Die Weltordnung im Wandel: Stephan Ossenkopp beschreibt in seinem Buch eine faszinierende multipolare Welt, in der der Globale Süden aufsteigt und traditionelle Machtstrukturen ins Wanken geraten. Er analysiert die Dynamik von BRICS, der Neuen Seidenstraße, der Shanghaier Organisation sowie anderer und wirft die Frage auf: Stehen wir vor einem Epochenwechsel, der unsere Zukunft grundlegend verändern wird? Eine Rezension von Éva Péli.
Mehr als 20 Jahre ignoriert, dann plötzlich diffamiert – so beschreibt Stephan Ossenkopp in seinem neu erschienen Buch über die “Multipolare Welt“ die Reaktion der deutschen Presse auf die Geschichte der Shanghai Cooperation Organisation (SCO). Es ist eines der größten Sicherheits- und Wirtschaftsbündnisses der Welt und repräsentiert Staaten mit mehr als 3,3 Milliarden Menschen. Der SCO-Gipfel in der kasachischen Hauptstadt Astana im Juni 2024 wie auch der BRICS-Gipfel (BRICS steht für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) im Oktober im russischen Kasan – Hauptstadt der Republik Tatarstan – seien von einer zentralen Idee bestimmt worden, so Ossenkopp. Aus Sicht des freien Journalisten und Experten für die multipolare Welt geht es um die Schaffung einer eurasischen Sicherheitsarchitektur, die auf den Prinzipien der UN-Charta sowie den „fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ beruht.
Die SCO gehöre neben den BRICS zu den zentralen Plattformen für die Neuordnung der Sicherheit und der internationalen Beziehungen in Eurasien. Sie sei aber eine offene Architektur, die auch Ländern aus Europa und anderen Kontienten, einschließlich NATO-Staaten, offensteht. „Es ist ein Skandal, dass die westliche und insbesondere die deutsche Öffentlichkeit darüber völlig im Dunkeln gelassen wird“, so Ossenkopp.
Europa und Deutschland sind seit Jahren – nach der Corona-Krise – fast ausschließlich mit der Ukraine beschäftigt, als hänge unser ganzes Leben allein davon ab, wie dort der Konflikt ausgetragen wird. Dabei bleiben Entwicklungen im Globalen Süden, die auch großteils infolge der westlichen Politik gegen Russland immens beschleunigt wurden, unterbelichtet. Den wachsenden Einfluss der BRICS, der SCO und der Eurasische Wirtschaftsunion sollte der Westen nicht als Bedrohung, sondern als Chance zur Zusammenarbeit begreifen, so der Autor. Diese neue multipolare Welt „ist dem Westen keineswegs feindlich gesinnt“, schreibt er im Vorwort seines Buches.
Transformation der Welt
Das Buch basiert auf seinem gleichnamigen Blog und bietet eine Sammlung seiner Beiträge aus dem Jahr 2024, die sich mit der beispiellosen Transformation der Welt befassen, wie es im Klappentext heißt, „weg von der bisher dominierenden unipolaren westlichen Ordnung, hin zu den BRICS und dem Globalen Süden, die ein gerechteres Weltwirtschaftssystem aufbauen wollen“. Es ist erhältlich als E-Book und als Taschenbuch.
Dem Autor – ehrenamtlicher Mitarbeiter des Schiller Instituts – gelingt es, die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2024 im Umfeld von BRICS und im Globalen Süden auf 288 Seiten in 62 „kleinen Reportagen“ zu beschreiben. Es sind oft solche Themen, die in den deutschsprachigen Medien weggelassen wurden. Diese Regionen erleben einen dynamischen Aufschwung – davon zeugt auch das Buch –, geprägt von ambitionierten Infrastrukturprojekten, technologischen Innovationen und einem beschleunigten Wirtschaftswachstum. Das gemeinsame Ziel sei es, die Folgen jahrzehntelanger Unterentwicklung durch Handel und Industrialisierung rasch zu überwinden.
Voriges Jahr hatte Russland die BRICS-Präsidentschaft inne, deren Höhepunkt der BRICS-Gipfel im Oktober war. Der Autor wirft einen nüchternen, aber nicht unbefangenen Blick auf die Prozesse – er lässt durchblicken, dass er ein Sympathisant von BRICS ist, was aber die Qualität des Buches in keiner Weise mindert. Die Reihenfolge ist chronologisch und „muss im jeweiligen zeitlichen Kontext gelesen werden“, wie er schreibt. Die transatlantischen Wahnvorstellungen bekommen im Buch – gut dosiert – ebenfalls Platz.
Nord-Süd-Handelskorridor
Die Bandbreite der Themen reicht von „Endgültige Abkehr vom Westen“ und „Sanktionen meistern: China lernt von Russland“ über „BRICS-Beitritt der Türkei?“ und Deutschlands „Asien-Krise“ bis zu „Russlands eurasische Zukunft“. Im Kapitel mit der Überschrift „Endgültige Abkehr vom Westen“ erfahren wir, warum es so wichtig ist, eine 164 Kilometer lange Bahnstrecke entlang der Südwestküste des Kaspischen Meeres zu bauen. Das ist nämlich das letzte Puzzlestück für den 7.200 Kilometer langen internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridor. „Er erstreckt sich von St. Petersburg im Nordwesten Russlands bis zu den südlichen Häfen im Iran. Von dort können die Güter auf Frachtschiffe verladen werden und enden schließlich im indischen Hafen Mumbai.“ Da sollte der Westen hellhörig werden.
Wir erfahren, dass erwartet wird, dass dieser Korridor die Transportzeiten und -kosten für den Handel mit Indien signifikant reduzieren und somit eine effizientere Alternative zu den traditionellen Seerouten bieten wird. Die Route umgeht Europa und ist nur halb so lang wie die Mittelmeer-Suezkanal-Route, wie der Autor schreibt. Die Sorge um die potenziellen Auswirkungen extraterritorialer Sanktionen durch die USA und die EU habe allerdings die Bereitschaft zur finanziellen Unterstützung dieses Projekts deutlich gedämpft.
Russlands Abkehr vom Westen
Jahrhundertelang sei der Handel mit Europa die Hauptsäule der russischen Wirtschaft gewesen, stellt Ossenkopp fest. Der Konflikt in der Ukraine habe dem ein Ende gesetzt. Russland suche neue Märkte und finde sie in China, Indien und den Ländern am Persischen Golf. Dies käme einer endgültigen Abkehr vom Westen gleich.
„In deutschen Medien eine strategische Analyse des Nord-Süd-Korridors zu finden, ist wohl reines Wunschdenken“, so der Autor. Diejenigen, die sich einer eingeschränkten Sichtweise verschrieben haben, scheinen die Fähigkeit verloren zu haben, die offensichtliche Wahrheit zu erkennen, dass Not erfinderisch macht und eine multipolare Welt voller alternativer Möglichkeiten ist, kritisiert er.
Ossenkopp argumentiert in seinem Buch und insbesondere in dem Kapitel „Der Westen versteht die SCO nicht“, dass diese Organisation „als Nukleus einer neuen Sicherheitsordnung“ im Westen oft falsch wahrgenommen wird. Die SCO basiere auf anderen Wertesystemen als westliche Organisationen. Sie lege Wert auf Souveränität, territoriale Integrität und die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Die Förderung einer multipolaren Weltordnung ist demnach ein zentrales Anliegen der SCO.
Die Bedeutung der SCO
Für den Autor ist sie ein wichtiger Akteur in der sich wandelnden Weltordnung. Die Organisation biete eine Plattform für die Zusammenarbeit zwischen Ländern des Globalen Südens und trage zur Gestaltung einer multipolaren Welt bei. Ossenkopp weist darauf hin, dass es sehr wichtig ist, in einen Dialog mit der SCO einzutreten, um die Organisation und ihre Ziele besser zu verstehen.
Ein Meilenstein für die BRICS im Jahr 2024 war, dass die Türkei den Wunsch äußerte, Mitglied zu werden. Im Buch wird die Türkei oft erwähnt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird vor dem Gipfel in Kasan zitiert: „Nur weil wir ein Nato-Land sind, können wir unsere Beziehungen mit der türkischen Welt und der islamischen Welt nicht abbrechen. BRICS und ASEAN sind Strukturen, die uns Möglichkeiten bieten, unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit auszubauen. Unsere Teilnahme bedeutet nicht, dass wir die Nato aufgeben.“
Einige kritischen Stimmen werden auch erwähnt, wie der brasilianische Ökonom Paulo Nogueira Baptista, der neben Jeffrey Sachs zu der Gruppe der BRICS-Finanzexperten gehört. Beim BRICS-Gipfel in Russland habe er gesagt: Die Schaffung einer neuen Reservewährung wäre ein Game Changer in der globalen Finanzwelt.
„Dieser relativ einfache Schritt hätte bereits getan werden können. Es ist enttäuschend, dass die russische Präsidentschaft 2024 es noch nicht geschafft hat“, so Baptista. Er hofft, dass es Brasilien während seiner BRICS-Präsidentschaft 2025 gelinge.
Multipolare Welt – eine Chance
Aber ich will nicht zu viel verraten: „Dieses Buch soll nur eine erste Neugier wecken“, so der Autor im Vorwort. Das ist ihm meiner Meinung nach bestens gelungen. „Wir im Westen wissen noch so gut wie nichts über die multipolare Weltordnung.“ Das Buch wird dem auf jeden Fall entgegensteuern.
Die Einstellung des Autors ist klar: „Der Westen sollte die Multipolare Welt nicht als Bedrohung, sondern als Chance zur Zusammenarbeit begreifen.“ Sein Buch zeigt, dass „die Eurasische Partnerschaft und die damit verbundene multizentrische Neuordnung globaler Angelegenheiten eine unumkehrbare Realität ist. Diese Realität dringt zunehmend auch in die europäischen Kernländer vor.“
Das Thema der Multipolarität ist ein sehr komplexes Thema. Hier finden die Leser eine umfangreiche Sammlung von spannenden Beiträgen, die anderswo nicht zu lesen sind. Einige kritische Stimmen mehr hätten dem Buch gutgetan, da die Herausforderungen, vor denen die multipolare Welt steht, auf Widerstand der westlichen Ordnung und die Blindheit der Medien stoßen. Ossenkopps Analyse regt zum Nachdenken an und ist eine spannende Lektüre für alle, die die aktuellen Prozesse und die Zukunft der internationalen Politik verstehen wollen.
Titelbild: Cover des Buchumschlages
Stephan Ossenkopp: Die Multipolare Welt – Wie BRICS, SCO & Co die Welt umgestalten. Berlin 2025, Verlag BoD – Books on Demand, Taschenbuch, 288 Seiten, ISBN 978-3769357141, 18 Euro.
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