Das hatte es in der jüngeren Geschichte noch nie gegeben. Vor 50 Jahren, am 30. April 1975, geriet eine Supermacht in Panik: Ihr diplomatisches Corps und ein Tross vietnamesischer Lakaien rauften sich auf dem Dach der US-Botschaft in der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon um die letzten Helikoptersitze in die Freiheit. So überstürzt die Evakuierung eines gedemütigten Uncle Sam verlief, so diszipliniert marschierten gleichzeitig die siegreichen Verbände der Nationalen Befreiungsfront (FNL) in die Stadt ein, die später in Ho-Chi-Minh-City umbenannt werden sollte. Die „Arroganz der Macht“ hatte einen argen Dämpfer bekommen. Es war J. William Fulbright, der diesen Begriff in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des US-Senatskomitees für Auswärtige Beziehungen auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs Mitte der 1960er-Jahre geprägt hatte. Eine Nachbetrachtung unseres Südostasienexperten Rainer Werning.
Hätten die großen Amerikaner auf ihren kleinen NATO-Verbündeten Frankreich gehört und sorgfältig dessen Debakel in Dien Bien Phu studiert, wo die frühere Kolonialmacht bereits 1954 eine herbe Niederlage im Kampf gegen die von Ho Chi Minh und seinem genialen Strategen, General Vo Nguyen Giap, geführten vietnamesischen Widerstandskämpfer einstecken mussten, wäre auch ihnen selbst großes Leid erspart geblieben. Der Krieg forderte schließlich weit über drei Millionen Todesopfer – zwei Millionen vietnamesische Zivilisten, über eine Million nordvietnamesische Soldaten, über 200.000 südvietnamesische Soldaten sowie annähernd 41.000 in Kampfhandlungen ums Leben gekommene GIs. Von der Verwüstung ganzer Landstriche Vietnams und der Nachbarländer Kambodscha und Laos ganz zu schweigen! Und all das, obgleich US-Luftwaffengeneral Curtis E. LeMay seinerzeit schwadroniert hatte, „Vietnam in die Steinzeit zurückzubomben”. So warf die US-Luftwaffe allein in den ersten drei Kriegsjahren 2,5 Millionen Tonnen Bomben auf das Land ab – mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Bereits 1968 waren 40 Prozent der nordvietnamesischen Orte zerstört, und dennoch war kein amerikanischer Sieg in Sicht.
„Wir haben uns geirrt, schrecklich geirrt”
Robert S. McNamara, von 1960 bis 1968 US-Kriegsminister, später Weltbank-Präsident und neben den damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson und Richard M. Nixon sowie dem Ex-Sicherheitsberater und späteren Außenminister Henry Kissinger einer der Hauptverantwortlichen für diese Apokalypse, musste später in seinen Memoiren bitter konstatieren:
„Menschen können sich irren. Ich gebe mit schmerzhafter Offenheit und schweren Herzens zu, dass diese Gemeinsamkeit, bezogen auf Vietnam, auch auf mich und die amerikanische Führungselite meiner Generation zutrifft. Wir haben uns geirrt, schrecklich geirrt.”
Eine stupende Einsicht. Letztlich ernüchternd und beklemmend nur, dass diese mit Blick auf weitere US-imperialistische Angriffskriege gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Jemen gänzlich folgenlos blieb!
„Eine menschenwürdigere Welt aufbauen“
Diese Zeilen schrieb die 1960 in Hanoi geborene Schriftstellerin Pham Thi Hoai in ihrem Vorwort zu dem 1997 erschienenen Buch „Vietnam – Die neue Zeit auf 100 Uhren“.
„Der Fall von Saigon war eine Selbstverständlichkeit, der Krieg eine Auszeichnung und ich eine Tochter eines auserwählten Volkes, das gelitten und gesiegt hatte, um eine menschenwürdigere Welt aufzubauen. Der Stolz war kurzlebig, aber wir glaubten an eine lebenslange Garantie. Nach drei Monaten ließen die Umerziehungslager erste Zweifel aufkommen. Nach drei Jahren häufte sich mit den Steinchen in der täglichen Schale Reis die Enttäuschung. Nach fünf Jahren versank ein beträchtliches Guthaben an nationalem Stolz mit Hunderttausenden boat people im Meer. Der gewonnene Krieg sprach alles immer wieder frei. (…) Heute ist die Welt anderswo vielleicht menschenwürdiger geworden – mein auserwähltes Volk schreitet weiter einsam und unerschütterlich in Armut, Korruption und Unterdrückung voran.“
„Schafft zwei, drei, viele Vietnam!“ hatte der Arzt und langjährige Weggefährte Fidel Castros, Ernesto Che Guevara, der wachsenden antiimperialistischen Bewegung im Trikont als Vademecum empfohlen, bevor er selbst im Sommer 1967 im bolivianischen Dschungel den Tod fand. In nahezu sämtlichen westlichen Metropolen skandierten derweil aufgebrachte Gegner der US-amerikanischen Aggression in Indochina den Schlachtruf „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!“ Nordvietnams Präsident Ho Chi Minh galt als Ikone des Befreiungskampfes gegen die mörderische Kriegführung der selbsternannten Hüter von freedom & democracy. Es waren Arroganz der Macht, tödliche Heuchelei, manifester Rassismus und fadenscheinige Konstrukte zur Ehrenrettung des Abendlandes, die in den 1960er- und 1970er-Jahren weltweit zunehmend Protest und Widerstand unter den Jugendlichen und Studenten herausforderten. Vietnam und – mit der Ausweitung des Krieges auf die Anrainer – später auch Kambodscha und Laos dienten einer Generation als Metapher für den gerechtfertigten Kampf Davids gegen Goliath.
Die bereits unter der Präsidentschaft John F. Kennedys zu Beginn der 1960er-Jahre beschlossene militärische Eskalation nahm unter seinen Nachfolgern rasante Züge an, bis auf dem Höhepunkt des Krieges weit über eine halbe Million GIs allein in Vietnam stationiert waren. Hinzu kamen noch Zehntausende, die in den „geheimen Krieg“ in Laos und Kambodscha verstrickt sowie in den thailändischen und philippinischen Nachschubbasen in die Kriegsökonomie eingebunden waren. Auf den Schlachtfeldern Indochinas wurde, was an damaliger Perfidie und Perversion ausgeheckt worden war, auch real durchexerziert: von bakteriologischer bis hin zur meteorologischen Kriegführung. Wälder wurden systematisch entlaubt, Deiche durch künstlich erzeugten Regen zum Einsturz gebracht, und durch großflächiges Versprühen von Agent Orange kommt es noch heute zu Fehl- und Missgeburten. Während des Krieges wurden von der US-Luftwaffe und ihren südvietnamesischen Verbündeten über 70 Millionen Liter von Herbiziden über mehr als ein Zehntel der Landfläche versprüht, hauptsächlich das berüchtigte Agent Orange. Diese dioxinhaltige, hochgiftige Substanz entlaubte nicht nur Bäume, ruinierte Mangroven und machte Leute krank: Sie verursachte Krebs, schädigte die Erbanlagen und vernichtete den Lebensraum von Millionen Menschen.
Lehren aus einem „telegenen Krieg“
Vietnam war der erste „telegene Krieg“, dessen Brutalitäten weltweit täglich auf den Mattscheiben flimmerten. Das schürte Abscheu und Ablehnung, was den Militärstrategen in Washington zunehmend Legitimationsprobleme bescherte. Die Ver-Bildlichung des Krieges ließ die Schar der Kriegsgegner in einem Maße anschwellen, dass daraus die Lehre gezogen wurde, Kriege fortan nur noch klinisch-sanitär, als vermeintlich präzise chirurgische Eingriffe zu präsentieren: Bilder also, wie sie uns aus dem letzten Golfkrieg bekannt sind und uns während der NATO-Aggression gegen Jugoslawien sowie im Laufe des „Antiterror-Feldzugs“ in Afghanistan unablässig vorgegaukelt wurden.
Schließlich war Vietnam ein Hoffnungsträger par excellence: Sollte sich ein kleines, geschundenes Volk tatsächlich gegen die mächtigste Kriegsmaschinerie des Imperialismus behaupten, diese letztlich gar bezwingen, wäre damit für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten ein Fanal gesetzt und dem Projekt Befreiung ein beträchtliches Stück Realität erschlossen. Diese Erwartungshaltung hat weltweit und jahrelang zahlreiche Menschen beflügelt und auf die Barrikaden getrieben.
Wer geglaubt hatte, in Vietnam vollzöge sich nach jenem Frühling der Befreiung die Umgestaltung der Gesellschaft mit sozialistischem Antlitz, sollte allerdings schrittweise eines anderen belehrt werden. Wie häufig zuvor in der Geschichte bot die Eroberung staatlicher Herrschaft keine Garantie für einen strukturellen Wandel in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Befreiungsbewegungen, einmal an die Macht gelangt, sahen sich plötzlich mit dem weitaus schwierigeren Problem konfrontiert, diese auch im Sinne ihrer vermeintlichen Nutznießer, eben des Volkes, auszuüben. Da bildete selbst das heroische Vietnam, so schmerzlich das für seine zahlreichen Bewunderer sein mochte, keine Ausnahme.
Zerrieben sich zeitgleich beispielsweise die ebenfalls siegreichen Befreiungsbewegungen in Angola und Mosambik in mörderischen Fehden, schickte sich in Vietnam der sich als Gralshüter von Befreiung und Sozialismus begreifende Machtapparat der Kommunistischen Partei (KPV) an, dem langjährig unter den Fittichen der USA wildwüchsigen Kapitalismus im Süden einen Riegel vorzuschieben. Nicht zimperlich wurde mit allen verfahren, die sich aus vielfältigsten Gründen weigerten, sich freiwillig aus dieser Vergangenheit zu verabschieden und nicht hinnehmen mochten, dass im Zeitraffer der Süden gemäß dem nördlichen Ebenbild umgestaltet werden sollte. Bereits 1976 erfolgte die Umbenennung des wiedervereinigten Landes in Sozialistische Republik Vietnam.
Vietnam: Eine kurze Chronik (zusammengestellt von Rainer Werning):
1945: Nach dem Sieg über die japanischen Besatzer wird in der französischen Kolonie Vietnam die Demokratische Republik (DRV) proklamiert.
1946: Frankreich fällt erneut ins Land ein und okkupiert den Südteil.
1954: Französisches Expeditionskorps bei Dien Bien Phu vernichtend geschlagen. Genfer Indochina-Abkommen teilt das Land am 17. Breitengrad „bis zu gesamtvietnamesischen Wahlen“.
1955/1956: USA verhindern die Wahlen; setzen in Saigon Statthalter Ngo Dinh Diem ein, der im Süden die „Republik Vietnam“ ausruft.
1960: Nationale Front für die Befreiung Südvietnams (FNL) gegründet.
1962: USA greifen in die Kämpfe ein. Einsatz von Giftgas, Kugelbomben und Napalm. Streitkräfte der FNL befreien die Hälfte des Landes.
1964: Nach einer selbstinszenierten Provokation im Golf von Tonkin weiten die USA den Krieg auf die DRV aus.
1973: Pariser Abkommen über die Beendigung des Krieges verpflichtet die USA zum Rückzug ihrer Truppen und Saigon zur Respektierung der von der FNL befreiten Gebiete.
Weiterführende Lektüre
- Marc Frey (2006): Geschichte des Vietnamkriegs: Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München
- Bernd Greiner (2007): Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburg
- David Halberstam (1965): Vietnam oder Wird der Dschungel entlaubt? Reinbek bei Hamburg
- Stanley Karnow (1997): Vietnam. A History. New York
- Gabriel Kolko (1994): Anatomy of a War: Vietnam, the United States, and the Modern Historical Experience. New York
- Robert S. McNamara und Brian VanDeMark (1996): Vietnam: Das Trauma einer Weltmacht. (2. Aufl.) Hamburg
- Walter Skrobanek (2008): Nach der Befreiung: Damit ihr wisst, dass das Leben weitergeht. Tagebuch aus Vietnam 1975. Unkel/Bad Honnef
- Nick Turse (2013): Kill Anything That Moves. The Real American War in Vietnam. New York
- Rainer Werning: Rezension des Buches von Heinz Kotte & Rüdiger Siebert: Vietnam – Die neue Zeit auf 100 Uhren. Göttingen 1997
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