Mit einem russischen Lied gelingt, was seit Jahren in unserer mehr und mehr sinnlos militarisierten Gesellschaft schwierig bis unmöglich erscheint: eine Brücke gen Russland zu bauen. Ein unverdächtiges, ein gemeinsames Gefühl westeuropäischer und osteuropäischer, russischer Menschen (Kinder und Jugendliche auf dem ganzen Kontinent!) wird beim Singen von „Sigma Boy“ geweckt. Ist das ein Anfang für Entspannung, auch auf anderen Ebenen? Die Front zwischen uns wird noch aufrechterhalten, es geht gegen das russische Lied, gegen Russland, gegen die Russen selbst, jung und alt. Dabei ist es längst Zeit, das zu ändern. Verhandlungen für einen Waffenstillstand, vielleicht für einen baldigen Frieden laufen. Eine Normalisierung für das Zusammenleben der Zivilgesellschaften muss auf den Weg gebracht werden. Kinder und Jugendlichen haben es vielleicht schon längst begriffen. Sie singen über Grenzen und Frontlinien ihren Hit. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
Ein Lied als Waffe der Russen? Unsere Kinder und Jugendlichen empfinden das nicht so
Die unwiderstehliche Präsenz und Beliebtheit des Liedes „Sigma Boy“ in Deutschland offenbart, dass eine gewollte Verbindung, ein Miteinander, ein Nebeneinander trotz aller Feindpflege immer noch oder besser wieder (?) möglich ist und wieder Alltag werden sollte. Doch weht den guten Absichten ein eisiger Gegenwind von den politischen und medialen Bellizisten samt ihrem Gefolge entgegen. Die sagen, damit man‘s kapiert: Russland ist und bleibt der Feind, ist eine Bedrohung. Der Russe ist schlecht, ist und bleibt ausgeschlossen. Nichts ist‘s mit Wirtschaft, Gesellschaft, Sport, Kultur, Kunst. Das größte Land der Welt – raus aus der Gemeinschaft, und die Menschen (übrigens eine Vielvölkergemeinschaft) dort in Russland gleich mit. Gegen diese Menschen müssen wir uns verteidigen und aufrüsten, was das Zeug hält, wird uns pausenlos eingebläut. Logisch ist bei diesem Blockade-Denken auch zu sagen, dass das bei uns beliebte Liedchen in Wahrheit eine raffinierte akustisch-informelle Waffe gegen den Wertewesten sei und unsere freie Gesellschaft unterwandert. Wie konnte das nur passieren, dass „Sigma Boy“ von deutschen Kids gesungen wird?
Der russische Ohrwurm, der auf jeder deutschen Kinderparty tönt – Zeichen der Hoffnung
Mensch, letztens habe ich sogar selbst Sigma, Sigma … gesungen, obwohl ich den Refrain nicht wirklich fetzig finde. Ich bin, zugegeben, ein konservativer Hörer und Musikfreund, der lieber solide Songstrukturen und Harmonien mag und nicht wirklich versteht, wie das junge Publikum tickt. Mich fasziniert aber umso mehr, wenn ich sehe, wie die Kids „abgehen“ bei ihrer Musik, bei ihren Clips und eben auch bei dem russischen Hit. Es ist einfach Musik, die Menschen erreicht. Und ja, auch mich erfasst „Sigma Boy“ deshalb ebenfalls ein wenig – bei aller Kunst oder trotz Kitsch auch aus politischen Gründen. Allein die für uns Deutsche interessante Tatsache, dass „verhasste“ russische Musik aus deutschen Lautsprechern tönt und dazu noch laut mitgeträllert wird, weckt bei mir Hoffnung in dieser finsteren, kriegsertüchtigten Zeit. Das Lied, das bei uns ertönt, hat etwas Verbindendes, lässt nach vorn blicken. Eine potenziell friedliche Zukunft hat für mich mit dem Lied – ein bisschen wenigstens – begonnen. Ich wünschte, die Waffen schwiegen endlich auch bald im Krieg zwischen Ukraine und Russland.
Sigma Boy ist nur ein Popsong, keine ideologische Waffe und kein pädagogisches Meisterwerk
Denen, die das Lied inhaltlich und politisch „auseinandernehmen“, sei gesagt: Es ist ein Pop-Song. Der Song wird von zwei russischen Teenagerinnen gesungen, Betsy (Swetlana Tschertischtschewa) aus Sankt Petersburg und Маria (Anna-Maria Iankovskaya) aus Moskau. In sozialen Medien erfuhr ich, dass die Mädchen musikalische Eltern haben, musikalisch gut ausgebildet sind und über „Sigma Boy“ hinaus weitere Hits in ihrer russischen Heimat landeten. Inhaltlich singen sie ihre Bewunderung zu einem Jungen heraus und äußern ebenso ihre Zweifel, so wie derlei in zig anderen Pop-Songs auf dem Planeten getextet wird. Geradezu lächerlich finde ich die Behauptung, dass mit dem russischen Lied weltanschaulich Werbung eines überlegenen Männerbildes transportiert werden soll. Eine deutsche Europaabgeordnete befürchtet das:
Doch der poppige Song ist mittlerweile politisch geworden. So äußerte die deutsche Europaabgeordnete Nela Riehl im Dezember in Strassburg die Befürchtung, dass der Song «patriarchalische und prorussische Weltanschauungen» vermittle. Das Phänomen sei ein Beispiel für die «russische Unterwanderung» des öffentlichen Diskurses durch soziale Medien.
(Quelle: Tagesanzeiger)
Die Erfolgsgeschichte geht trotzdem weiter – in Deutschland mit einer neuen Version
Während in Russland zwei Mädchen aus Sankt Petersburg und Moskau von einem Jungen schwärmen, hat in Deutschland die Sängerin Lavinia das Lied sogar neu interpretiert. Im Doppelpack verbreitet die virale Popularität des Songs weiterhin viel positive Energie, die Melodie erklingt trotz „russischer Unterwanderungsversuche“. Dank Internet. Zig Millionen Mal wurde und wird das Lied im Internet angeklickt, Abschalten unmöglich.
Klangtrend wird von ESC-Kandidaten aufgenommen und Stefan Raab offenbart sich als Merz‘ Freund
Auch dieses Jahr findet wieder der Europäische Song Contest (ESC) statt. Russland ist seit 2022 gesperrt, Deutschland seit einigen Jahren Schlusslicht. Letzteres soll sich dieses Jahr ändern. Und Russland sollte längst wieder teilnehmen …
Dem Pop-Musikguru Stefan Raab wurde die Chefstelle für das Projekt ESC 2025 angetragen. Siehe da: Ein musikalischer Hochgenuss, ein schlichter deutscher Popsong mit Ohrwurm-Melodie plus philosophischer Titelzeile wird zum Titelrennen beim Europa Song Contest geschickt: „Baller, Baller, Baller. Es tut noch ein bisschen weh …“ Wer sich die Melodie, den Rhythmus, den Aufbau des Popsongs anhört, wird vielleicht entdecken, dass das Liedchen durchaus im gleichen Stil wie der Superhit „Sigma Boy“ produziert wurde – beim Russen geklaut sozusagen. Vielleicht hilft es dabei, beim ESC endlich wieder weiter vorn zu landen, werden sich die gewieften Macher gedacht haben. Kleiner Scherz: Mich freut es, dass deutsche Kulturschaffende russische Werke nutzen. Wie ich eingangs schon zu „Sigma Boy“ schrieb: Das Lied, das bei uns ertönt, hat etwas Verbindendes, lässt nach vorn blicken, eine friedliche Zukunft hat für mich damit ein bisschen begonnen.
Abschließend. Auch das ist ein Stück gelebte Normalität in diesen Zeiten, in denen das Kopfschütteln Konjunktur hat: Der geschätzte Stefan Raab gab bei der ESC-Show wieder mal ein eigenes Pop-Lied zum Besten. Wie es der Zufall wollte in Zeiten von Bundestagswahl und bevorstehender Ernennung eines Kanzlers, bei dem sich das Volk nicht sicher sein kann, ob es guten Zeiten entgegensieht, komponierte der Chefsache-Mann Raab für diesen Kanzlerkandidaten ein Extra-Lied mit dem Titel „Rambo Zambo“. Stefan Raab und Friedrich Merz singen und rappen und fragen darin ziemlich intellektuell: „Was ist Bubatz?“ Merz taucht im Video prominent auf der Leinwand auf, zur besten Sendezeit kostbarste Werbung für ihn, finde ich.
(Quelle: YouTube)
Die Moderatorin Barbara Schöneberger schwärmte ebenfalls und wusste zu berichten, dass im CDU-Adenauer-Haus in der Wahlnacht auf diesen schmissigen Song eifrig abgetanzt wurde. Ich hörte das Lied, ich schüttelte den Kopf, ich spürte eine geradezu Merz‘sche Unterwanderung patriarchalischer, christdemokratischer Weltsichten, die mir Schmerzen bereitete. Mir kamen Fragen in den Sinn: Wer finanziert so etwas? Und warum gerade jetzt? Okay, die Kunst ist frei, sollen sie machen. Ich habe das Smartphone in die Hand genommen, auf „YouTube“ kam „Sigma Boy“ ins Blickfeld. Ich klickte lieber das an.
Titelbild: Screenshot YouTube