Selbstmord als die dauerhafte Lösung hausgemachter Probleme
Wenn man Politik in ein Bild fassen will, wird die Wirklichkeit immer überzeichnet, doch wenn ich diesen Versuch machen müsste, so fiele mir für den politischen Kurs von Angela Merkel und der Bundesregierung gegenüber den europäischen Nachbarländern folgendes Bild ein:
Angela Merkel ist aus der Beletage im obersten Stockwerk eines lichterloh brennenden europäischen Hauses gesprungen und ruft im freien Fall allen Bewohnern der unteren Stockwerke zu: Springt mir nach, sonst verbrennt ihr elendlich, wie ihr seht geht es mir bis jetzt im Vergleich zu euch gut. Statt den Brand zu bekämpfen und die Brandstifter in Haftung zu nehmen, wählt unsere Kanzlerin den Sprung in den Abgrund, gerade so, als ob ein Selbstmord eine dauerhafte Lösung der hausgemachten Probleme wäre. Von Wolfgang Lieb.
Merkel ruft im Fall den darunter wohnenden Nachbarn zu, macht es wie ich: Senkt die Löhne und die Renten, führt die Rente mit 67 ein, flexibilisiert den Arbeitsmarkt zwingt die Arbeitslose in Niedriglöhne, Zeit- und Leiharbeit, versilbert euren Besitz und vor allem spart ohne Rücksicht auf Verluste. Sie will den Nachbarn im europäischen Haus weismachen, dass der freie Fall im Vergleich zum Verbrennungstot die relativ erträglichere Lösung sei. Merkel will die anderen Bewohner des europäischen Hauses geradezu zwingen, in den Abgrund nachzuspringen, indem sie sich damit brüstet, dass es doch dank der Agenda-Politik Deutschland (noch) vergleichsweise gut gehe. Ihre Devise entspricht einer Schweizer Redensart: Wenn ein Bankier aus dem Fenster springt, dann lohnt es sich hinterher zu springen. Im Fallen sind sicherlich noch 3,5% zu verdienen!
Die Kanzlerin ruft den Nachbarn zu: Wir in der Beletage haben zwar mehr Schulden als ihr Spanier, aber wir zahlen weniger Zinsen! Wir haben laut unserer Statistik weniger Arbeitslose! Wir haben ein besseres Wachstum als alle ihr unter uns Wohnenden! Wir haben unsere Leute ohne Arbeit mit massivem Druck dazu gezwungen jede Arbeit anzunehmen, egal unter welchen Bedingungen und egal ob sie von ihrer Arbeit leben können oder nicht! Wir sparen bei unseren Sozialleistungen indem wir die Renten abgebaut haben und die Leute zwingen für ihr Alter selbst vorzusorgen, wenn sie nicht verarmen wollen! Wir lassen die Arbeitnehmer bis ins hohe Alter von 67 Jahren arbeiten, sollen sie doch selbst sehen, ob sie das schaffen! Wir lassen die Daseinsvorsorge schon längst durch Private erledigen! Wir haben schon die Schuldenbremse, also müsst ihr es uns nur nachmachen! “Deutschland ist die am meisten bewunderte Nation in der EU und ihre Führer werden am meisten respektiert”, sagt doch auch gerade wieder das Pew Research Center.
Verlasst Euch drauf: Die Schuldenbremse wird den freien Fall schon irgendwie bremsen.
Vergleichen wir dieses grotesk anmutenden Bild mit der Wirklichkeit:
Deutschland hatte im ersten Quartal 2012 eine Wachstumsrate des Bruttoinlandproduktes gegenüber über dem gleichen Quartal im Vorjahr von 1,2 %. Sieht man einmal von den Baltischen und den osteuropäischen Staaten ab (die in einer Nach- und Aufholphase sind), dann steht Deutschland gegenüber Frankreich (0,3%), Niederlande (-1,3%), Belgien (0,5%), Österreich (0,7%) oder gegenüber dem Vereinigten Königreich (0,0%), gar nicht zu reden gegenüber Griechenland (-6,2%), Portugal (-2,2%), Italien (-1,3%) oder Spanien (-0,4%) vergleichsweise gut da.
Aber sind 1,2% verglichen mit früheren Wachstumsraten von 5, 7 oder gar über 8 Prozent.
Geht es „den“ Deutschen etwa deshalb gut, weil die deutsche Wirtschaft immer exportlastiger wurde und sich der Anteil der Exporte am BIP von 1999 auf Ende 2011 von 30,4% auf 50,6% erhöht hat?
Das nominale BIP ist in diesem Zeitraum im Durchschnitt jährlich um 2,1 Prozent gestiegen, die Exporte dagegen mehr als dreimal rascher (6,5%).
Quelle: Zeit Online Herdentrieb
Dass es trotz der Exporterfolge den Deutschen in den letzten 10 Jahren nicht wesentliche besser gegangen ist, wird dadurch belegt, dass die privaten Konsumausgaben nur ganz wenig gewachsen sind.
Quelle: Handelsdaten
Von 1991 (Index = 85,38) bis 2001 (Index = 99,77) stiegen die privaten Konsumausgaben preisbereinigt durchschnittlich um 1,7%, in den letzten 10 Jahren von 2001 bis 2011 (Index = 103,69) nur noch von 0,4% pro Jahr. Das ist äußerst wenig und was noch bedenklicher ist , sie gingen in der letzten Dekade deutlich zurück. (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Private Konsumausgaben und Verfügbares Einkommen, Statistisches Bundesamt, 2012, Tabelle 1.2, S. 9 [PDF – 731 KB]
Der geringe Anstieg der privaten Konsumausgaben in Deutschland ist nicht weiter erstaunlich, denn auch das verfügbare Einkommen je Einwohner ist gleichfalls nur wenig gewachsen.
Preisbereinigt stieg das verfügbare Einkommen je Einwohner seit 1991 von 15.824 Euro auf 17.047 Euro im Jahr 2000 und auf 18.332 im Jahre 2011 und die privaten Konsumausgaben stiegen in den gleichen Zeitabschnitten von 13.894 Euro auf 15.662 Euro und dann auf 16.616 Euro je Einwohner im letzten Jahr. Nimmt man die prozentualen Erhöhungen beider Werte, so zeigt sich die an und für sich banale Tatsache, dass das verfügbare Einkommen mit den privaten Konsumausgaben eng zusammenhängt. (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Private Konsumausgaben und Verfügbares Einkommen, Statistisches Bundesamt, 2012, Tabelle 2.8, S.22 [PDF – 731 KB])
Bei den privaten Konsumausgaben trifft das Bild unserer Kanzlerin von der schwäbischen Hausfrau, die eben nicht mehr ausgeben kann als sie einnimmt, tatsächlich einmal zu.
Vergleicht man die die privaten Konsumausgaben Deutschlands mit denen unserer europäischen Nachbarn, dann wird deutlich, dass sich die privaten Konsumausgaben dort erheblich mehr erhöht haben als bei uns. Bis zum Ausbruch der Krise 2009 lag die Steigerungsrate in Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien, Portugal, aber auch in Österreich oder dem Vereinigten Königreich um mehrere Prozentpunkte höher als bei uns.
Da der Anteil der privaten Konsumausgaben am Bruttoinlandsprodukt bei uns um die 58 Prozent schwankt drückt sich darin auch aus, wie wenig die privaten Haushalte zum Zuwachs des Wachstums beigetragen haben bzw. mangels verfügbarem Einkommen beitragen konnten.
Hieran zeigt sich einmal mehr, dass das Wirtschaftswachstum Deutschlands im Wesentlichen exportgetrieben ist. (Zur Exportlastigkeit siehe die Angaben oben.)
Man könnte noch viele weitere Indikatoren anführen, die belegen, dass der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung in den letzten Jahren „unter seinen Verhältnissen“ lebte und dass sogar ein immer größerer Teil in Armut leben muss.
So hat uns z.B. die OECD bescheinigt, dass die die Ungleichheit in Deutschland trotz Wachstums gestiegen ist [PDF – 229 KB], dass die Armut bei uns seit 2000 stärker zugenommen hat, als in jedem anderen OECD-Land [PDF – 251 KB].
Zwar schneidet Deutschland bei der statistisch erfassten Arbeitslosenquote im europäischen Vergleich relativ gut ab, doch dafür hat unser Land inzwischen den größten Niedriglohnsektor Europas. Die Zahl der Beschäftigten im Niedriglohnsektor ist zwischen 1995 und 2010 um mehr als 2,3 Millionen auf 8 Millionen Geringverdiener gestiegen.
Ja, wir haben im Vergleich mit Spanien oder Griechenland eine viele niedrigere Jugendarbeitslosigkeit, aber auch hier ist die Statistik bei uns geschönt, denn aufgrund des – zum Glück – bei uns bestehenden dualen Ausbildungssystems landen ganz viele Jugendliche in „Warteschleifen“ und werden nicht als Arbeitslose gezählt. Auch nach dem neuesten Berufsbildungsbericht (S. 5) lag die Zahl der Berufsanfänger/innen im sog. „Übergangsbereich“ bei immer noch knapp 300.000 [PDF – 541 KB]. Ganz zu schweigen davon, dass bei uns gerade junge Beschäftigte Opfer des flexibilisierten Arbeitsmarktes sind. Sie stehen nicht nur unter hohem Druck, 41 % der Beschäftigten im Alter zwischen 15 und 25 Jahren haben ihre Arbeitsstelle nur auf Zeit, die Zahl junger Menschen mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sinkt dramatisch und die Entlohnung ist so gering, das die Armutsgefährdungsquote unter den 18 – 25-Jährigen bei 23,5% liegt.
Die Unicef stellte dieser Tage fest, dass fast 1,2 Millionen Mädchen und Jungen in Deutschland in relativer Armut leben und unser Land hinsichtlich „absoluter Entbehrungen“ Platz 15 von 29 europäischen Staaten einnimmt [PDF – 662 KB].
Damit der Text nicht zum Datenfriedhof gerät, breche ich hier mit der Aufzählung harter und ernüchternder Fakten ab, die so gar nicht mit der regierungsamtlichen Propaganda und den Schönwettermeldungen in den Medien zusammenpassen wollen. Wir liefern Ihnen auf den NachDenkSeiten nahezu täglich handfeste Beweise, dass hinter dem schönen Schein dunkle Schatten geworfen werden.
Achten Sie einmal darauf: Die Erfolgsmeldungen, die die Bundesregierung und unsere Kanzlerin verkünden, sind in aller Regel, relativ, d.h. bezogen auf andere. Ja, wir stehen im Vergleich zum Niedergang der Wirtschaft, zum Anstieg der Arbeitslosigkeit oder zum Anstieg der Staatsschulden gegenüber dem größten Teil unserer europäischen Nachbarn besser da.
Das heißt aber noch lange nicht, dass es „uns“ tatsächlich gut geht und schon gar nicht, dass es uns allen nicht besser gehen könnte.
Wie es uns selbst und vor allem wie es unseren angeschlagenen Nachbarn besser gehen könnte, dafür hat diese Regierung kein Konzept. Im Gegenteil die deutsche Bundesregierung will allen europäischen Staaten die Instrumente aufzwingen, die auch in Deutschland dazu geführt haben, dass es jedenfalls der großen Masse der Bevölkerung in den letzten Jahren schlechter ging und dass ein immer größer werdender Teil verarmt.
Das ist auch die Botschaft des Fiskalpakts; er stranguliert langfristig die Wirtschaft und schleift vor allem die sozialstaatlichen Errungenschaften (Stephan Schulmeister)
Die Kanzlerin, aber auch die oppositionelle SPD und die Grünen versuchen den landesinternen Austeritätskurs den Deutschen selbst dadurch schmackhaft zu machen, indem sie ständig darauf verweisen, wie relativ gut es uns doch gehe, gemessen an anderen. Angst nährt die Angst.
Angela Merkel schafft es mit dieser „Relativitäts-Propaganda“ komplett davon abzulenken, wie es besser werden könnte. Man muss mehr und mehr den Eindruck gewinnen, dass der Fiskalpakt und die Durchsetzung von „strukturellen Reformen“ als angebliches Wachstumsmodell (will sagen Lohnsenkung, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Privatisierung und des gesamten Katalogs neoliberaler Folterinstrumente) in den europäischen Nachbarländern, nur das Ziel haben, die Verschlechterungen, die bei uns schon durchgesetzt wurden und weiter durchgesetzt werden, auf Dauer dadurch zu beschönigen, indem man andere Länder noch weiter ins Verderben treibt. Damit man stets noch als Erfolg der eigenen Politik verkünden kann, dass es „uns“ relativ besser geht.
Diese Strategie zur Erhaltung der politischen Macht, nämlich eines Relativismus von Wahrheiten, der letztlich eine gescheiterte Ideologie verdecken soll, mag so lange verfangen, bis bei diesem politischen Sturzflug der schreckliche Aufprall auf dem Boden der Realität erfolgt.
Das Jahr 1930 mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise aufgrund der damaligen Austeritätspolitik sollte eigentlich Warnung genug sein. Schon einmal hat sich die Demokratie selbst umgebracht, weil eine Wirtschaftspolitik betrieben wurde, die nur zum Absturz führen konnte.