Albert Schweitzer und die NachDenkSeiten
Vor zwei Tagen erhielt ich eine Mail, die ich unseren Lesern zur Kenntnis geben möchte. Der Autor analysiert u.a. die Hintergründe unseres NachDenk-Versuchs und verweist auf einen einschlägigen Text von Albert Schweitzer. Beide Texte finden Sie im Folgenden. Danke an den Absender und zugleich an alle anderen, die uns mailen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir in vielen Fällen nicht antworten können.
Hier zunächst die Mail und dann der Text von Albert Schweitzer:
Beim Lesen meiner Lektüre, die da lautet “Wie wir überleben können” von Albert Schweitzer, fiel mir eine Passage ins Auge, die mich erschreckenderweise an unsere Situation erinnert, in der man eine Wahrheit vorgibt, die angeblich die einzige ist, um dann von Papageipapageien weiterverwertet zu werden.
Schweitzer beginnt damit, daß wir heute (damit meint er natürlich seine Zeitepoche) verlehrt haben selbst zu denken, quasi den gesunden Menschenverstand ausgeschaltet haben. Stattdessen nehmen wir vorgefertigte Wahrheiten in uns auf, nicht der Wahrheit darin erkennend, nur hinnehmend. Schließlich müsse es ja stimmen, wenn soviele dies als Wahrheit ansehen.
Dann beschreibt er, und da erinnerte ich mich an Sie und Ihr Buch “Machtwahn”, wie man irgendwann beginnt am eigenen Denken zu zweifeln, weil man ringsherum ganz andere, vorgefertigte Denkmuster “erhält”. Es tritt ein Skeptizismus gegenüber dem eigenen Denken ein, aber auch gegen denjenigen, der ganz different dem Geist der Zeit entgegentritt und anders denkt. Auch Blüm kommt mir in den Sinn, wie er gegen Beckmann, BILD und Öffentlichkeit ankämpfen muß, wie man ihn zum Politsenioren von Vorgestern abstempeln will. Welcher Mensch beginnt nicht an sich zu zweifeln, wenn die welt um ihn herum so tut, als wäre man auf dem Holzweg?
Wissenschaftswahrheit: Schweitzer glaubte, nicht ganz zu unrecht, daß die Wissenschaft dem Menschen das Denken abgenommen hat. Was die Wissenschaft uns vermittelt, muß schließlich wahr sein.
Persönlich will ich festhalten: Wissenschaft hat ihre Berechtigung, wenn sie objektiv daherkommt, nicht pars pro toto auftritt und sich damit in den Dienst der Menschen stellt. Aber Schweitzer darf man zustimmen, wenn man sieht, wie einige Ihrer Ökonomenkollegen, lieber Herr Müller, daherkommen. Siehe Hans-Werner Sinn, siehe Raffelhüschen: Sie kommen im wissenschaftlichen Deckmäntelchen in unsere Wohnzimmer und verkünden eine wissenschaftliche Wahrheit. Warum, so die Masse, sollte man das anzweifeln?Und zum Ende der schweitzerischen Ausführungen kommt die Erkenntnis, daß man – hat man die Schleusen dem Skeptizismus gegenüber dem eigenen Denken erstmal geöffnet – dies nicht mehr eindämmen kann. Vielleicht, um auf die aktuelle Situation zu deuten, ist es diese Feststellung, warum unsere Eliten schlichtweg keinen Mut mehr haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Sie können es einfach nicht, weil man ihnen täglich eine vorgefertigte Meinung präsentierte.
Man kann dem Volk nicht die Schuld geben, nicht Denken zu wollen, zumindest in der ökonomischen Frage. Oft wirkt es mystisch, was sich um Finanzen und Wirtschaft rankt, Durchblick ist schwer zu erzielen. Doch, und hier muß Kritik am Zeitgeist des Nicht-Denkens erlaubt sein, bemüht man sich auch nicht, daß was einen so neoliberal vorgesetzt wird, mit gesunden Menschenverstand zu durchdenken. Und dies muß Anliegen der NachDenkSeiten sein: Nur wer Mut hat, sich seine eigenen Gedanken zu machen, der ist fähig der differenten Auseinandersetzung und kann vorgefertigte Meinungen – die noch dazu zum Schaden dessen erdacht wurden, der sie aufnehmen soll – von sich weisen.
Gesunder Menschenverstand: Wieviele der neoliberalen “Wahrheiten” sind mit diesem zu zertreten? Durch ausgefeilte Logik zeichnen sich die “Wahrheiten” dieser Herrschaften ja nicht aus.Es ist in der Politik, im Zeitgeist überhaupt, ein Hauch von Unethik zu spüren. Man schließt Menschen aus der Gesellschaft aus, weil sie keine Arbeit finden können. Nicht nur finanziell, sondern eben – und dies oft viel schlimmer -, weil man als Mensch keinen Wert mehr darstellt. Kurz, weil man nicht mehr zum Humankapital taugt, sondern Ballastexistenz geworden ist. Andere sprechen gar von Parasiten und erregen damit kaum Aufruhr, sondern gehören weiterhin zur High-Society deutschen Neoliberalismus. Man stellt Bevölkerungsschichten kollektiv in den Stand des Sündebocks: Arbeitslose, kinderlose Frauen, Ausländer muslimischen Ursprungs, Ostdeutsche – auch hier keine ethisch-subjektive Auseinandersetzung, sondern eine unethische Art, ungeliebte Bevölkerungskreise zu diffamieren.
Warum ist dies so? – Schweitzer würde darauf antworten: “Ethisch zu sein, heißt denkend zu sein!”In einer angehängten Word-Datei habe ich mir erlaubt, Ihnen die Passagen Schweitzers zukommen zu lassen. Möglicherweise kennen Sie den Text aber bereits. Ich wollte Ihnen diesen nur mitteilen, weil er mich beim Lesen an den heute herrschenden Zeitgeist erinnerte und an das aufklärerische Engagement, daß Sie an den Tag legen, lieber Herr Müller. Vielleicht ein philosophisches Fundament, um die Bemühungen, Menschen zum Selbstdenken anzuleiten, zu würdigen. Ein ethisches Fundament zwar – denn Schweitzer war eben vorallem Ethiker -, doch daran dürfen wir nicht vorbeigehen: Das moderne Gemeinwesen hat ethisch zu sein, in erster Instanz. Ein ethisches Gemeinwesen ist das Absolut, daß wir uns setzen müssen. Was nützt alle Wirtschaftlichkeit einer Gesellschaft, wenn darin Menschen heilbarer Krankheit sterben, andere Hunger leiden müssen? Über unser ethisches Gewissen erkennen wir Mißstände und können sie dann realpolitisch umsetzen, sofern wir bereit sind denkend und damit ethisch zu sein.
Viele Grüße,
R. J. De L.
Anlage: Passage aus Albert Schweitzers „Wie wir überleben können“
Bei der heutigen Mißachtung des Denkens ist aber noch Mißtrauen gegen es mit im Spiel. Die organisierten staatlichen, sozialen und religiösen Gemeinschaften unserer Zeit sind darauf aus, den Einzelnen dahin zu bringen, daß er seine Überzeugungen nicht aus eigenem Denken gewinnt, sondern sich diejenigen zu eigen macht, die sie für ihn bereit halten. Ein Mensch, der eigenes Denken hat und danmit geistig ein Freier ist, ist ihnen etwas Unbequemes und Unheimliches. Er bietet nicht genügende Gewähr, daß er in der Organisation in der gewünschten Weise aufgeht. Alle Körperschaften suchen heute ihre Stärke nicht so sehr in der geistigen Wertigkeit der Ideen, die sie vertreten, und in der der Menschen, die ihnen angehören, als in der Erscheinung einer höchstmöglichen Einheitlichkeit und Geschlossenheit. In dieser glauben sie die stärkste Widerstands- und Stoßkraft zu besitzen.
[…]
Sein ganzes Leben hindurch ist der heutige Mensch also der Einwirkung von Einflüssen ausgesetzt, die ihm das Vertrauen in das eigene Denken nehmen wollen. Der Geist der geistigen Unselbständigkeit, dem er sich ergeben soll, ist in allem, was er hört und liest; er ist in den Menschen, mit denen er zusammenkommt; er ist in den Parteien und Vereinen, die ihn mit Beschlag belegt haben; er ist in den Verhältnissen, in denen er lebt. Von allen Seiten und auf die mannigfachste Weise wird auf ihn eingewirkt, daß er die Wahrheiten und Überzeugungen, deren er zum Leben bedarf, von den Genossenschaften, die Rechte auf ihn haben, entgegennehme. Der Geist der Zeit läßt ihn nicht zu sicher selber kommen. Wie durch die Lichtreklame, die in den Straßen der Großstadt aufflammen, eine Gesellschaft, die kapitalkräftig genug ist, um sich durchzusetzen, auf Schritt und Tritt Zwang auf ihn ausübt, daß er sich für ihre Schuhwichse oder ihre Suppenwürfel entscheide, so werden ihm fort und fort Überzeugungen aufgedrängt.
Durch den Geist der Zeit wird der heutuge Mensch also zum Skeptizismus in bezug auf das eigene Denken angehalten, damit er für autoritative Wahrheit empfänglich werde. Dieser stetigen Beeinflussung kann er nicht den erforderlichen Widerstand leisten, weil er ein überbeschäftigtes, ungesammeltes, zerstreutes Wesen ist. Überdies wirkt die vielfache materielle Unfreiheit, die sein Los ist, in der Art auf seine Mentalität ein, daß er zuletzt auch den Anspruch auf eigene Gedanken nicht mehr aufrechterhalten zu können glaubt.
Herabgesetzt wird sein geistiges Selbstvertrauen auch durch den Druck, den das ungeheure, täglich sich vermehrende Wissen auf ihn ausübt. Er ist nicht mehr imstande, sich alle bekannt werdende Erkenntnis als etwas Begriffenes anzueignen, sondern muß sie als etwas Unverstandenes für richtig halten. Durch dieses Verhalten zur Wissenschaftswahrheit kommt er in Versuchung, sich in den Gedanken hineinzufinden, daß seine Urteilskraft auch in Sachen des Denkens nicht ausreiche.
[…]
Verzicht auf Denken ist geistige Bankrotterklärung. Wo die Überzeugung aufhört, daß die Menschen die Wahrheit durch ihr Denken erkennen können, beginnt der Skeptizismus. Diejenigen, die daran arbeiten, unsere Zeit in dieser Art skeptisch zu machen, tun dies in der Erwartung, daß die Menschen durch Verzicht auf selbsterkannte Wahrheit zur Annahme dessen, was ihnen autoritativ und durch Propaganda als Wahrheit aufgedrängt werden soll, gelangen werden.
Die Rechnung ist falsch. Wer der Flut des Skeptizismus die Schleusen öffnet, daß sie sich über das Land ergieße, darf nicht erwarten, sie nachher eindämmen zu können. Nur ein kleiner Teil derer, die sich entmutigen lassen, in eigenem Denken Wahrheit erreichen zu wollen, findet Ersatz dafür in übernommener Wahrheit. Die Masse selbst bleibt skeptisch. Sie verliert den Sinn für Wahrheit und das Bedürfnis nach ihr und findet sich darein, in Gedankenlosigkeit dahinzuleben und zwischen Meinungen hin- und hergetrieben zu werden.