Die Mär von der Besonderheit des Ostens

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SPD und Union kommen ihrer Aufgabe als Volksparteien nur unzureichend nach / Von Dieter Oberndörfer, Gerd Mielke und Ulrich Eith / Frankfurter Rundschau 09/2004

Die jüngsten Landtagswahlen fügen sich nach Ansicht der “Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg” in ein seit Jahren vertrautes Muster ein: Große Teile der Wählerschaft werden durch die Volksparteien nicht mehr vertreten. Die Agenda-2010-Reformen stünden im Gegensatz zu einem stabilen Konsens der Bevölkerung über den Sozialstaat.

Die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg vom vergangenen Sonntag haben der Frage, ob in Ostdeutschland die politischen Uhren anders ticken als im Westen, neue Aktualität verliehen. Die massiven Verluste von SPD und CDU in ihren langjährigen Hochburgen, die unverändert starke Stellung der PDS in beiden Ländern, ein auch diesmal ausgeprägter Hand zur Wahlenthaltung und vor allem der Einzug der rechtsextremen DVU und NPD in die Landesparlamente, all diese Komponenten der Wahlergebnisse gelten als Belege für eine ostdeutsche Wahlkultur, die durch weitgehend bindungslose Wähler mit einem unberechenbaren Hang zum politischen Verdruss und Protest gekennzeichnet ist.

Diese These vom ostdeutschen Sonderfall des Wählerverhaltens übersieht wesentliche Aspekte und Bestimmungsgründe des Wahlausgangs, die die Wahlen vom Sonntag in eine für die Bundesrepublik insgesamt durchgängige politische Entwicklung einordnen. Ihre Mechanik hat seit 1998 das Wahlverhalten in Ost und West gleichermaßen bestimmt. Sie hat sich im Zusammenwirken zwischen den Einstellungen und dem Verhalten der Wähler einerseits und dem Handeln der politischen Akteure in den Parteien und Regierungen andrerseits herausgebildet.

I.

Im Zentrum der Entwicklung des Wählerverhaltens steht die seit den 1990er Jahren in allen westlichen Industriestaaten aufs Neue gewachsene Bedeutung der sozialen Frage. Mit dem Konflikt um die zukünftige Rolle des Wohlfahrtsstaates und das erreichbare und sinnvolle Maß an sozialer Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung hat sie auch in der deutschen Wählerschaft zu einer tief gehenden Kluft geführt. Die Wahlergebnisse vom Sonntag sind in ihren Ursachen, aber auch im Blick auf ihre politische Ausstrahlung vor der Folie dieses grundlegenden Konflikts zu interpretieren.

Die Bedeutung der sozialen Frage für die deutschen Wähler und Parteien ist in einer Reihe von Wahlstudien seit der Bundestagswahl 1998 nachgewiesen worden. Danach geht der triumphale Wahlsieg der SPD mit ihrer Doppelspitze Schröder und Lafontaine nicht in erster Linie auf den Überdruss an Helmut Kohl, sondern vor allem auf den Wunsch nach einer zeitgemäßen Neubelebung wohlfahrtsstaatlicher Aktivitäten in einer Zeit zunehmender Risiken und Bedrohungen zurück. Diese Hoffnungen und Erwartungen sind mit tiefverwurzelten wohlfahrtsstaatlichen Normen und Orientierungen der Deutschen verbunden, die erwartungsgemäß im Osten Deutschlands stärker und verbreiterter sind als im Westen.

Diese Normen sind keineswegs auf die untere Hälfte der sozialen Pyramide beschränkt; auch beträchtliche Teile der Mittelschichten haben sie übernommen. Vor allem aber haben sich diese Sozialstaats- und Gerechtigkeitsvorstellungen als überaus stabil erwiesen. Sie stehen als stiller Konsens der Bevölkerung in einem beinahe grotesken Gegensatz zum öffentlichen Diskurs. Dieser wird von der vermeintlichen Notwendigkeit beherrscht, es gelte den Sozialstaat zu reduzieren und soziale Ungleichheit als Anreiz zu größerer wirtschaftlicher Dynamik zu akzeptieren.

Konnte die neue soziale Frage bei der Bundestagswahl 1998 noch ihre Schubkraft für die SPD vor allem auch in Ostdeutschland entfalten und maßgeblich zu der schweren Niederlage der Union beitragen, so kam es schon im ersten Regierungsjahr von Rot-Grün zu einer Entkoppelung zwischen den Sozialstaatserwartungen vor allem der sozialdemokratischen Stammwähler und dem politischen Angebot der SPD. Die unvermittelte Annäherung Bundeskanzler Schröders an die Politik des “Dritten Wegs” mit dem Schröder-Blair-Papier vom Sommer 1999, vor allem aber die ohne jede vorbereitende Diskussion präsentierte Agenda 2010 vom März 2003 wurden von weiten Teilen der SPD-Wähler als Kulturbruch mit den Traditionen empfunden, die als “Markenkern” der Sozialdemokratie galten und eine ansonsten durchaus heterogene Wählerschaft zusammenhielten.

Daher tritt seit 1999 und nochmals verstärkt seit 2003 bei nahezu allen Wahlen ein gleichförmiges Muster an Wählerbewegungen hervor. Die SPD verliert überdurchschnittlich in ihren Traditionsrevieren und bei ihren Anhängern in der Arbeiterschaft und in den unteren Mittelschichten; zugleich kommt es zu einer deutlich angestiegenen Wahlenthaltung in eben diesen Bereichen. Diese Veränderungen werden von einer dramatisch abgesackten Kompetenzzuschreibung für die SPD in Sachen “Gerechtigkeit” begleitet. Auch der Wechsel im Parteivorsitz zu Beginn dieses Jahres zu Franz Müntefering hat an diesem Muster nichts verändert. Die Union kann ihrerseits seit 1998 keinen nennenswerten Zustrom an Wählern verzeichnen; sie hält jedoch ihre Position in den Wählerschichten, die sich nicht vorrangig an wohlfahrtsstaatlicher Sicherung orientieren, relativ stabil. So steigt wegen des starken Rückgangs der SPD an absoluten Wählerstimmen in der Regel ihr relativer Stimmenanteil. Dies hat ihr serienweise Siege bei Landtags-, Kommunal- und Europawahlen beschert.

Die FDP und die Grünen sind beide als Parteien der gebildeten und wohlhabenden Mittelschichten von den Auswirkungen des Konflikts um die Zukunft des Wohlfahrtsstaates kaum betroffen; ihre Anhänger werden von dem geplanten Rückbau des Sozialstaates nicht schwerwiegend beeinträchtigt. Bei einer insgesamt zu Lasten der SPD sinkenden Wahlbeteiligung können auch sie ihre Stellung am Wählermarkt festigen.

Dieses Grundmuster der Wählerentwicklung wurde seit 1999 nur durch zwei Ausnahmesituationen unterbrochen. Zum einen führte der Spendenskandal um Helmut Kohl im Jahr 2000 zu schweren Mobilisierungsproblemen bei den Unionsanhänger und verhinderte die bereits fest prognostizierten CDU-Siege bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Zum anderen steigerten die dramatischen Umstände – die Hochwasserkatastrophe im Osten und die inszenierte Kriegsgefahr im Irak – im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 noch einmal die Unterstützung für die SPD, vor allem in Ostdeutschland. Dort sah man in dem entschlossenen Handeln des Bundeskanzlers während der Flutkatastrophe eine Rückbesinnung auf eine kraftvolle staatliche Interventionspolitik und eine Geste solidarischer Hinwendung, eine Einschätzung, die der Bundesregierung zu einer kaum noch für möglich gehaltenen Mehrheit verhalf.

Die Wahlergebnisse von Sachsen und Brandenburg fügen sich nun durchaus schlüssig in das vertraute Muster ein, allerdings angereichert um einige Besonderheiten, die mit den landespolitischen Konstellationen und der spezifisch ostdeutschen Wählerlandschaft zusammenhängen.

Wie in den Wahlen zuvor mussten die Sozialdemokraten vor allem in Brandenburg, wo sie über lange Jahre die beherrschende politische Kraft waren, schwere Einbußen im Arbeiter- und Unterschichtenbereich hinnehmen. Die Debatten um Hartz IV im Laufe des Sommers hatten vor allem in diesen Schichten als zündender Funke in einem seit langem schwelenden Unbehagen gewirkt. Entsprechend ging der Stimmenanteil der SPD in Brandenburg in den letzten zehn Jahren um 22.2 Prozentpunkte zurück. Mit einem Anteil von noch gerade 17.7 Prozent an der Gesamtheit der Wahlberechtigten hat die SPD in ihrem Anspruch als Landespartei einen herben Rückschlag erlitten.

In Sachsen ist der Status der SPD als Splitterpartei nachhaltig bekräftigt worden; sie hat jedoch in dieser an und für sich trostlosen Lage das unverhoffte Gottesgeschenk einer möglichen Regierungsbeteiligung erhalten, die ihr die Chance zu einem Ausbruch aus der Diasporasituation eröffnet.

Auch bei den Ergebnissen der CDU zeichnet sich die Wirkung der neuen sozialen Frage ab. Zunächst ist die Wählerschaft der CDU im Osten deutlicher vom kleinbürgerlichen und Arbeitermilieu geprägt als im Westen. Diese strukturelle Eigentümlichkeit schafft Distanz und Skepsis gegenüber neoliberalen Modernisierungsszenarien, wie sie von der CDU auf Bundesebene favorisiert werden und auch in der Mitwirkung bei Hartz IV zum Ausdruck kommen. So erschien die CDU unversehens einem Teil ihrer Anhänger als Komplizin der heftig kritisierten Bundesregierung, vor allem angesichts der unverminderten Beschäftigungskrise in Ostdeutschland.

Beide großen Parteien haben mithin in ihren ostdeutschen Hochburgen ähnliche Entfremdungs- und Frustrationsprozesse in Teilen ihrer Wählerschaft ausgelöst. Standen die CDU und die SPD auf einem hohen Stimmensockel, so führte dies zu starken Verlusten auf beiden Seiten; war eine Partei – die SPD in Sachsen – bereits ausgemergelt, so hielten sie sich in Grenzen.

In beiden Ländern, wie schon zuvor in Thüringen, traten die Regierungsparteien im Übrigen erstmals ohne ihre charismatischen Ministerpräsidenten Stolpe, Biedenkopf und Vogel an, die als “Gründerväter” das erste Jahrzehnt nach der Vereinigung geprägt und über alle lebensweltlichen Brüche hinweg politische Kontinuität verkörpert hatten. Ungeachtet der respektablen Persönlichkeitswerte, die vor allem für Ministerpräsident Platzeck gemessen wurden, haben diese Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten zweifellos zusätzlich die im Osten ohnehin schwächeren Bindungen an die jeweiligen Parteien gelockert.

Der deutlichste “Ostfaktor” bei den Wahlen vom vergangenen Sonntag kam in der auch diesmal starken Rolle der PDS als oppositionellem Gegenpol zu der beherrschenden Landespartei zum Ausdruck. Obschon sich die PDS mit großem Einsatz als Repräsentantin des “Ost-Gefühls” und als Gerechtigkeits- und Sozialstaatspartei zu profilieren bemühte, blieben die Zugewinne hinter den Erwartungen zurück und verweisen auf eine durchwachsene Bilanz. Einerseits ist der Erosionsprozess der PDS, der vor allem bei der letzten Bundestagswahl bereits bedrohliche Formen angenommen hatte, zum Stillstand gekommen; andrerseits ist ein Vorstoß in neue Wählerschichten trotz der krisenhaften Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage nicht gelungen.

Der Einzug der rechtsextremen Parteien in beide Landtage hat auch international besorgte Mutmaßungen über einen Aufschwung des Rechtsextremismus hervorgerufen. Aus wahlsoziologischer Sicht erscheinen die Erfolge von DVU und NPD in erster Linie als Symptome einer wachsenden politischen Entfremdung und Marginalisierung erheblicher Wählerschichten. Dabei liegen der im Osten weit verbreitete Rückzug in Wahlenthaltung und die Stimmabgabe für die Rechtsextremen dicht beieinander. Beides resultiert oftmals aus der Abkehr von den großen Parteien hervor und verweist auf besondere Anfälligkeiten für politische Heimatlosigkeit und soziale Anomie.

Dieser eher diffuse Trend zur Entfremdung vom öffentlichen Geschehen schließt gleichwohl die Entstehung einzelner regionaler Subkulturen des Rechtsextremismus wie in Teilen der Sächsischen Schweiz ein, eine Entwicklung, die übrigens auch in einer Reihe anderer Regionen, etwa in Württemberg oder in der Pfalz, zu beobachten ist.

Mithin ist die Freisetzung eines erheblichen Teils der Wähler in Sachsen und Brandenburg das hervorstechende Merkmal der beiden Landtagswahlen. Ganz offensichtlich zeichnet sich hier eine Repräsentationslücke ab: Weite Bereiche der Wählerschaft werden von den aus Westdeutschland importierten Parteien nicht mehr integriert und vertreten; selbst sogenannte Große Koalitionen aus SPD und CDU binden nur noch ein knappes Viertel der Wählerschaft. Mit dieser Freisetzung verbunden ist zugleich ein deutlicher Rückzug der Bonner Parteien aus der politischen Frontstellung, die sich aus dem großen Konflikt um die soziale Frage ergibt. Mit dem Schwenk der SPD zur Agenda-Politik wird eine gesellschaftspolitische Grundposition aufgegeben, die auf der Erwartungs- und Normebene jedoch nach wie vor von einer Mehrheit in der Bevölkerung getragen wird. Dieser Schwenk ist jedoch keine ostdeutsche Besonderheit. Es zeigt seine Wirkungen seit Jahren bei allen Wahlen in der Bundesrepublik.

II.

Wahlen sind keine unabwendbaren Naturereignisse. Wie konnte es zu dieser Entfremdung zwischen der sozialdemokratischen Partei- und Regierungsspitze und ihren traditionellen Stammwählern in den unteren Mittelschichten kommen? Ein besseres Verständnis der Ursachen sollte bei einer Betrachtung der aktuellen Rahmenbedingungen für politisches Handeln in Deutschland ansetzen. Drei Gesichtspunkte kommen hierbei in den Blick.

Im historischen Vergleich ist zunächst festzuhalten, dass die derzeitigen, erbitterten Debatten über die Reformen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme im Vergleich zur britischen oder auch nordeuropäischen Situation mit einer zeitlichen Verzögerung von über einem Jahrzehnt erfolgen. Die in weiten Teilen Europas und der westlichen Welt im Verlauf der 1980er Jahre zu beobachtende neoliberale Wende fand in Deutschland unter der christdemokratischen Kanzlerschaft Helmut Kohls keine Entsprechung. Mit dem Fall der Mauer hat sich die Regierungspolitik sogar in die wirtschaftspolitisch gegenläufige Richtung bewegt. Massive Transferleistungen sollten die deutsche Einheit bewerkstelligen, eine erhöhte Staatsquote und eine zunehmende Neuverschuldung wurden hierfür in Kauf genommen. So wurde die Bundestagwahl 1998 von Gerhard Schröder in einer Situation gewonnen, in der weder die deutsche Öffentlichkeit noch die SPD auf einen Reformprozess adäquat eingestimmt waren.

Ein zweiter Gesichtspunkt bezieht sich auf die Grundanforderungen modernen demokratischen Regierens. Regieren erfolgt in Deutschland im Wesentlichen im Kontext dreier, potentiell gegenläufiger Rationalitäten. Die Verhandlungsdemokratie zwingt die Regierung zur stetigen Suche nach Kompromissmöglichkeiten mit Koalitionspartnern, Bundesratsmehrheiten oder wirkungsmächtigen Verbänden. Die Mediendemokratie hingegen verpflichtet sie zum tagesaktuellen Reagieren auf demoskopische Befunde und die Themensetzungen der Massenmedien und führt zum fast aussichtslosen Versuch, dauerhaft auf der Woge medialer Zustimmung zu surfen. In der Parteiendemokratie wiederum sieht sich die Parteiführung nach einer gewonnenen Wahl mit der Erwartung ihrer Anhänger konfrontiert, die eigenen, identitätsstiftenden Forderungen möglichst unverfälscht in Regierungshandeln umzusetzen.

Vor allem in der ersten Legislaturperiode beschränkte sich die Regierungstechnik von Gerhard Schröder ganz im Sinne der Verhandlungsdemokratie weitgehend auf das Moderieren gesellschaftlicher und politischer Diskussionen. Das Austarieren widersprüchlicher Interessen wurde zur Staatskunst stilisiert. Hinzu kam eine zielgerichtete Medienpräsenz, die dem Bundeskanzler eine breite Zustimmung als Machtbasis sicherte. Allem Anschein nach hatte die genaue Beobachtung und Analyse der angelsächsischen Wahlkämpfe Schröder und seine Parteistrategen zu der durchaus fragwürdigen Überzeugung gebracht, dass Parteiorganisationen als Mobilisierungs- und Machtsicherungsinstrumente in modernen Demokratien zunehmend an Bedeutung verlieren. Wahlerfolge sind nach dieser Einschätzung vor allem in der Mitte und ohne größere Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten und Erwartungen traditioneller Stammwähler möglich.

Machtstrategisch brachte diese Strategie der Einbindung von Opposition und Verbänden durch Konsensrunden und Kommissionen zunächst Vorteile. Zudem sicherte sich der Bundeskanzler auf diese Weise über Jahre hinweg die mediale Unterstützung für einen Kurs, der sich im gewissen Widerspruch zu den politischen Interessen sozialdemokratischer Parteimitglieder und Stammwähler bewegte. Und nicht zuletzt konnte Schröder zur Rechtfertigung seiner urplötzlich im Frühjahr 2003 aus dem Hut gezauberten Agenda 2010 auf das Scheitern des Bündnisses für Arbeit und des damit verbundenen Endes seiner Moderatorenrolle verweisen. Es war vor allem die Ineffizienz des neokorporatistischen Verhandlungsarrangements, das dem Bundeskanzler letztlich politische Führung abverlangte.

Dies führte jedoch zu folgenschweren Veränderungen des politischen Wettbewerbs. Zum einen entstand durch die neue Nähe der beiden Volksparteien in zentralen Fragen wirtschaftlicher Reformen ein beachtliches Repräsentationsdefizit. Der Reformkurs erscheint als fast naturgesetzlich begründet, zumal wenn politische Entscheidungen durch betriebswirtschaftliches Kosten-Nutzen-Denken ersetzt werden und Kommissionen statt Parlamente die Ziele der Reformpolitik und damit auch die politisch zentrale Unterscheidung von Gewinnern und Verlieren bestimmen. Zum anderen führte die Geringschätzung der parteienstaatlichen Anforderungen des Regierens zu nachhaltigen Frustrationen bei der Anhängerschaft. Nun mag dem Umbau traditioneller, starrer Parteistrukturen zu flexiblen, weniger formalisierten Netzwerken möglicherweise die Zukunft gehören. In den letzten Jahren haben entsprechende Bemühungen jedoch vor allem zur Diskreditierung und schrittweisen Delegitimierung der Parteigremien geführt. Wahlen lassen sich so kaum gewinnen. Bei aller Bedeutung kurzfristiger Medienstrategien, als Voraussetzung eines Wahlerfolgs gelten noch immer die Gesetze der Parteiendemokratie: Stammwähler mobilisieren, Wechselwähler überzeugen.

Ein dritter Gesichtspunkt des Regierens bestärkt die parteienstaatliche Perspektive. Die Befunde der Wahlforschung belegen, dass zwei Drittel der Westdeutschen und 60 Prozent der Ostdeutschen eine mobilisierbare Parteibindung besitzen. Die Volksparteien haben somit alle Chancen, sich auch mittelfristig auf eine stabile gesellschaftliche Verankerung zu stützen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sie ihrerseits diese Bindungen durch eine entsprechende Ausrichtung ihrer Politik auf die Lebenswirklichkeiten ihrer Anhänger verstärken. Es war bezeichnend für die derzeitige Distanz zwischen Teilen des politischen Establishments und den Wählerinnen und Wählern, in welch unverständlicher, geradezu provozierender Weise die desaströsen Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg von den Generalsekretären von CDU und SPD als Stabilisierung oder gar Sieg umgedeutet wurden.

Für die SPD bedeutet die Pflege der Parteibindungen, die identitätsstiftende Klammer der sozialen Gerechtigkeit als zentrales Leitmotiv ihrer Politikgestaltung dauerhaft ins Zentrum zu stellen. Aber auch die CDU steht vor diesem Problem. Für viele Wähler blieb die Unterscheidung zwischen hinzunehmender Ungleichheit und zu vermeidender Ungerechtigkeit in den Reformkonzepten beider Parteien bislang unklar. Reformen sind aber vor allem dann zumutbar, wenn hierbei eine faire und gerechte Lastenverteilung sichtbar wird.

Mittelfristig stehen die beiden Volksparteien vor der schwierigen Aufgabe, die den unteren Mittelschichten zuzurechnenden Teile ihrer Stammwähler wieder zurück zu gewinnen. Dies wird beiden Parteien aller Voraussicht nach nur gelingen, wenn der in Angriff genommene Reformprozess mit symbolischen Elementen angereichert wird, die eine faire und sozialgerechte Lastenverteilung plausibel begründen können. Die Landtagswahlen vom vergangenen Sonntag signalisieren weder eine gravierende Sonderentwicklung Ostdeutschlands noch eine beginnende politische Instabilität der Bundesrepublik und das Heraufziehen Weimarer Verhältnisse. Dies kann sich aber längerfristig durchaus ändern, wenn die SPD und die Union ihren Aufgaben als Volksparteien weiterhin nur unzureichend nachkommen.

Die Autoren Prof. em. Dieter Oberndörfer, Jahrgang 1929, lehrte als Politik- wissenschaftler an der Universität Freiburg, Forsch-ungsschwerpunkte: Demographie, Wahlverhalten, Entwicklungsländerforschung. Die 1980 von Prof. Oberndörfer gegründete “Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg” analysiert unter anderem seit mehr als zehn Jahren regelmäßig für die “Frankfurter Rundschau” Bundes- und Landtagswahlen. Ein Überblick über die Forschungsaktivitäten findet sich unter www.politik.uni-freiburg.de/forschung/awf/awf.php

Dr. Gerd Mielke, geboren 1947, ist Dozent am Institut für Politik- wissenschaft der Universität Mainz. Er war zuvor Leiter der Grundsatzabteilung in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz. Forschungsschwerpunkte: politische Soziologie.

Dr. Ulrich Eith, geboren 1960, ist Lehrstuhlvertreter am Seminar für Wiss. Politik der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Wahl-und Parteienforschung, politischer Systemvergleich. rgg

© Frankfurter Rundschau online 2004

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