Bei den Sozialdemokraten haben Verfechter des Friedens einen schweren Stand. Arno Gottschalk, Abgeordneter in der Bremischen Bürgerschaft, ist einer von nur noch wenigen in der Partei, die glaubhaft und hörbar gegen Militarismus, für Abrüstung und Diplomatie eintreten. Im Interview mit den NachDenkSeiten spricht er über die Schwächen der Friedensbewegung, eine SPD im Panikmodus und Friedrich Merz als Sicherheitsrisiko. Das Gespräch mit ihm führte Ralf Wurzbacher.
Zur Person
Arno Gottschalk, Jahrgang 1956, ist Sprecher für Haushalt und Finanzen der SPD-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft sowie Mitglied des Landesvorstandes. Gottschalk hatte jüngst beim Ostermarsch in Bremen eine beachtenswerte Rede gegen Krieg, Aufrüstung und die forcierte innere Militarisierung der Gesellschaft gehalten.
Ralf Wurzbacher: Herr Gottschalk, Deutschland rüstet in irrwitziger Dimension auf, die ganze Gesellschaft wird mental auf Kriegstüchtigkeit getrimmt, der künftige Kanzler will die Ukraine mit deutschen Raketen versorgen, die bis nach Moskau reichen. Vielleicht stand die Menschheit noch nie näher vor der atomaren Vernichtung. Aber echter, massenhafter Protest in der Bevölkerung bleibt aus. Warum ist die deutsche Friedensbewegung so schwach?
Arno Gottschalk: Die Friedensbewegung ist nicht verschwunden, aber sie hat es heute schwer. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird jeder, der für Diplomatie und Abrüstung eintritt, schnell als naiv oder Putin-Freund diffamiert. Das schreckt viele ab. Hinzu kommt: Jüngere Generationen, die nach 1980 geboren sind, haben den Kalten Krieg nicht mehr erlebt. Die Bedrohung durch atomare Aufrüstung ist für viele abstrakt.
Ein Grund ist auch der Kurswechsel der Grünen: Wo früher Umwelt- und Friedensengagement zusammengehörten, dominiert heute bei vielen die Fixierung auf Putin als Feindbild – auf Kosten einer kritischen Auseinandersetzung mit Aufrüstung und der Verschwendung von Mitteln, die wir dringend für Klima- und Umweltschutz bräuchten. An der Überwindung dieser Schwächen müssen wir arbeiten. Die Mehrheit will keinen Krieg – wir müssen ihr wieder eine Stimme geben.
Muss es also erst richtig knallen, bis die Menschen aufwachen?
Wenn es erst knallt, ist es zu spät – dann stehen wir vor der Katastrophe. Gerade deshalb müssen wir jetzt warnen.
Welche Rolle spielen die Medien bei all dem?
Eine zentrale. Viele Medien haben sich vom kritischen Journalismus entfernt und wirken heute eher als Verstärker der Aufrüstungspolitik. Abrüstung, Diplomatie oder NATO-Kritik finden kaum noch statt. Das verengt den Debattenraum dramatisch.
Was trauen sie dem wohl künftigen deutschen Regierungschef Friedrich Merz (CDU) so alles zu? Wird er grünes Licht für die Lieferung der Taurus-Marschflugkörper geben?
Der Einsatz von Taurus wäre eine direkte Kriegsbeteiligung Deutschlands – mit unkalkulierbaren Eskalationsrisiken. Außerdem wäre Taurus kein Gamechanger. Viel Risiko, wenig erkennbarer Nutzen. Ich hoffe, dass auch Friedrich Merz das erkennt.
Und wenn nicht? Und was erst, wenn die Ukraine demnächst mit Taurus auf Moskau feuert? Was passiert dann?
Moskau wird versuchen, die Raketen – wie schon britische und französische – abzufangen und zu zerstören. Sollte ein Einsatz größere Wirkung zeigen, droht Vergeltung. Die Eskalationsdominanz liegt weiterhin klar auf russischer Seite.
Spricht so ein „Putin-Versteher“?
Nein. Es geht nicht darum, Putin zu verstehen, sondern die Risiken realistisch einzuschätzen.
Viel versteht offenbar auch Olaf Scholz nicht. Bis auf Taurus ist er bislang noch jede Eskalation des Ukraine-Kriegs mitgegangen. Und dann setzt er quasi per „Staatsstreich“ und finaler Amtshandlung das größte Aufrüstungsprogramm der deutschen Geschichte ins Werk. Was verstehen Sie persönlich unter „staatspolitischer Verantwortung“?
Olaf Scholz hat sich lange um Besonnenheit bemüht – ohne ihn wären viele Eskalationsschritte vermutlich schneller erfolgt. Dafür wurde er als „Bremser“ diffamiert. Das erste 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr war wohl auch ein politischer Entlastungsschlag. Die praktisch vollständige Öffnung der Schuldenbremse für Rüstung ist das Werk der neuen Koalition. Doch staatspolitische Verantwortung heißt nicht, jedem Druck nachzugeben – sondern kühlen Kopf zu bewahren. Warum Scholz ohne erkennbare Gegenwehr die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen unterstützt hat, bleibt mir unverständlich. Das ist ein gefährlicher Kurswechsel.
Der dazu ohne jede parlamentarische Beteiligung und bar jeder öffentlichen Diskussion einfach durchgezogen wurde. Hat Demokratie in Krisenzeiten ausgedient?
Nein, gerade in Krisenzeiten muss Demokratie besonders wachsam verteidigt werden. Entscheidungen von solcher Tragweite – wie die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen – dürfen nicht im Schatten informeller Zusagen getroffen werden. Sie gehören ins Parlament und in die öffentliche Debatte.
Ich frage mich allerdings auch, welche ausführlicheren vertraglichen Regelungen es auf Regierungsebene zwischen den USA und Deutschland überhaupt gibt. Eine bloße politische Zustimmung Deutschlands am Rande eines NATO-Gipfels kann eigentlich nicht alles sein. Bei einer Entscheidung von solcher Dimension müsste es klare, rechtlich bindende Regelungen geben – zu Zahl, Stationierungsort, Kontrolle und Einsatz der Waffen. Alles andere wäre nicht nur fahrlässig und demokratietheoretisch höchst fragwürdig – es würde auch die Frage aufwerfen, wie es um die souveräne Entscheidungsfähigkeit Deutschlands in sicherheits- und friedenspolitischen Fragen tatsächlich bestellt ist.
Was halten Sie von der These, Moskau bereite einen Schlag gegen Europa vor?
Der Ukraine-Krieg zeigt, wie schwer sich Russland schon dort tut. Ein Angriff auf NATO-Staaten wäre ein völlig anderes Kaliber – militärisch aussichtslos. Die NATO ist Russland schon jetzt in allen konventionellen Bereichen deutlich überlegen. Die Warnungen vor einem möglichen Angriff dienen vor allem der Angstmache und sollen massive Aufrüstung rechtfertigen.
Aber Ihre Partei ist für die allgemeine Panikmache sehr empfänglich, oder täuscht der Eindruck?
Viele in der SPD sind durchaus empfänglich für die Botschaft, dass Deutschland mehr bei der Verteidigung tun müsse – vor allem mit Blick auf einen möglichen Rückzug der USA. Aber von einer bellizistischen Grundstimmung, wie man sie teils bei den Grünen sieht, ist die Partei weit entfernt. Gerade an der Basis, besonders bei älteren Genossinnen und Genossen, gibt es eine kritischere Haltung. Diese Stimmen müssen lauter werden.
Damit Scharfmacher wie etwa der inner- und außerhalb der SPD so beliebte und wohl bleibende Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius nicht mehr zu hören sind?
Es geht nicht darum, Stimmen zum Schweigen zu bringen. Aber es geht darum, das politische Gleichgewicht wiederherzustellen. Eine fundamentale Erkenntnis der Entspannungspolitik war: Verteidigungsfähigkeit ist notwendig, reicht allein aber nicht aus. Sie muss durch Diplomatie, Entspannung und Rüstungskontrolle ergänzt werden. Nur so entsteht eine dauerhafte und stabile Sicherheit. Gerade diese Perspektive muss in der SPD wieder deutlich hörbar werden.
Sie schreiben auf Ihrem Weblog, warum Sie in der SPD wirken: Weil sie „im Kern für das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit steht, weil sie die Partei friedlicher Konfliktlösungen ist“. Sind Sie vielleicht selbst nur naiv?
Nein, ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass politische Realität widersprüchlich ist – auch in der SPD. Aber genau deshalb bin ich dort: Weil ich für soziale Gerechtigkeit und friedliche Konfliktlösungen streiten will, in der Partei, nicht daneben. Ohne die SPD, davon bin ich weiterhin überzeugt, wird es keine neue breite Orientierung am Prinzip gemeinsamer Sicherheit und dem Vorrang für nicht-militärische Konfliktlösungen geben.
Aber wo bleibt wohl die soziale Gerechtigkeit, wenn Deutschland mit SPD-Segen künftig Billionen für Waffen verpulvert?
Zunächst soll das Spannungsverhältnis zwischen steigenden Rüstungsausgaben und sozialen Ansprüchen durch Kreditfinanzierung kaschiert werden. Aber das wird nicht lange gutgehen. Mit zunehmender Verschuldung wächst – nicht zuletzt wegen der europäischen Fiskalregeln – der Spardruck, und er wird sich auf zivile Bereiche wie Bildung, Pflege, Klimaschutz und soziale Absicherung entladen. Soziale Gerechtigkeit und massive Aufrüstung passen auf Dauer nicht zusammen. Und die SPD muss sich entscheiden, wofür sie steht.
Was muss passieren, damit sich schlimme Befürchtungen mit Blick auf Krieg und forcierten Sozialabbau nicht bewahrheiten – in und mit der Gesellschaft, in und mit der SPD?
Es braucht eine breite gesellschaftliche Verständigung darüber, was Sicherheit im 21. Jahrhundert eigentlich bedeutet – jenseits von Waffen und Abschreckung. Und in der SPD muss klar werden: Wer soziale Gerechtigkeit ernst meint, kann auf Dauer keinen Kurs mittragen, der öffentliche Mittel in immer neue Rüstungsschleifen lenkt. Die Partei muss wieder zum Ort werden, an dem über Alternativen zur Militarisierung gestritten wird – und nicht nur über deren Finanzierung.
Und wenn es anders kommt?
Dann droht die SPD ihre Seele zu verlieren.
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