Angela Merkel auf dem DGB-Kongress: Ehrliche Analyse, aber stures Festhalten an den alten Rezepten
Das muss man der Kanzlerin einräumen, ihre Rede auf dem DGB-Bundeskongress war ehrlicher in der Beschreibung der Realitäten in diesem Lande und zurückhaltender in der „Reformrhetorik“ als die „ex Cathedra“ -Verkündigungen des Bundespräsidenten. Das war schon ein mutiges Eingeständnis von Angela Merkel, „Menschenwürde“ und „Soziale Marktwirtschaft“ hätten „nur noch in Teilen etwas mit unserer Realität zu tun.“ Aus dieser Einsicht folgte aber nichts als das sture Festhalten an den alten Rezepten.
Die Rede war aber ein Musterbeispiel für die Unfähigkeit der Regierung, ihren eingeschlagenen Kurs selbstkritisch zu hinterfragen.
„Menschenwürde“ und „Soziale Marktwirtschaft“, „haben diese Worte noch etwas mit unserer heutigen Realität zu tun?“, fragte Angela Merkel zu Beginn ihrer Rede. „Meine ehrliche wie sicherlich auch ernüchternde Antwort lautet: Nur noch in Teilen hat das etwas mit unserer Realität zu tun. Dazu reicht der Blick auf die Realität, dazu reicht jede Bestandsaufnahme. Fast fünf Millionen Arbeitslose in unserem Land, eine nicht immer gesicherte Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme, zu viele junge Menschen, die keinen Ausbildungsplatz haben, insgesamt rasante Veränderungen unserer Rahmenbedingungen durch die Globalisierung – das ist der Befund.“
Und weiter:
„Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen erlebt die reale Umsetzung der Sozialen Marktwirtschaft so, wie sie heute ist, in der Praxis ganz anders. Die Menschen erleben auf der einen Seite solche, die Erfolg haben und denen alles an Veränderungen nicht schnell genug gehen kann, und sie erleben auf der anderen Seite diejenigen, die Angst und Sorge haben, einfach auf der Strecke zu bleiben. Die Menschen erleben Spaltungstendenzen zwischen Ost und West, zwischen Menschen ohne Arbeit und Menschen mit Arbeit, zwischen Älteren und Jungen.
Ich sage ganz eindeutig: Damit dürfen wir uns nicht abfinden.“
Endlich wenigstens mal eine ehrliche Bestandsaufnahme aus verantwortlichem Munde, denkt man sich und hofft auf selbstkritische Einsichten:
Leider Fehlanzeige, es folgt die bekannte alte Litanei: „Wir brauchen Veränderungen“, „wir müssen die Dinge auf den Prüfstand stellen.“
Und dann: „Wer sich nicht den richtigen Fragen stellt, wird zum Schluss selbst infrage gestellt.“ Warum richtet Angela Merkel diese Frage nicht an sich selbst, sondern nur an die Adresse der Gewerkschaften? Da gab es zu Recht Pfiffe.
Warum stellt die Kanzlerin nicht die Frage, welcher politische Kurs dazu geführt hat, dass die „Menschenwürde“ und die „Soziale Marktwirtschaft“ „nur noch in Teilen etwas mit der Realität“ zu tun haben.
Haben wir nicht seit Jahren „unsere Haushalte saniert“ (Merkel)? Hat nicht Hans Eichel gespart und gespart und musste Jahr für Jahr neue Schulden machen?
Heißt es nicht seit zwanzig Jahren „Es führt kein Weg an Strukturreformen vorbei“ (Merkel)? Was haben denn die Strukturreformen von Lambsdorff bis Schröder gebracht?
Wird nicht spätestens seit der Agenda 2010 behauptet: „Der Transfer der alten Sozialstaatlichkeit (sei) so nicht möglich.“ (Merkel) Hat denn der bisherige Abbau der Sozialstaatlichkeit, das Kurieren an Symptomen, wie die unendlichen Arbeitsmarktreformen, die eine Gesundheitsreform nach der anderen, die unzähligen Rentenreformen nicht eher dazu geführt, dass sich die von Merkel anfangs beklagte Realität eingestellt hat?
Merkel fordert weitere „Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt“, ein „Mehr an Flexibilität“, mehr „Gestaltungsmöglichkeiten“ bei den Tarifverträgen. Die deutsche Mitbestimmung müsse den „europäischen Regelungen Rechnung“ tragen. „Lohnzusatzkosten“ müssten gesenkt werden. Sie plädiert für einen (differenzierten) „Kombilohn“ – eben die übliche Erhöhung der Dosis der angebotsorientierten Glaubenssätze ihrer schönen „neuen Soziale Marktwirtschaft“.
Haben die bisherigen „Flexibilisierungen“, die längst praktizierten „Gestaltungsmöglichkeiten“, die jahrelange Senkungen des gesamten Lohnaufwandes nicht gerade dazu geführt, dass die Menschenwürde und die Soziale Marktwirtschaft in der Realität „nur noch in Teilen“ anzutreffen sind?
Wenn Angela Merkel ihre auf dem Gewerkschaftskongress geäußerte Sorge um die Menschenwürde wirklich ernst nehmen würde, dann hätte sie jedenfalls der DGB-Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro nicht so eine brüske Absage erteilen dürfen. Auf die erregte Frage des mit einem mäßigen Ergebnis bestätigten DGB-Vorsitzenden, Michael Sommer, warum gerade nur in Deutschland der Mindestlohn Arbeitsplätze kostete, in Dutzenden von anderen Ländern aber nicht, blieb Merkel eine Antwort schuldig.
Die Rede der Kanzlerin war, wie gesagt, ein Eingeständnis, dass der bisherige Kurs der Politik die Soziale Marktwirtschaft und damit die Menschenwürde zunehmend in Frage gestellt hat. Sie ist aber gleichzeitig ein Musterbeispiel, dafür, dass die Große Koalition unfähig ist, daraus irgendeine selbstkritische Konsequenz zu ziehen, und ein weiterer Beweis dafür, dass der Kanzlerin nichts anderes einfällt, als diesen Kurs beizubehalten, ja sogar noch härter auf diesen Kurs einzuschwenken.
Mal sehen, wie eine ehrliche Analyse der Bundesregierung in Sachen Menschenwürde und Soziale Marktwirtschaft auf dem nächsten DGB-Kongress in vier Jahren aussehen wird. Statt „nur noch in Teilen“, haben „diese Worte“ wie Menschenwürde und Soziale Marktwirtschaft dann nach aller Voraussicht überhaupt nichts mehr mit der Realität zu tun.