Das literarische Werk Dieter Wellershoffs
Dieter Wellershoff gehört zu den bedeutenden Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. In seinen Romanen, Novellen und Erzählungen schildert er die Schattenseiten einer Gesellschaft, der trotz aller Freiheitsversprechen und Konsumangebote eine gemeinsame, verbindliche Sinnstiftung abhanden gekommen ist. Für sein Werk hat Wellershoff zahlreiche Literaturpreise erhalten, u.a. den Heinrich-Böll-Preis.
Joke und Petra Frerichs haben das literarische Werk Wellershoffs analysiert. In ihrem Buch Leben braucht keine Begründung interpretieren sie sämtliche Romane, einige ausgewählte Novellen und Erzählungen sowie die Gedichte des Autors. Der folgende Textauszug ist der Einleitung zu ihrem Buch entnommen.
Für Wellershoff ist Literatur kein apartes, von der Realität losgelöstes Unterfangen. Auch nicht nur die Umsetzung einer literaturtheoretischen Konzeption. Wellershoff entlehnt die Stoffe seines Schreibens dem Leben selbst. Seine Romane, Novellen und Erzählungen handeln von den existentiellen Problemen der Menschen, die sich in einer komplexen, zunehmend undurchschaubaren Wirklichkeit zurechtfinden müssen. Einer Wirklichkeit, der die verbindlichen Weltbilder abhanden gekommen sind, und in der es keine gemeinsamen Werte mehr gibt. Dieser Realität sind sie ausgeliefert – mehr oder weniger gut ausgestattet mit materiellen und intellektuellen Ressourcen. In dieser Welt müssen sie ihren Lebensweg finden; ihre Wahlen treffen; sich entscheiden; sich anpassen oder widersetzen.
Wellershoff schildert in seinen Romanen fast ausnahmslos Figuren, die sich in extremen Lebenslagen befinden: Verlierer, Gescheiterte, Verzweifelte, Außenstehende und sogar Verbrecher. Er zeigt am Beispiel ihrer Lebenswege ein ganzes Spektrum an Facetten und Lebensmöglichkeiten auf; vor allem aber: wie prekär die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die wir als Normalität bezeichnen. Gesellschaftliche und individuelle Krisen sind für ihn kein Extremfall, sondern der Normalfall. Denn in der sog. Normalität sind all die Gefährdungen und letztendlichen Katastrophen, die unser Dasein bedrohen, bereits angelegt. Ob sie zum Ausbruch kommen, ist dann eine Frage mehr oder weniger zufälliger Ereignisse und Konstellationen. Kontingenz wäre der Begriff, mit dem sich diese Grundsituation des Menschen in der modernen Gesellschaft bezeichnen lässt: Es kann so, aber auch ganz anders kommen. Der Kontingenzbegriff meint im Wellershoffschen Verständnis alles andere als postmoderne Beliebigkeit oder Wahlfreiheit (anything goes). Für ihn spielt der Zufall eine herausragende Rolle: Ob wir diesen oder jenen Weg einschlagen, ist von Umständen abhängig, die wir wenig beeinflussen können. In welche Zeit wir hineingeborgen werden; in welchen persönlichen Lebensumständen wir aufwachsen; auf welche Lebenswege wir geraten – all das ist von Zufällen abhängig, auf die wir keinen Einfluss haben. Kurzum: Wir sind nicht so handlungsmächtig, wie wir meinen. Schon kleinste Veränderungen im gesellschaftlichen oder persönlichen Umfeld können unsere Alltagsroutinen infrage stellen; sie können Gewissheiten erschüttern, von denen wir angenommen haben, sie seien selbstverständlich.
Wellershoff sieht in der Literatur ein Medium der Erweiterung und Vertiefung der Wahrnehmung unseres Lebens. In immer neuen Konstellationen spielt er die fragilen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen in einer überkomplexen Umwelt durch und liefert die Gründe für ihr häufiges Scheitern. Die Handlungssituationen enthalten immer mehr Optionen als einlösbar sind. Gerade die moderne Gesellschaft mit ihren Freiheitsversprechen und Konsumangeboten weckt ein Übermaß an Ansprüchen und Wünschen, vor denen viele in Phantasie- und Traumwelten flüchten, weil ihnen die Mittel fehlen, ihre Sehnsüchte nach einem gelungenen oder geglückten Leben zu verwirklichen.
Um aber zu entscheiden, was für das eigene Leben und Wohlbefinden taugt und was eher schädlich ist, bedarf es Kriterien, Orientierungen, Wissen und Mittel, an denen es oft gebricht: Die Menschen treffen die falschen Entscheidungen, resignieren und geraten auf Abwege. Deshalb sind die Randständigen keine Ausnahmen, sondern entwachsen allesamt der Normalität, an der sie scheitern oder zugrunde gehen. Wellershoffs Figuren sind daher Prototypen der gegenwärtigen Gesellschaft, keine Exoten.
Der Zerrissenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechen auf der subjektiven Seite Individuen, die mit ihrer Situation vielfach überfordert sind. Viele leiden, verzweifeln und gehen zugrunde, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht durchschauen; weil das Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen die Balance zwischen äußerer Realität und der Identitätsstruktur der Menschen erschüttert. Das Resultat ist die Erfahrung von Sinn- und Wirklichkeitsverlust. Das Ergebnis sind Lebenskrisen, Zusammenbrüche, Depression: Zuweilen kommt es zu Lernprozessen mit tödlichem Ausgang (A. Kluge).
Es ist auffallend, dass die Protagonisten in Wellershoffs Romanen oft daherkommen, als seien sie Monaden: sie scheinen nichts voneinander zu wissen und bemühen sich auch nicht darum; sie sind seltsam starr und festgelegt; unfähig, die gesellschaftlichen Zwänge, denen sie unterliegen, zu durchschauen; miteinander zu kommunizieren und Identität auszubilden. Von daher fällt es ihnen schwer, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen oder aufrechtzuerhalten.
Wellershoff selbst hat davon gesprochen, dass das Lebensgefühl heutiger Menschen von dem Bewusstsein geprägt wird, in einer undurchschaubaren, von Zufällen durchwirkten und von niemandem beherrschbaren, prozesshaften Welt zu leben, in der es keine für alle verbindliche Zentralperspektive und daraus abgeleitete normativen Verhaltensmuster mehr gibt. Seine zentralen Figuren weisen immer Bezüge zur gesellschaftlichen Realität auf – häufig zu Selbsterlebtem.
Um zu erklären, wie die Wellershoffschen Protagonisten sich verhalten, ist es hilfreich, Anleihen beim französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu nehmen. In zahlreichen empirischen Studien hat dieser nachgewiesen, dass der Mensch zu einem Großteil wie ein Automat funktioniert (hier folgt Bourdieu G.W. Leibniz); d.h. er ist in seinem Unbewussten so beschaffen, dass er sich von eingefleischten Routinen leiten lässt: Er passt sich den jeweiligen Situationen nicht einfach an, sondern sucht sich gerade umgekehrt solche Umstände, in denen er seine kleine Weltordnung überschaubar abgesteckt findet. Diese wechselseitige Abstimmung von subjektiven Dispositionen und objektiven Strukturen hat Bourdieu mit dem Begriff des Habitus benannt. Der Habitus ist demnach ein untrüglicher Kompass dafür, was ein Individuum für seinen Platz in der Gesellschaft hält und wie es sich seiner gesellschaftlichen Position gemäß zu orientieren und verhalten hat. Habitus als inkorporierte, strukturierte Struktur ist durch Herkunft und Erziehung erworben oder geerbt und hat die Eigenschaft, rigide und starr zu sein, zumindest solange, bis die relative Übereinstimmung von Position und Disposition offensichtlich auseinanderbricht.
In diesem Sinne konstruiert auch Wellershoff seine Figuren. Sie stecken oft in einem Gehäuse der Hörigkeit (Weber) fest, das sie mit großem Beharrungsvermögen in den Bann zieht. Ihr Lebensweg scheint unausweichlich in der Katastrophe zu enden, und häufig erkennt man bereits recht früh, wie der Sog der Ereignisse sie erfasst, dem sie nicht entkommen können. Sie sind Täter und Opfer in einer Person, da sie in ihrem alltäglichen Verhalten, ihren Routinen usw. die Zwänge, denen sie unterliegen, oft selbst geschaffen haben. Und das macht es ihnen so schwer, sich sozial oder solidarisch zu verhalten, Beziehungen einzugehen, zu kommunizieren und vor allem: ihr Leben zu ändern. Stattdessen überkommt sie immer wieder das Gefühl, im falschen Leben zu stecken.
Das ist es wohl, was viele anspricht: die Probleme, die Wellershoff abhandelt, kennt jeder aus eigener Erfahrung. Da ist das praktische Leben, der Alltag, der Anpassung und Einsicht in das Notwendige erzwingt; da sind die Tugenden, die man durch Erziehung, Sozialisation und Gewohnheit erwirbt. Und da ist die Welt der Gefühle, der Liebe, der Sexualität, für die in den gewohnten Alltagsabläufen oft nicht genügend Raum und Zeit bleibt, so dass die Phantasien, Träume oder Sehnsüchte als ungelebtes Leben zurückkehren. Wellershoff zeigt, wie sie in uns wirksam sind und beginnen, ein Eigenleben zu führen; wie sie als Verdrängtes und Unbewusstes fortleben und durch unvorhersehbare Ereignisse aktualisiert werden; inwieweit sie als menschliche Regungen Realität erlangen oder umgebogen werden und in Pathologien oder Aggressionen münden. In Wellershoffs Werken werden mögliche und widersprüchliche Handlungsoptionen aufgezeigt und als virtuelle Lebensentwürfe durchgespielt. Dadurch erweitert sich der Horizont unserer Wahrnehmungen und Einsichten. Allerdings hütet er sich davor, Ratschläge zu erteilen oder gar Ideologien zu verbreiten. Im Gegenteil: Aufgrund seiner Lebenserfahrung weiß der Autor, welche Abgründe und Zufälle die Realität bereithält. Kaum jemals bietet er Lösungen an. Oft bleibt das Ende seiner Geschichten offen: Es ist sein spezifischer Realismus, gespeist aus den eigenen Lebenserfahrungen, seine Skepsis, Änderungen gegenüber, seine Einsicht in die erbärmliche Unbelehrbarkeit des Lebens, die es ihm angeraten sein lassen, es dem Leser zu überlassen, welche Schlüsse er selbst ziehen möchte. Gerade das macht einen weiteren Reiz aus, sich mit seinen Werken auseinanderzusetzen.
Das Konstruktionsprinzip seiner Schriften verdankt sich offenbar dreierlei Motiven: der Lebenserfahrung des Autors, die ihm einen illusionsfreien Blick auf die Möglichkeiten des Menschen verschafft; der Reflexion über kulturelle und gesellschaftlicher Verwerfungen der Moderne, in der gemeinsame, normative Hintergrundüberzeugungen (Habermas) verloren gegangen sind; und der unaufgeregten Einsicht, dass ein Jeder sein Leben leben muss, weil dies das Größte ist, was der Mensch besitzt.
Durch das Erscheinen der letzten drei Bände seiner Werkausgabe sind jetzt alle Texte Wellershoffs zugänglich. Es ist beeindruckend, welch umfangreiches Werk dieser Autor geschaffen hat und wie aktuell dieses nach wie vor ist. Immer wieder entdeckt man Unbekanntes und Neues und kommt zu überraschenden Einsichten. Dieter Wellershoff ist ein Schriftsteller, der uns noch lange beschäftigen wird.
(aus: Joke und Petra Frerichs: Leben braucht keine Begründung. Zum literarischen Werk Dieter Wellershoffs, 2012, 245 Seiten )