnis zu Deutschland gehabt als Herr Mattusek. Ich habe „das Deutsche“ nie als „so was wie eine hässliche Warze, was wir verstecken müssen“ gesehen und ich hatte auch nie das Gefühl: „Oh Gott, hoffentlich wird man im Ausland nicht als Deutscher identifiziert, weil mit deutsch, wenn man gesagt hat: “typisch deutsch”, war immer ein ganzes Bündel an negativen Eigenschaften und ganz langweiligen, fürchterlichen Attributen verbunden.“
Unter was für einem Minderwertigkeitsgefühl muss Herr Mattusek leiden? Was für ein unreflektiertes Verständnis hat er von „typisch deutsch“?
Ich habe kein Minderwertigkeitsgefühl etwa gegenüber Belgiern oder Niederländern, aber wenn ich über die Grenze fahre, dann erinnere ich mich eben immer auch daran, dass es 1914 deutsche Truppen waren, die das neutrale Belgien überfallen und 1940 auch noch weiter in die Niederlande einmarschiert sind und im Laufe beider Weltkriege unendlich viel Leid und Elend über die dortige Bevölkerung gebracht haben. Und ich freue mich umso mehr darüber, wie freundlich und aufgeschlossen mir die meisten Belgier und Holländer begegnen.
Ich habe meine Probleme mit dem manchmal etwas arrogant daher kommenden französischen Nationalstolz und der Ignoranz der Franzosen gegenüber fremden Sprachen. Dennoch habe ich die meisten Urlaube meines Lebens in Frankreich und unter Franzosen verbracht und mich wohl gefühlt und ich liebe Paris als Stadt. Aber nicht nur, wenn ich das verwüstet erhaltene Oradur-sur-Glane besuche, macht mich unsere deutsche Geschichte eben auch betroffen. Unabhängig von den nationalistischen Tönen der derzeitigen polnischen Führung mag ich Polen und bin begeistert von der Restaurierungskunst, die man in fast allen polnischen Städten betrachten kann. Aber wenn ich durch die polnischen Städte schlendere und im Reiseführer bei nahezu jedem älteren Gebäude, das ich gerade bewundere, nachlese, dass es zwischen 1939 und 1945 von Deutschen völlig zerstört wurde, dann fühle ich mich beklommen, und um so mehr freue ich mich, wie offen einen die Polen aufnehmen. Ich könnte auch Erfahrungen in Skandinavien oder außereuropäisch in Nord- oder Südamerika, in Asien oder in Nordafrika beschreiben, nie habe ich als deutscher eine „hässliche Warze“ verstecken müssen und ich habe nie Angst davor gehabt, als Deutscher identifiziert zu werden – selbst bei vielen Besuchen in Israel nicht. Im Gegenteil – die allermeisten Menschen, denen ich begegnet bin, sind mir ohne solche negativen Vorurteile begegnet, die Herr Mattusek offenbar selbst über das „typisch Deutsche“ pflegt und die er jetzt durch das Fußballereignis überwunden sehen möchte.
Selbstverständlich gibt es Vorurteile gegenüber den Deutschen, genauso wie wir Vorurteile gegenüber den Österreichern, oder den Italienern haben. Aber wäre es nicht viel angemessener, solche Vorurteile abzubauen, als sie für ganz andere Zwecke zu instrumentalisieren?
Und genau das tut Mattusek nach meiner Meinung.
Der für die Kultur im SPIEGEL Verantwortliche betreibt eine kulturell unverantwortliche Umdeutung eines historisch verankerten, die deutsche Geschichte im Guten wie im Schlechten reflektierenden, positive und negative Gefühle vereinigenden und in diesem Sinne vielleicht „typisch“ deutschen Patriotismus zugunsten eines irrationalen „Jubelpatriotismus“ – um nicht das historisch negativ belegte Wort vom „Hurrapatriotismus“ zu gebrauchen.
Dazu muss er den Deutschen zunächst Minderwertigkeitsgefühle zuschreiben, um sie dann mit nicht näher bestimmten „positiven Gefühlen“, mit einer neuen, suggestiv eingeredeten Selbstliebe überwinden zu wollen: „Wir mögen uns. Wir können uns darin besser annehmen.“
Er behauptet dann, dass sei eben „normaler“ Patriotismus: „Das ist eine ganz normale Sache.“ Die Forderung nach „Normalität“ auch für die Deutschen war schon immer das Losungswort, für alle, die von der spezifisch nationalen Geschichte, und wenn man an den Nationalsozialismus denkt, auch von der Einzigartigkeit der deutschen Geschichte loskommen wollen. Da sind dann eben „die zwölf dunklen Jahre der Nazizeit“, aber der deutsche „Geschichtsentwurf“ reiche eben darüber „hinaus und zurück“. Was ist das eigentlich für ein „Geschichtsentwurf“, wer hat denn die deutsche Geschichte entworfen? Ist deutsche Geschichte wirklich so „normal“ wie die Geschichte anderer Nationen?
Gibt es denn den „normalen“ Patriotismus der verschiedenen Länder? Gibt es nicht immer nur ein jeweils historisch geprägtes Verhältnis zum eigenen Land?
Nehmen wir doch dazu einfach einmal das Beispiel der deutschen und der französischen Nationalhymnen. Die Franzosen singen aus vollem Herzen einen ziemlich martialischen Refrain: „Zu den Waffen, Bürger! Schließt die Reihen, Vorwärts, marschieren wir! Das unreine Blut tränke unserer Äcker Furchen!“
Ich denke selbst Herrn Mattusek ginge es vor dem Hintergrund unsere Geschichte zu weit, wenn aus den Kehlen der Fußballfans solche Strophen kommen würden. Für die Franzosen ist das „normal“, weil für sie die Marseillaise ein revolutionäres Kriegslied und als eine Hymne auf die Freiheit historisch verknüpft ist.
Warum hatten wir in Deutschland so viele Schwierigkeiten mit der ersten Strophe der Nationalhymne, doch gerade weil sich wiederum aus unserer Geschichte daraus ein bedrohlicher und andere Nationen abwertender, ja geradezu Furcht auslösender historischer Kontext ergab.
Die Amerikaner haben ihren – für mich teilweise pervertierten und deshalb beängstigenden – Patriotismus und die Schweden oder die Italiener haben ihren jeweiligen Nationalstolz. Es ist also kulturgeschichtlich ziemlicher Unsinn von einem „normalen“ Patriotismus oder Nationalismus zu sprechen.
Nun will ich Herrn Mattusek nicht unterstellen, er wolle uns einen neuen deutschen, sich anderen Nationen überlegen fühlenden, nach außen aggressiven Patriotismus oder gar Chauvinismus einreden, aber in dem Interview wird ziemlich deutlich, welche Ziele er in die Fußballeuphorie und in die überschwängliche Begeisterung der Fans für ihre Mannschaft hineindeuten möchte:
„Ich glaube, dass es ein Nationenzusammengehörigkeitsgefühl braucht, um gerade durch schwierige Zeiten zu kommen und zu sagen: Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir. Und da ist Patriotismus natürlich sehr tauglich. Und ich glaube, dass da eine gestiegene Bereitschaft ist.“
Patriotismus oder Nationalismus („Nationenzusammengehörigkeitsgefühl“) also als Stimulans für Opferbereitschaft, für Rentenkürzungen, für Hartz IV, für weitere Belastungen bei der Krankenversicherung, für die höhere Mehrwertsteuer, für die Kürzung der Pendlerpauschale oder des Sparerfreibetrags, für Studiengebühren oder den Abbau von Sozialleistungen. „Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir.“
„Wir“? Wer ist wir? Wer sind die Betroffenen, die mit einem Appell an ihr nationales Zusammengehörigkeitsgefühl diese „Einschnitte“ hinnehmen sollen? Ist das etwa die gesamte „Nation“? Zu welchem Einschnitt ist Herr Mattusek bis sich selbst bereit? Soll die Frage, ob es bei diesen Einschnitten gerecht zugeht, durch den nationalen Überschwang zugekleistert werden?
Es ist (historisch) in Deutschland schon oft so gewesen, dass Patriotismus und Nationalismus als Bindemittel gegen eine auseinanderdriftende Gesellschaft und als Motiv für die individuelle Opferbereitschaft (im Regelfall der unteren Schichten) zugunsten einer stilisierten Volksgemeinschaft missbraucht wurde. Das fängt bei der Inszenierung der Kriegsbegeisterung für den Ersten Weltkrieg an und hört bei der Naziparole „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ nicht auf.
Das Wohl der Nation, das nationale Interesse wurde in vielen Kulturen – meist von konservativen „staatstragenden Strömungen – beschworen, wenn es um die Durchsetzung des angeblich „objektiv Notwendigen“, um einen grundlegenden Systemwechsel und um die Vernebelung der Durchsetzung von einzelnen Machtinteressen ging. Nationalismus war schon immer ein emotionales Integrationsmittel, wenn die Integrationskraft des Politischen schwindet und krisenhafte Situationen drohen. Oder kurz: Der Appell ans Nationalgefühl – oder um es mit Matussek zu sagen – an die „atavistische tiefe Ebene“ der „Zugehörigkeit“ war immer (auch) eine Ideologie „tauglich“ für die jeweils Mächtigen das Volk zu manipulieren und von den realen Problemen abzulenken.
Für Mattusek soll nun eben das neue Nationalgefühl dazu dienen, dass die von den schon erfolgten und noch weiter geplanten Einschnitten Betroffenen sagen:
Okay das muss jetzt sein.
Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der mir bei Mattuseks Umdeutung der Fußballbegeisterung höchst gefährlich erscheint, nämlich das Ausnutzen der breiten Sympathie für Jürgen Klinsmann, dem Teamchef der Nationalmannschaft:
„Es ist natürlich hier eine Legendengestalt jetzt, weil alle Ingredienzien eines Helden wieder da zusammenkommen. Er war der Einzelne, er war derjenige, mit Visionen. Er hat sich gegen Widerstände durchgeboxt. Er begann als absoluter Außenseiter und steht jetzt sozusagen als strahlender Held im Zentrum der Zuneigung. Warum? Weil er so was, tatsächlich so was wie eine Vision vorgelegt hat und an diese Idee, die er gehabt hat, geglaubt hat und die umgesetzt hat und damit alle anderen mitgerissen hat.“
Daraus folgert Mattusek:
„Und natürlich kommt die Politik ohne solche Heldenfiguren auch nicht aus.“
Und weiter: „Wir brauchen in der Politik unbedingt so jemanden. Und wenn man jetzt nach Berlin guckt in diesen Tagen und dieses entsetzlich kleinkarierte, technokratische Klein-Klein sieht, wünscht man sich die Lichtgestalt Klinsmann in der Politik umso mehr.“
Vor Mattusek müssen selbst wir, die wir ja nun die Regierungsparteien heftig kritisieren, die Kanzlerin in Schutz nehmen, wenn er ihr vorwirft, dass ihr das „politisch Visionäre“ fehle. Weit gefehlt Herr Mattusek, sowohl Schröder als auch Merkel haben bei ihren Entscheidungen eine ziemlich klare Vision, nämlich ein neoliberales Reformkonzept. Das Problem ist nur, dass diese „Vision“ an der ökonomischen Wirklichkeit vorbeigeht und deshalb Reform um Reform scheitert und aus diesem Grunde die Menschen nicht mitreißen kann.
Eine Heldenfigur „wo ein Einzelner sozusagen zu verkörpern scheint das, was kollektiv vorher gewünscht, geträumt, gedacht wurde“, das ist nichts anderes als die Phantasie vom „starken Mann“ oder vom „guten Tyrannen“, der sich gegen Parteiengezänk oder politisches Taktieren, ja sogar gegen die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger durchsetzt.
Dieses antidemokratische Syndrom ist übrigens typisch deutsch: “Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.” Mit diesem Satz verkündet Kaiser Wilhelm II 1914 dem deutschen Reichstag den Burgfrieden zwischen den Parteien und die Entscheidung für den Beginn des ersten Weltkriegs.
Würde ein solches antidemokratisches und antirepublikanisches Deutungsmuster des Klinsmann-Kultes Schule machen, so wäre es nicht mehr weit bis, wie am Ende der Weimarer Demokratie, das Parlament wieder zur „Schwatzbude“ erklärt würde und man wieder ungestraft Töne anschlagen könnte, dass die Parteien „aus Deutschland hinausgefegt“ (Hitler 1932) gehörten.
Zum Glück würde der allergrößte Teil der Menschen in den Fußballstadien, vor den Übertragungsleinwänden und auf den Straßen über Matusseks Umdeutung ihrer Freude über die WM und über das überraschend gute Abschneiden der nicht gerade hoch eingeschätzten deutschen Nationalmannschaft sich nur kaputt lachen und weiter ihre Sommerparty genießen.
Außerdem ist ziemlicher Verlass darauf, dass – sollte Klinsmann bleiben – beim ersten schlechteren Spiel oder gar der ersten Niederlage der Nationalmannschaft in den Vorbereitungsspielen zur Fußball-Europameisterschaft 2008, das gegenwärtige „Hosianna“ wieder in ein „Kreuzige ihn“ umschlagen dürfte.
So ist das halt beim Fußball – der schönsten Nebensache der Welt.
Und an dieser Erfahrungstatsache ändern auch solche Leute wie Mattusek, die ihr nationales Süppchen auf der derzeitigen Hochstimmung kochen wollen, zum Glück nichts.