Glück braucht einen geschichtlichen Atem
Götz Eisenberg erinnert an den engagierten Intellektuellen und Schriftsteller Lothar Baier, der am 16. Mai 70 Jahre alt geworden wäre. Lothar Baier zählte in den späten 70er und dann vor allem in den 80er Jahren zu den wichtigen intellektuellen Köpfen. Er war ein gefragter Literaturkritiker, die Feuilletons fast aller großen Zeitungen standen ihm in jenen Jahren offen. Bei Wagenbach erschienen seine Essays „Firma Frankreich, Gleichheitszeichen“ und „Die große Ketzerei“ und er publizierte in der Zeitschrift Merkur, in Enzensbergers Zeitschrift TransAtlantik wie in Wagenbachs Freibeuter. 1982 wurde er mit dem Jean-Amery-Preis für Essayistik ausgezeichnet.1985 erschien im Verlag S. Fischer seine Erzählung „Jahresfrist“, in die er seine Erfahrungen beim Restaurieren eines alten Bauernhauses in Südfrankreich einfließen ließ.
„Heute hinauszuschreien, dass die Utopie gescheitert ist, ist etwa so klug, wie im Spätherbst, wenn die Blätter fallen, zu dem Schluss zu kommen, dass die Idee des Frühlings gescheitert ist. Nieder mit dem Frühling!“, schrieb er in dem 1993 erschienenen Band „Die verleugnete Utopie“. Von Götz Eisenberg.
Einen seiner letzten Texte hat Lothar Baier unter dem Datum des 14. Januar 2003 in Form eines Briefes an den Mitte Mai 2009 in Zürich gestorbenen Psychoanalytiker Paul Parin, der für Lothar so etwas wie ein väterlicher Freund und gelegentlicher Ratgeber gewesen ist. Er hat diesen Brief auch an einige wenige, noch verbliebene Freunde geschickt. „lieber herr parin“, lesen wir dort, „ ‚und er hat alles kleingeschrieben – stefan george tut dies auch’, heißt es in einem chanson von tucholsky. dass ich alles klein schreibe, hat mit george nichts zu tun, sondern nur mit dem kruden faktum, dass ich mit der linken tippen muss, da der rechte arm vergipst in der schlinge hängt.“
Der Brief enthält in seinem Fortgang Lothars Version des dramatischen Scheiterns einer Liebesbeziehung, deretwegen er nach Kanada gegangen war. In dem an mich gerichteten Begleitschreiben spricht Lothar davon, dass er auch nach dem Ende dieser Beziehung in Kanada bleiben wolle. Montréal sei ein „wirksames Antidepressivum“ für ihn und er denke nicht daran, ins „gentrifizierte Finanzdorf Frankfurt“ zurückzukehren.
Während eines seiner zahlreichen Frankreichaufenthalte hatte er in den neunziger Jahren eine Frankokanadierin kennengelernt. Die beiden führten über längere Zeit eine transatlantische Beziehung. Lothar begann, Lehraufträge an kanadischen Universitäten anzunehmen und zwischen Frankfurt und Montréal hin und her zu pendeln, bis er Anfang des neuen Jahrhunderts auf ihr Drängen hin seine Zelte in Frankfurt und Deutschland abbrach und vollends nach Kanada ging. Seinen 60. Geburtstag feierte er mit seiner Lebensgefährtin und einem neuen Freundeskreis im gemeinsam erworbenen Haus in Montréal. Nachdem sein Entschluss feststand, nach Kanada zu gehen, brach er viele Brücken hinter sich ab und ließ, um sich den Abschied zu erleichtern, an Deutschland und seinen Bewohnern kein gutes Haar. In dieser Zeit brüskierte er manchen und stieß seinen Bekannten- und Freundeskreis gelegentlich mit schroffen Bemerkungen und herber Kritik vor den Kopf. Der Abschiedsschmerz und die Angst vor dem endgültigen Schritt in eine ungewisse Zukunft schlugen in Angriffslust um. Lothar praktizierte eine Art Beziehungspolitik der verbrannten Erde, spitzte Konflikte zu, bezog in Diskussionen extreme, schwer nachvollziehbare Positionen, grenzte sich ab. Enttäuscht zeigte er sich vor allem von vielen ehemaligen Weggefährten und Genossen, die er nun mit einem gewissen Sarkasmus als „former radicals, now upstairs moving“ bezeichnete. Einige von ihnen hatten nach langen Phasen des lebensgeschichtlichen Improvisierens und Sich-Durchschlagens als freie Schreiber den Weg in feste Anstellungen gewählt und sich in Lothars Wahrnehmung in „Normalitätsspießer“ verwandelt – sein Abgrenzungsfuror trieb den ansonsten freundlichen, eher aggressionsgehemmten Menschen zur Entwicklung solcher Wort-Granaten. Alles, was „aus dem Rahmen ihrer ruhigen, rotgrünen oder schwarzen Beamtenexistenz fällt“, mache sie sprachlos. Es kam ihm so vor, als seien sie für ihn und seine Erfahrungen nicht länger ansprechbar und als existiere der „kleine Schreiber Lothar Baier“ für sie nicht mehr.
Dem oben erwähnten Brief beigefügt hatte er den Bericht einer kanadischen Tageszeitung über ein Tötungsdelikt in Vancouver: „Did video-game violence lead to real-life shooting?“, lautete die Überschrift. In einem Internet-Café war ein 17-Jähriger von einem Kumpel, der von ihm gerade beim Video-Schießen besiegt worden war, erschossen worden. „Den Artikel lege ich dir bei, für deine Dokumentation“, schrieb Lothar. Von ihm habe ich auch zuerst davon gehört, dass „going postal“, aufs Postamt gehen, in den USA ein Synonym für Amoklaufen ist. Als man in den 80er Jahren im Zuge der Reaganomics damit begann, die Post zu privatisieren und zu „verschlanken“, kamen einige entlassene ehemalige Postangestellte bewaffnet an ihren privatisierten Arbeitsplatz zurück und schossen dort um sich. Lothar sah einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Deregulierung und der Zunahme solcher Firmen-Amokläufe. Im August 1999 schrieb er aus Montréal: „Die Deregulierung schlägt hier noch viel schneller auf die Individuen durch als in Europa, wo es noch zählebige bürgerliche Residuen gibt. Vielleicht gibt es auch schon deregulierungstypische Verbrechen, wie das Massaker eines frustrierten Daytraders unter Angestellten einer Brokerfirma in Atlanta.“
Die Liebesbeziehung war angesichts der Probleme des alltäglichen Zusammenlebens und ungewohnter Nähe-Verhältnisse bald in eine Krise geraten und dann katastrophal gescheitert. Zum zweiten Mal in seinem Leben müsse er die Erfahrung machen, schrieb er in einem Brief, „dass mir eine Frau das Haus unter dem Arsch wegzieht“. Nach den Wirren und Verletzungen der Trennung fand er eine kleine Wohnung in einem ehemaligen Arbeiterviertel. Doch so etwas wie Glück stellte sich nicht mehr ein. Die Probleme, die Lothar mit der Auswanderung hinter sich zu lassen hoffte, hatten wie blinde Passagiere den Umzug mitgemacht und „verspotteten ihn für die Vorstellung, … irgendjemandem entkommen zu können“, wie er es in seiner Erzählung Jahresfrist zwei Jahrzehnte zuvor beschrieben hatte. Ich stelle mir vor, dass es ihm nun in Kanada ähnlich erging wie damals in der südfranzösischen Einsamkeit: Vor allem in den Nächten „meldete sich immer unabweisbarer der Verdacht zu Wort, dass dieser ganze Fluchtversuch vergeblich war. In den Nächten holte mich etwas ein, was sich durch keine Entfernung und keine Isolation abschütteln ließ. Als ich in die Einöde fuhr, glaubte ich allen Arten von Verfolgern entkommen zu sein, und wusste noch nichts von den Verfolgern, die ich unerkannt mitgeschleppt hatte und die mir desto dichter auf den Leib rückten, je weiter ich mich von der gewohnten Welt entfernte.“ Längst aus dem Bewusstsein entschwundene Gestalten und Peiniger suchten ihn heim und zerrten abgesunkene Gefühle aus der Erinnerung heraus. Wie durch ein Steigrohr stiegen „Gefühle der Scham und der Schuld, Ängste und Erniedrigungen“ auf. „Frühere Erzieher und Ausbilder, an die ich seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte, machten sich in den Träumen breit und spielten Szenen vor, die immer von der Ohnmacht handelten, und noch jenseits des Schlafs klang das Echo ihrer Stimmen nach.“
Das Antidepressivum Montréal wirkte nicht mehr. Die Depression kehrte zurück und irgendwann schien ihm das Leben nicht mehr der Mühe wert.
Da bei politisch denkenden und engagierten Menschen, die die Idee der Befreiung zu ihrer regulativen Idee gemacht haben, also bei Linken, Lebensgeschichte und Geschichte eng miteinander verflochten und aufeinander bezogen sind, hängt ihr seelisches Gleichgewicht, ihre Identität in besonderer Weise davon ab, wie gesellschaftliche Prozesse verlaufen. Glück wird es für sie nicht nur als subjektives, individuelles geben, sondern bedarf stets einer öffentlichen, allgemeinen Dimension: Glück ist entweder für (fast) alle möglich, oder für (fast) keinen. Mit Peter Brückners Worten: Glück hat seinen geschichtlichen Atem, braucht den Wind einer historischen Tendenz im Rücken. Phasen, da sich die Wirklichkeit zum befreienden Gedanken drängt und es zu einer Verbindung der aus dem Subjekt kommenden Kräfte mit den objektiven Verhältnissen kommt, erleben an Veränderung interessierte Menschen als ihren Kairós, als öffentliches Glück. „Kairós ist die altgriechische Bezeichnung für eine glückliche Situation“, formuliert Oskar Negt, „die ganz verschiedene Kräfte zu einem Energiebündel zusammenfügt, das einer Neuerung zur Existenz verhilft.“ In Zeiten, da die Klassenkämpfe stillgestellt scheinen, müssen Linke sich schwierigen Balanceakten unterziehen. Affirmation oder Emanzipation, Wendung der Glückssuche ins Private oder Widerstand – eine sich wie von selbst herstellende Balance zwischen derart gegensätzlichen Tendenzen ist schwer denkbar und sie bedarf ständiger und mühevoller Identitätsarbeit. Es ist schwierig, in nichtrevolutionären Zeiten das lebensgeschichtliche Primat der Politik durchzuhalten.
Lothar Baiers „Depression“ weist neben ihrer individuellen, einzelnen Entstehungsgeschichte eine gesellschaftlich-historische, allgemeine Dimension auf. Er musste mehrfach erfahren, dass der Gang seiner Lebensgeschichte vom gegenläufigen Trend gesellschaftlich-historischer Tendenzen unglücklich geschnitten wurde. Dieser Schnitt – der Anti-Kairós – kann die Folgen lebensgeschichtlicher Verletzungen aus der Latenz hervortreten lassen und so zum Auslöser psychischer Erkrankungen werden. Lothar Baier wusste um diese Zusammenhänge. In einem autobiographisch gefärbten Text, der Vom Schreiben leben heißt und in Heft 10/79 der Zeitschrift Merkur erschienen ist, blickt er auf die Jahre der 68er Revolte und ihr Ende zurück: „ … ich spürte damals, dass irgendetwas unwiderruflich zu Ende gegangen war, und ich fühlte mich krank. Ich fühlte mich umso mehr krank, als ich weder die Krankheit lokalisieren noch mir erklären konnte, woher sie kam. Wäre ich zu einem Arzt gegangen, hätte er wahrscheinlich etwas wie ‚Depression‘ diagnostiziert und mir Medikamente verschrieben.“ Lothar leitete seinen Zustand vom allgemeinen Zustand der Erstarrung ab, den alle um ihn herum damals registrierten. Er sah sich von Trümmerhaufen zerbrochener Hoffnungen umgeben und empfand sich als „entlassener Hilfsarbeiter der Revolution“. Der erste Ausbruch von Lothars Depression fällt mit dem Verlust des öffentlichen Glücks zusammen, das die Revolte der Jugendlichen und Studierenden für viele mit sich gebracht hatte. Die Revolte war getragen von der Hoffnung, dass sich die Verhältnisse grundsätzlich ändern ließen und zwar am besten sofort oder doch in absehbarer Zeit. Nachdem sich diese Hoffnung als Illusion entpuppt hatte, lagen vor den Akteuren die Brecht‘schen „Mühen der Ebenen“ und eine „Leidensgeschichte der Mäßigung der Ansprüche“, wie Peter Brückner es ausgedrückt hat. Sie mussten lernen, dass Veränderung der Gesellschaft nicht die Zeitlichkeit des Sofort besitzt, sondern langfristige Bemühungen erfordert. Und sie würden über diesen Bemühungen älter, womöglich alt werden und mussten ihr Leben einstweilen unter Bedingungen führen, die sie einer scharfen Kritik unterzogen hatten und im Kern ablehnten – und nun dennoch zur Basis ihrer Lebensentwürfe und Identitätskonstruktionen nehmen mussten. Die bisherigen Orientierungsschemata stimmten nicht mehr und man musste neue finden, da man nicht ohne ein geistiges Koordinatensystem leben kann. Das bezeichnet den Kern der Krise, in die die antiautoritäre Linke Anfang der 1970er Jahre geriet und von der auch Lothar erfasst wurde.
Der zweite Depressionsschub scheint eine Folge der Krise gewesen zu sein, in die die westeuropäische Linke, zu deren führenden intellektuellen Köpfen Lothar Baier in den späten 70er und dann vor allem in den 80er Jahren zählte, nach dem Kollaps des Ostblocks geriet. Für eine Weile konnte es den Anschein haben, als sollte die bürgerlich-kapitalistische Welt das letzte Wort haben und als habe ihr weltumspannender Triumph jedwede Alternative unter sich begraben. Der Höchststand der kapitalistischen Entwicklung ging mit einem Tiefststand widerständiger Potenziale einher. Ich erinnere mich gut daran, dass Lothar Baier im Tod des französischen Sozialisten Pierre Bérégovoy am 1. Mai des Jahres 1993, also am „Kampftag der Arbeiterklasse“, ein Symbol für diesen Zustand und ein Menetekel erblickte. Morgens hatte Bérégovoy noch auf einer gewerkschaftlichen Kundgebung gesprochen, abends erschoss er sich.
Lothar Baier ahnte früh, worauf das von den Hohepriestern des freien Marktes verkündete Neue Zeitalter hinauslaufen würde: Ein von keinerlei Alternativen behelligter und von keiner nennenswerten Opposition eingeschränkter Kapitalismus würde jedwede Beißhemmung ablegen und nackt und ungeschminkt in Erscheinung treten. „Der Kapitalismus ist immer nur nett, wenn er nett sein muss. Jetzt muss er nicht“, zitierte er den Wiener Autor Günther Nenning, dessen Argumentation er wie folgt zusammenfasste: „Zu Zeiten des Kalten Krieges war der Kapitalismus viel weniger reich als jetzt, und dennoch finanzierte er, wenn auch gelegentlich maulend, den vollen Sozialstaat. Jetzt, wo er um ein Vielfaches reicher ist, sieht er sich mangels kommunistischer oder auch nur sozialdemokratischer Herausforderung zu solchen Nettigkeiten nicht mehr gezwungen, und kann deshalb den Sozialstaat in seiner bisherigen Form zum unbezahlbaren Luxus erklären, ohne damit mehr als rhetorischen Protest zu ernten. Auch in dieser Hinsicht geht es ihm besser denn je.“
Lothar Baier überwand seine Post-68er-Krise und depressive Episode und war auch in den Jahren danach ein gefragter Literaturkritiker. Die Feuilletons fast aller großen Zeitungen standen ihm in jenen Jahren offen. Man bot ihm an, Feuilleton-Chef der Wochenzeitung DIE ZEIT zu werden, aber er lehnte ab. Bei Wagenbach erschienen seine viel beachteten und gelesenen Essays Firma Frankreich, Gleichheitszeichen, Die große Ketzerei und Volk ohne Zeit. Er publizierte in der Zeitschrift Merkur, in Enzensbergers Zeitschrift TransAtlantik wie in Wagenbachs Freibeuter. 1982 wurde er mit dem Jean-Amery-Preis für Essayistik ausgezeichnet. 1985 erschien im Verlag S. Fischer seine Erzählung Jahresfrist, in die er seine Erfahrungen beim Restaurieren eines alten Bauernhauses in Südfrankreich einfließen ließ. Auch dieses Haus sollte –zumindest in den Sommermonaten – eine Frankfurter Liebesbeziehung beherbergen, die dann aber zerbrach und ihn des Hauses beraubte. Jahresfrist ist aber zugleich eine Auseinandersetzung mit dem von Lothar Baier geschätzten französischen Schriftsteller Paul Nizan, dessen Roman Die Verschwörung er ins Deutsche übertragen hatte. Nizan war 1939 aus Protest gegen den Hitler-Stalin-Pakt aus der Kommunistischen Partei ausgetreten und in der Folge als „Verräter“ gebrandmarkt worden. Im Mai 1940 kam er an der Front bei Dünkirchen ums Leben.
Ab den 90er Jahren wurde die Luft dünn für einen wie Lothar, der den nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zur Mode gewordenen Trend zum Abschwören und zur Konversion nicht mitmachte und sich und seinen früheren Intentionen die Treue hielt. Während zahlreiche ehemalige Linke sich von ihrer Vergangenheit distanzierten und sich in runderneuerte „Wachhunde“ der globalisierten kapitalistischen Ordnung und des Marktes verwandelten, wie Paul Nizan es ausgedrückt hätte, blieb er ein „engagierter Intellektueller“ im Sinne Sartres. „Heute hinauszuschreien“, schrieb er in dem 1993 erschienenen Band Die verleugnete Utopie, „dass die Utopie gescheitert ist, ist etwa so klug, wie im Spätherbst, wenn die Blätter fallen, zu dem Schluss zu kommen, dass die Idee des Frühlings gescheitert ist. Nieder mit dem Frühling!“ Er wurde Redakteur der in der Schweiz erscheinenden Wochenzeitung (WOZ), bis es zu unschönen Zerwürfnissen kam und man das von ihm betreute Gesellschafts-Ressort abschaffte, und verfasste regelmäßig Beiträge für den Freitag und den Deutschlandfunk. Er, der in seinen guten Jahren vom Schreiben hatte leben können, hatte nun Mühe, finanziell über die Runden zu kommen.
Wenn er depressiv sei, hat er mir einmal gesagt, empfinde er den Alltag so anstrengend, als müsse er ständig gegen die Fahrtrichtung einer Rolltreppe anlaufen. An manchen Tagen fiel es ihm schwer, das Haus zu verlassen und sich gegen die Schwere der Welt anzustemmen. Einige Verabredungen sagte er deswegen kurzfristig ab. Zum letzten Mal gesehen habe ich ihn im Herbst 2001. Wir hatten nachmittags Pilze gesucht und gefunden und uns währenddessen intensiv unterhalten. Abends bereiteten wir die Pilze zu, aßen gemeinsam und redeten weiter. Gegen Mitternacht brachte ich ihn zum letzten Zug nach Frankfurt. Er rauchte auf dem Bahnsteig noch eine seiner schwarzen französischen Zigaretten und sagte bereits in der offenen Tür stehend: „Bis bald, wir müssen unsere Diskussion dringend fortsetzen.“
Ich vermisse ihn und unsere Gespräche sehr. Wie dringend bräuchten wir gerade heute einen wie ihn und seinen wachen, kritischen Verstand.
Vielleicht stellt mein Reden von der Depression und dem Niedergang der Linken auch nur den Versuch dar, mir das Unfassbare und Unerklärliche von Lothars Suizid erklärbar zu machen und den immer noch nachwirkenden Schrecken zu bannen. Letztlich werden derartige Ereignisse immer etwas Rätselhaftes behalten, das sich unseren Erklärungs- und Sinngebungsversuchen entzieht. Erst wenn die Katastrophe eingetreten ist, scheint alles einer Logik zu folgen, die auf den Selbstmord die ganze Zeit über zusteuerte. Es hätte aber auf allen Stufen der Entwicklung auch andere Möglichkeiten gegeben. Jetzt ist jeder Lernprozess dadurch versperrt, dass er zu spät kommt. Es bleibt unser, der Überlebenden, „stürmisches Bedürfnis“, wie es bei Musil heißt, „zurückzukehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt.“
Wie stark mir der Selbstmord meines Freundes nachging und wie sehr er mein ohnehin prekäres inneres Gleichgewicht erschüttert hat, merkte ich erst, als ich selbst zwei Monate später dem Tod von der Schippe gesprungen war, wie man so sagt. Mitte September 2004 schlief ich auf dem Weg zu Freunden in Oberitalien beim Durchqueren eines Schweizer Tunnels am Steuer ein und kann von Glück sagen, dass ich aus dem demolierten Wagen halbwegs unverletzt aussteigen konnte. Als ich später die Bilder der Überwachungskameras sah, die den Unfall aufgezeichnet hatten, wurde mir nachträglich ganz blümerant. Man konnte sehen, wie Sekunden später auf beiden Spuren Autos aus dem Tunnel herausschossen und die Unfallstelle passierten. So war nur ich zu Schaden gekommen. Die beiden Schweizer Polizisten, die mich, nachdem sie ein horrendes Bußgeld kassiert hatten, unter ihre Fittiche nahmen, sprachen in ihrem behäbigen Schwyzerdütsch ein ums andere Mal von Schutzengeln, die ich gehabt haben müsse. Bei dem Glück müssten es schon mehrere gewesen sein.
Meine Freunde holten mich am Tag darauf in der Schweiz ab und nahmen mich mit in die Berge oberhalb des Gardasees. Dort hatte ich Zeit, über Vieles nachzudenken. Es ist sehr schwer zu beschreiben, aber bei aller Vorsicht würde ich es so ausdrücken: Von der Idee, im fahrenden Auto einzuschlafen, mich fallen zu lassen, war eine enorme Lockung ausgegangen, ein immenser Sog, dem ich mich schließlich überlassen hatte. Ich sah es kommen und die Vorstellung, dass es kommt, war keineswegs unangenehm. Es war, als würde plötzlich alle Anspannung von mir abfallen und einem wohligen Gefühl der Schläfrigkeit und Bewusstlosigkeit weichen.
Ich hatte den damals gerade erschienenen Roman von Dieter Forte im Gepäck, der Auf der anderen Seite der Welt heißt. In ihm stieß ich – ein paar Wochen nach dem Unfall – auf eine Passage, in der ein jungen Mann den Antritt seiner Reise in eine Lungenheilanstalt schildert:
„Er war erleichtert gewesen, als der Zug endlich abfuhr. Nicht, dass er sich nach dem Tod sehnte, das nicht, aber es war ihm in diesem Moment egal, ob er nun sterben würde oder ob er noch einmal zurückkehren würde, eine Gleichgültigkeit breitete sich in ihm aus, die mit jedem der vielen Kilometer, die ihn von seiner Heimat entfernten, stärker wurde. Er empfand seine Trennung von der Welt so deutlich, dass er den Tod als eine fast angenehme, seine Gedanken mit Befriedigung erfüllende, den Körper vollständig entspannende Aussicht ansah. Ein verdienter Schlaf nach langer unnützer Arbeit, die Apathie eines Sonnenuntergangs, die einen rastlosen Tag in Frieden verabschiedete, um der stillen unbeweglichen Nacht zu weichen.“
Ich begann, über meinen Unfall zu schreiben und landete beim Nachdenken auf langen Wanderungen und Radtouren und später beim Schreiben immer wieder bei Lothar und seinem Selbstmord.
Albert Camus hat in „Der Mythos von Sisyphos“ geschrieben: „Ein Selbstmord kann vielerlei Ursachen haben und im Allgemeinen sind die sichtbarsten nicht eben die wirksamsten gewesen. Ein Selbstmord wird selten aus Überlegung begangen (obwohl diese Hypothese nicht ausgeschlossen ist). Meist löst etwas Unkontrollierbares die Krise aus. Die Zeitungen sprechen dann oft von ‚heimlichem Kummer‘ oder von ‚unheilbarer Krankheit‘. Diese Erklärungen haben ihre Geltung. Man müsste aber wissen, ob nicht am selben Tage ein Freund mit dem Verzweifelten in einem gleichgültigen Ton gesprochen hat. Das ist der Schuldige. Dergleichen kann nämlich genügen, um allen Ekel und allen latenten Überdruss auszulösen.“
Um Lothar stand es womöglich noch schlimmer: Er war so weit weg, dass nicht einmal ein Freund in gleichgültigem Ton mit ihm gesprochen haben wird. Er lebte allein in der Fremde, war ein Fremder unter Fremden. Freilich hatte er Kontakte und Bekannte in Montréal, aber um zu Freunden zu werden, fehlte etwas Entscheidendes: eine geteilte Vergangenheit und gemeinsame Erfahrungen. „Innere Vorräte an Unglückserfahrungen“, heißt es bei Negt und Kluge, „sind dann am explosivsten, wenn ihnen menschliche Berührungsfläche fehlt, wenn sie in sich rotieren.“
Monate vor seinem Tod hat er einer jungen Frau, die ihn auf der Straße um ein paar Dollar angebettelt hatte, sein Gästezimmer angeboten und ihr Unterschlupf gewährt. Zu spät merkte er, dass sie ein Junkie war. Sie bestahl ihn, machte alles zu Geld, um an den nächsten Schuss zu kommen. Verschiedentlich fragte er mich um Rat, wie er sich verhalten könne und solle, und ich riet ihm, Therapie und Rettung dieser Frau dafür qualifiziertem Personal und Institutionen zu überlassen. Das übersteige erfahrungsgemäß die Möglichkeiten eines einzelnen Menschen. Ich erinnerte ihn an eine Fabel von Äsop, deren bitterer Erfahrungsgehalt mir aus meiner Arbeit im Gefängnis vertraut ist: Ein Wanderer findet im Winter eine Schlange, die – vor Kälte erstarrt – dem Tode nahe ist. Er hebt sie auf und wärmt sie an seiner Brust. Kaum zu Bewegung erwacht, beißt die Schlange ihren Lebensretter: „Undankbare!“, ruft er sterbend. „Du wusstest, dass ich eine Schlange bin“, erwidert sie, die nun auch in der Kälte zugrunde gehen wird. Lothar hatte sich aber bereits zu weit eingelassen und schreckte davor zurück, die Polizei um Hilfe zu bitten. Der Versuch zweier Außenseiter der Gesellschaft, sich gegen die Kälte zusammenzuschließen und ihre Einsamkeiten in der Hoffnung zusammenzuwerfen, dass etwas Gemeinsames daraus entstehen könnte, scheiterte kläglich. Er war schließlich erleichtert, als er sie nach schier endlosem Hin und Her, großen menschlichen Enttäuschungen und finanziellen Einbußen aus der Wohnung geworfen hatte. Die schmerzlichen Erfahrungen mit der Junkie-Frau verarbeitete er zu einer Geschichte, die er Das Biest überschrieb. Es ist, soweit ich weiß, der letzte abgeschlossene Text von Lothar.
Nachdem er eine Zahnentzündung verschleppt hatte, war schließlich der ganze Kiefer vereitert und es mussten ihm sämtliche Zähne gezogen werden. „Die Symbolik dieses Aktes wiegt schwerer als der reale Verlust der Zähne und die vorübergehenden Schmerzen: Man büßt die Fähigkeit zum Zubeißen ein, fühlt sich depotenziert“, schrieb er.
Im Dezember 2003 reiste er noch einmal nach Deutschland, um in Hannover einen Literaturpreis entgegenzunehmen. Er freute sich über die Anwesenheit des Jurymitglieds F.C. Delius und seiner Verlegerin Antje Kunstmann, die im Jahr 2000 sein letztes großes Buch Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung herausgebracht hat. Er fand die Laudatio der Kritikerin Sibylle Kramer ganz passabel und hielt die übliche Dankesrede. In der Eingangshalle der Volkshochschule besichtigte er ein Gemälde, auf dem zwei Hannoversche Außenseiter und Verfolgte zu sehen sind: Theodor Lessing und Peter Brückner.
Im Februar 2004 erreichte ihn die Nachricht aus Deutschland, dass sich der Mann seiner Nichte an einem Apfelbaum im Garten aufgehängt hat.
Er setzte sich ans Fenster und sah den Straßenkatzen zu, die hinter dem Haus durch den Schnee strichen. In den Nächten erstanden die alten Quälgeister auf, die er aus der Zeit in Südfrankreich noch in schmerzhafter Erinnerung hatte. Selbst das Schreiben – der Gravitationspunkt seines Lebens – bot keine Zuflucht mehr. In seinem Essay „Vom Schreiben leben“ hatte er diesen Zustand als äußerste Zuspitzung der Krise und schlimmste Befürchtung geäußert: „Und wenn die Arbeit, die einen daran zu hindern scheint, ganz aus der Welt herauszufallen, immer schwerer wird, wenn diese letzte Verbindung zu zerreißen droht.“
Da war am Ende nichts Schützendes und Haltendes mehr.
Da war keiner mehr und niemand und nichts.
Eine berührungslose Leere.
Am 11. Juli 2004 fand man Lothar Baier erhängt in seiner Wohnung in Montréal. In einem Essay über Jean Amérys Buch „Hand an sich legen“ hatte er Jahre zuvor einen Kommentar zu einer Tagebucheintragung Cesare Paveses zitiert, der möglicherweise auch auf ihn selbst zutrifft: „Es scheint ihm, dass es bereits zu spät ist und dass er endgültig in einem Suizidantenleben dahindämmert; doch im Sommer des gleichen Jahres … findet er das Wollen intakt und führt es aus. Durch diese Tat rettet er sein Leben.“
„Ach, hätte ihn doch sein verdammter Stolz nicht daran gehindert, nach Deutschland und Frankfurt zurückzukehren“, denke ich manchmal. Es war, als wolle er demonstrieren, dass die Beziehung zu einer Frau nicht darüber zu entscheiden hat, wo er lebt und arbeitet. Den Triumph seiner reumütigen Rückkehr nach Deutschland wollte er uns allen, vor allem aber „der Ex“ – so sprach er von ihr in seinen Briefen – nicht gönnen: „Sie soll sehen, dass sie mich nicht aus diesem Land vertreiben kann! Jetzt bleibe ich erst recht!“
Vielleicht hätte ein in Deutschland wieder repariertes Netz aus gekappten alten Bindungen, verstärkt durch neu eingegangene Freundschaften und solidarische Beziehungen, seinen Sturz aus der Welt aufhalten können. Auf der vor seiner Auswanderung verbrannten Erde hätte schnell wieder etwas wachsen und gedeihen können. Freundschaften und mit anderen geteilte Ziele im Leben sind die beste Verteidigung gegen Verzweiflung und Tod.
Wir würden dann am 16. Mai bei französischem Rotwein und von Lothar zubereitetem Kichererbsen-Salat gemeinsam seinen 70. Geburtstag feiern.
Stattdessen findet nun am Mittwoch, den 16. Mai um 20 Uhr in der Frankfurter Villa Orange, Hebelstr. 1 eine Veranstaltung des Hessischen Literaturforums unter dem Titel Lothar Baier zu ehren statt, auf der Autoren, Verleger, Journalisten an den Essayisten, Publizisten, Schriftsteller und Übersetzer Lothar Baier erinnern wollen.