Kalenderblatt zum 20. Juli 1932: 80 Jahre “Preußenschlag”
– Machteliten im demokratischen Verfassungsstaat –
Der „Preußenschlag“ war der Schlussstein einer kontinuierlichen Aufkündigung der demokratischen Republik durch die alten Machteliten, die mental noch im monarchischen Regime verwurzelt blieben. Die Bedrängung dieser Republik durch Reparationsschulden, durch inflationsgeschädigte, desorientierte Mittelschichten, durch ideologische Geländegewinne rechtsautoritärer Kräfte und ihrer Presse, durch schwierige Regierungsbildungen, durch hohe Arbeitslosigkeit, durch restauratives Eigenleben von Reichswehr, in Staatsbürokratie und Justiz usw. war ohnehin beträchtlich. Entscheidend für ihren Untergang dürfte jedoch gewesen sein, dass maßgebende Interessengruppen aus Industrie und agrarischem Adel die Reichsregierung für ihre Belange einspannen konnten. Von Wieland Hempel[*]
Mit den Wahlen vom 24. April 1932 hatte die “Weimarer Koalition” (SPD, Zentrum, DDP) im Freistaat Preußen ihre parlamentarische Basis verloren, NSDAP und KPD verfügten über die Mehrheit der Mandate. Die Regierung Otto Braun war, wie auch mehrere andere Landesregierungen in jenen turbulenten Jahren, nur noch geschäftsführend im Amt. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Reich und Preußen blieb in der Schwebe. Die am 1. Juni 1932 vom Reichspräsidenten von Hindenburg ernannte Regierung mit dem erzkonservativen Zentrumspolitiker Franz von Papen und der „feldgrauen Eminenz“ Kurt von Schleicher suchte sogleich und vergeblich nach rechtlich tragfähigen Möglichkeiten, die Polizei und die republikanisch geprägte Politik des größten deutschen Landes Preußen unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine Eskalation des Straßenterrors schien ihr eine Chance zu bieten. Auch um die NSDAP für eine Tolerierung ihres Minderheitskabinetts zu gewinnen, hob sie das zuvor von Preußen durchgesetzte Verbot der SA auf und machte Preußen insbesondere für den alsbald folgenden “Altonaer Blutsonntag” verantwortlich.
Im Juli bereitete von Papen eine “Notverordnung” des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs.1 und 2 der Reichsverfassung “zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Preußen” vor. Von ihr machte er am 20. Juli 1932 in Kenntnis der Verfassungswidrigkeit seines Vorgehens Gebrauch. Er setzte sich zum Reichskommissar für Preußen ein, entließ den Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) und sein Kabinett, verhängte den Ausnahmezustand, ließ das Preußische Staatsministerium militärisch besetzen und übertrug die Staatsgeschäfte zunächst dem Essener Oberbürgermeister Franz Bracht als Reichskommissar. Republiktreue Beamte wurden durch Sympathisanten eines autoritären Staatsverständnisses ersetzt. Der gleichermaßen gegen NSDAP und KPD gerichtete ”Radikalenerlass” des Preußischen Staatsministeriums vom Juni 1930 wurde hinsichtlich der NSDAP aufgehoben.
Größeren Widerstand gab es nicht. Der Parteivorstand der SPD hatte in Erwartung dieser Entwicklung schon wenige Tage zuvor, am 16. Juli beschlossen, denkbare Machtmittel, wie die preußische Polizei, den Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold oder einen Aufruf der Gewerkschaften zum Generalstreik nicht einzusetzen – sei es zur Vermeidung eines Bürgerkriegs, sei es, um der Reichsregierung keinen Vorwand zur Errichtung einer Militärdiktatur zu liefern, sei es in realistischer Einsicht in die Desillusionierung und geschwundene Kraft der noch republiktreuen Teile des Bevölkerung. Im Oktober 1932 befand der Staatsgerichtshof beim Reichsgericht, dass das abgesetzte preußische Staatsministerium zwar seine Pflichten gegenüber dem Reich nicht verletzt habe, dass aber die “Reichsexekution”, also die Unterstellung der formal fortbestehenden Ministerien unter die Reichskommissare, gleichwohl gerechtfertigt sei.
Warum nach 80 Jahren an den Staatsstreich des “Kabinetts der Barone” erinnern?
Die Lebensleistung Otto Brauns zu würdigen, könnte ein Grund sein. Franz Walter hat in seinem Text zur 75. Wiederkehr des 20. Juli 1932 (Spiegel online vom 19.7.2007) auf die Tragik des Scheiterns dieses bedeutenden Demokraten hingewiesen. Vor allem aber sah er in dem Preußenschlag “ein Lehrstück für die antidemokratische Skrupellosigkeit der Konservativen jener Jahre und für die Hilflosigkeit und Ermattung der stets nur rhetorisch kraftvoll auftretenden Sozialdemokratie und für die Erosion und den Zerfall der republikanischen Mitte – schon Monate vor der Etablierung des NS-Regimes.” Diese “Skrupellosigkeit” verdient es – vielleicht mit mehr Veranlassung als vor fünf Jahren – wenigstens in einigen Facetten erinnert zu werden.
Preußenschlag, der Schlussstein der Aufkündigung der Demokratie
Der „Preußenschlag“ war der Schlussstein einer kontinuierlichen Aufkündigung der demokratischen Republik durch die alten Machteliten, die mental noch im monarchischen Regime verwurzelt blieben. Die Bedrängung dieser Republik durch Reparationsschulden, durch inflationsgeschädigte, desorientierte Mittelschichten, durch ideologische Geländegewinne rechtsautoritärer Kräfte und ihrer Presse, durch schwierige Regierungsbildungen, durch hohe Arbeitslosigkeit, durch restauratives Eigenleben von Reichswehr, in Staatsbürokratie und Justiz usw. war ohnehin beträchtlich. Entscheidend für ihren Untergang dürfte jedoch gewesen sein, dass maßgebende Interessengruppen aus Industrie und agrarischem Adel die Reichsregierung für ihre Belange einspannen konnten.
Zumal nach den für SPD und KPD erfolgreichen Reichstagswahlen vom Mai 1928 befürchteten sie, dass linke Mehrheiten mit den sozialstaatlichen und wirtschaftsdemokratischen Vorgaben der Reichsverfassung (Art. 151 ff.) ernst machen könnten. Auch galt es zu verhindern, dass die Geldelite an den Kosten der Weltwirtschaftskrise beteiligt würden, die wesentlich durch unregulierte Banken ausgelöst worden war. Im März 1930 veranlassten sie den Sturz des sozialdemokratischen Reichskanzlers Müller und setzten mit Hilfe des Reichspräsidenten von Hindenburg und seiner Notstandsbefugnisse die Regierung Brüning ein. Ihr war eine konsequente Sparpolitik zu Lasten der breiten Schichten aufgetragen. Als Brüning, zum Teil toleriert von der SPD, es in Fragen weiterer Lohnsenkungen und bei der Gestaltung von Preisen des elementaren Lebensbedarfs an Konsequenz fehlen ließ, wurde auch er gestürzt. Die nachfolgende Regierung von Papen/von Schleicher war bereits eingebunden in Bestrebungen führender Industrieller und Bankiers, Hitler an der Regierung zu beteiligen.
Stichworte, die nach 80 Jahren wieder aktuell sind
Soviel zur “Skrupellosigkeit” der damaligen Machteliten. Im Vergleich mit “Weimar” scheint das politische, insbesondere staatliche Umfeld der heutigen Machteliten unterschiedlicher nicht sein zu können, nämlich geordnet, stabil und deshalb zur eigenständigen Gestaltung einer verfassungskonformen Politik grundsätzlich in der Lage: Der Gesetzgeber entscheidet in existenziellen Fragen mit breitester Mehrheit, Regierungen und Gerichte sehen sich an die Verfassung gebunden, die Bevölkerung akzeptiert, wenn auch mit sinkender Begeisterung, die politischen Institutionen und erfreut sich mehrheitlich eines beachtlichen Wohlstandes. Überdies stehen den heutigen Staaten wirtschaftswissenschaftliche Expertisen und schmerzhafte geschichtliche Erfahrungen zur Verfügung, um Fehler der 20er Jahre eigentlich vermeiden zu können.
Und doch: Mussten beim Erinnern an den „Preußenschlag“ und seines Umfeldes nicht einige Stichworte fallen, die auch heute aktuell sind? Wie steht es um die Bereitschaft der Unternehmen und ihrer Fürsprecher, faire Arbeitsbedingen zu gewährleisten oder Steuerlasten zu tragen, ohne die ein gleichermaßen freiheitliches wie sozial gerechtes Zusammenleben in Gegenwart und Zukunft nicht finanziert werden kann? Wie kommt es, dass eine international agierende Machtelite in der Lage ist, die Kosten der von ihr verursachten Banken- und Finanzkrise den (kleinen und mittleren) Steuerzahlern in den europäischen Ländern aufzubürden? Wo sind die gegenüber der Macht des „Großen Geldes“ selbständig auftretenden Regierungen, die solches Ansinnen zurückweisen und geltend machen, dass zur Freiheit des Marktes die Haftung für Risiken und Verluste gehört? Oder dass zum Ausgleich eines defizitären Staatshaushalts Steuersenkungen und privilegierende Subventionen zurückgenommen werden müssen? Stattdessen wird die Finanzindustrie mit der Verschleppung durchgreifender Regulierungen und durch stetig verschärfte Austerity-Politik ermutigt, weiter zu machen.
An die Stelle der institutionellen Schwäche der Weimarer Republik ist die ideologische Aushöhlung des Staates getreten, eines Staates, dessen verfassungsrechtliches Fundament die Gemeinwohlorientierung einer sozialen Demokratie ist. Seit 30 Jahren folgt die deutsche Politik – eine internationale Machtverschiebung und einen ökonomischen Leitbildwechsel aufgreifend und sie verstärkend – der antistaatlichen neoliberalen Ideologie. Sie reduziert die Republik auf einen international “wettbewerbsfähigen” Standort zur Optimierung von Kapitalrenditen. “Starve the beast” („Hungert den Staat aus“) war und ist der Schlachtruf des Thatcherismus und der Reagonomics, “Markt statt Staat” war und ist die deutsche Übersetzung. Die Handlungsschwäche des Staates wurde systematisch herbeigeführt und durch intransparenten Lobbyismus und zunehmende politische Korruption verstärkt. Politik dient nurmehr der Rechtfertigung für die Unterwerfung der Politik unter “die Märkte”.
(Zur schleichenden Revolution durch neoliberale Reformen siehe schon nachdenkseiten.de vom 14.1.2008, „Die Vision des Neoliberalismus widerspricht entscheidenden Anforderungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes“).
Den Machteliten ist es gelungen, sich selbst unter dem Tarnwort “die Märkte” als fünfte Gewalt in der Politik hoffähig zu machen und den Regierenden die Notwendigkeit einer “marktkonformen Demokratie” aufzudrängen. Folgerichtig werden etwa Exponenten der internationalen Finanzindustrie in Spitzenpositionen – beratend und entscheidend – eingesetzt. Über europäische Verträge wird europaweit eine Austeritätspolitik durchgesetzt, aus der es auch verfassungsrechtlich kein Entrinnen mehr geben soll. Welchen Schutz erfahren Sozialstaat und demokratische Institutionen durch mitregierende Oppositionsparteien, die nur die Kraft der Rhetorik aufbringen (“eine Spur der Verwüstung” hinterlasse die Regierungspolitik), aber offenbar im Bewusstsein ihrer früheren Mittäterschaft den Konflikt um demokratische und soziale Alternativen scheuen? (hierzu z.B. Flassbeck, nachdenkseiten vom 6.2.12 m.w.Nachw.)
Aus der Geschichte lernen könne man nicht, denn Geschichte wiederhole sich nicht, sagt man. Sollte Geschichte sich anders besinnen, dann wiederholt sie sich gewiss nicht als Farce.
[«*] Wieland Hempel, Senatsrat a.D., ist Jurist und ehemaliger Ministerialbeamter im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und in der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung. Er ist Autor mehrerer Bücher und zahlreicher Aufsätze zur Wissenschaftspolitik und zum Verfassungsrecht.