Wie kam es eigentlich zum Krieg in der Ukraine? Es ist nötig, sich genauer zu erinnern. Denn nur so kann ein stabiler Frieden in der Ukraine erreicht werden. Gehen wir also noch einmal zurück in das Jahr 2014. Ulrich Heyden schildert, was er damals im Frühjahr 2014 in Charkow und Donezk erlebte.
ZDF-Moderator Klaus Kleber erklärte damals, in der neuen, nach dem Maidan gebildeten Regierung der Ukraine gäbe es „keine Faschisten“. Doch immerhin drei neue Minister und Spitzenbeamte waren Noch- oder Ex-Mitglieder der rechtsradikalen Partei „Swoboda“ (Freiheit). Als erste Amtshandlung nach dem Staatsstreich schaffte das ukrainische Parlament die russische Sprache als zweite offizielle Sprache in Gebieten mit hohem russischen Bevölkerungsanteil ab. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Am 6. April 2014 wurden von einer prorussischen Autonomiebewegung in Charkow, Lugansk und Donezk offizielle Gebäude besetzt und am 7. April wurde die „Volksrepublik Donezk“ ausgerufen.
Am 20. Mai 2014 besuchte ich Donezk. Ich wollte über die frisch gegründete „Volksrepublik Donezk“ berichten. Die Presseabteilung, wo ich meine Akkreditierung als Journalist beantragen musste, befand sich in einem oberen Stockwerk der Gebietsverwaltung im Zentrum der Stadt. Die Gebietsverwaltung war am 6. April von Anhängern einer russlandfreundlichen Autonomie-Bewegung besetzt und mit einem Wall aus hochgestapelten Gummireifen und Stacheldraht abgesperrt worden. Auf den Gummireifen flatterten die Fahnen der Autonomie-Bewegung. Am Eingang des Gebäudes hingen selbstgefertigte Zeichnungen von Kindern, auf denen ukrainische Panzer zu sehen waren, die auf Häuser und einfache Bürger schossen.
Strenge Kontrolle vor der besetzten Gebietsverwaltung
Bevor ich die Gebietsverwaltung betreten konnte, wurde ich mehrmals von Männern in improvisierten Kampfuniformen kontrolliert. Ich hatte zwar einen Journalisten-Ausweis für Russland. Aber ich sprach Russisch mit Akzent und sah wie ein Westler aus. Ich spürte Misstrauen mir gegenüber.
Im Foyer der Gebietsverwaltung sah ich auf einer großen Wand Porträts von Aufständischen, die im Kampf gegen die ukrainischen Truppen gefallen waren. Seit dem 14. April 2014 lief eine „Anti-Terror-Operation“ der ukrainischen Streitkräfte und rechtsradikaler ukrainischer Bataillone gegen die Autonomiebewegungen im Südosten der Ukraine.
Wer waren die Aufständischen? Es war eine bunte Mischung, vor allem Bergarbeiter, ehemalige Militärs, aber auch Jugendliche, Klein-Unternehmer und sogar einen Staatsanwalt traf ich 2015 an einem Frontabschnitt südlich von Donezk.
Und was machte die Polizei, wo war sie? Wie ich später erfuhr, hatte sich ein Teil der Polizei von Donezk Richtung Zentralukraine abgesetzt. Die militärische Macht in der Volksrepublik Donezk übten verschiedene militärische Freiwilligen-Bataillone aus, mit Namen wie Wostok, Oplot, Kalmius, Sarja und Somali. Jedes Bataillon kontrollierte ein bestimmtes Gebiet in der Volksrepublik. Erst 2015 wurden die Bataillone unter ein zentrales Kommando gestellt. Russische Berater waren an der Bildung einer zentralen Führung der Donezker Freiwilligenverbände vermutlich beteiligt.
„Saubergemacht wird nach dem Sieg“
Die Situation in der Gebietsverwaltung von Donezk wirkte auf mich chaotisch. In den Ecken lagen ausrangierte Telefone. Der Fußboden war schmutzig. Zum Saubermachen sei keine Zeit, erklärte mir später eine Pressesekretärin. „Die Menschen hier haben an der Front ihre Kameraden verloren. Saubergemacht wird nach dem Sieg.“
Mit dem Aufzug in einem oberen Stockwerk der Gebietsverwaltung angekommen, fragte ich mich zur Presseabteilung durch. Dort traf ich auf junge Männer, die übernächtigt aussahen. Als sie hörten, dass ich ein deutscher Journalist bin, guckten auch sie misstrauisch. Sie fragten, was ich über die DNR schreiben würde. Ich erklärte, ich wolle wahrheitsgetreu berichten, was ich sehe und höre. Aber das schien sie nicht zu beruhigen. Sie schlugen vor, ein gemeinsames Foto zu machen. Ich ließ mich breitschlagen, obwohl ich ein komisches Gefühl hatte. Offenbar wollten sie herausbekommen, ob ich nicht doch ein verkappter Agent eines westlichen Staates bin.
Schließlich bekam ich meine Akkreditierung. Ich konnte ungestört meiner Arbeit nachgehen. Die einfachen Menschen und auch die Mitarbeiter der Behörden waren ausgesprochen auskunftsfreudig. Sie waren geradezu froh, dass sich ein westlicher Journalist für die Volksrepublik Donezk interessierte.
Es war eine komplett andere Situation als heute, wo der Donbass unter dem Dauerbeschuss von Drohnen und Artillerie aus NATO-Ländern steht und man als Journalist strenge Sicherheitsregeln einhalten muss und mehr Zeit braucht, um Interviews mit Bürgern und Beamten einzufädeln.
Aufstand im Donbass war eine Reaktion auf den Staatsstreich
Die deutschen Mainstream-Medien behaupten, Russland oder russlandnahe Kräfte hätten in der Ukraine mit der Gewalt angefangen. Doch das stimmt nicht. Denn bereits seit dem 30. November 2013 hatten in Kiew ukrainische Ultranationalisten zahlreiche offizielle Gebäude mit Gewalt besetzt, wie die Stadtverwaltung, das Gewerkschaftshaus, das Büro der russlandfreundlichen „Partei der Regionen“ und Gebäude von Ministerien.
Außerdem stellten die großen deutschen Medien die Sache damals so dar, als ob die neue Regierung in Kiew im Februar 2014 auf einer Welle des berechtigten Protestes gegen eine korrupte Regierung an die Macht gekommen war, welche sich gegen den Wunsch der Bevölkerung stellte, eine Assoziation mit der EU einzugehen.
Tatsache war aber, dass der Maidan in Kiew nur von einem Teil der Bevölkerung in der Ukraine unterstützt wurde, nämlich den Menschen vor allem im Westen des Landes, die sich zur EU hingezogen fühlten, sowie von radikalen Nationalisten und auch Faschisten aus der Westukraine, die nicht verzeihen konnten, dass Teile der Westukraine, die bis August 1939 zu Polen gehörten, durch ein Geheim-Protokoll von Hitler und Stalin der Sowjetunion zugeschlagen wurden.
Schon 2013: Demonstrative Besuche westlicher Politiker
Die Maidan-Protestbewegung belagerte seit Anfang Dezember 2013 die Innenstadt von Kiew mit einer großen Zeltstadt. Die Bewegung radikalisierte sich. Westliche Politiker wie der US-Republikaner John McCain, die US-Staatssekretärin Victoria Nuland und der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle besuchten den Maidan und versicherten den Demonstranten vor laufenden Fernsehkameras ihre Unterstützung.
Die EU versuchte einen Schein von Neutralität aufrechtzuerhalten. Am 21. Februar 2014 erreichten Vertreter von Frankreich und Deutschland, dass der amtierende Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, eine Vereinbarung mit den Vertretern der Maidan-Bewegung unterschreibt, in der Neuwahlen und eine politische Lösung der Krise vereinbart wurden.
Doch die Unterschriften der Maidan-Führer waren nichts wert. Noch in der Nacht auf den 22. Februar 2014 schritten Ultranationalisten zur Tat. Sie besetzten das Parlament und die Präsidialverwaltung. Vertreter der Regierungspartei „Partei der Regionen“ wurden physisch bedroht. Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch flüchtete aus Kiew nach Charkow.
In Charkow tagte am 22. Februar 2014 ein Kongress „der russischen Gemeinden“. An dem Kongress nahmen 3.000 Personen teil, Delegierte aus den Gebieten Charkow, Donezk, Lugansk und von der Krim. Ein Zeitzeuge meinte, es sei der letzte Versuch der russlandfreundlichen „Partei der Regionen“ gewesen, auf die politische Entwicklung in der Ukraine Einfluss zu nehmen. Doch die Partei der Regionen hatte kein Konzept, was nach dem Staatsstreich zu tun ist. Nach dem Kongress löste sich die damalige Regierungspartei auf.
Russische Sprache diskriminiert
Am folgenden Tag, dem 23. Februar 2014, beschloss das ukrainische Parlament als erste Maßnahme, das Sprachengesetz abzuschaffen, welches der russischen Sprache in Gebieten mit einem hohen russischsprachigen Bevölkerungsanteil den Status einer zweiten offiziellen Sprache – neben der ukrainischen Sprache – einräumte.
Die Abschaffung der russischen Sprache als offizielle Sprache im Südosten der Ukraine löste in Charkow, Donezk, Lugansk und Odessa eine Protestbewegung aus. Diese Bewegung interessierte mich. Und ich machte mich Mitte März 2014 auf den Weg nach Charkow und Donezk. Damals konnte man von Moskau aus noch dorthin fliegen.
Kundgebung vor dem Lenin-Denkmal
Die Gebietsverwaltung von Charkow war Mitte März 2014 von ukrainischen Sicherheitsorganen wieder zurückerobert worden. Aber im Stadtzentrum erlebte ich vor dem Lenin-Denkmal – einer Art Symbol für gute Beziehungen zu Russland – eine große Kundgebung mit mehreren Tausend Menschen, welche die Autonomiebewegung für den Südosten der Ukraine unterstützten.
Doch auch der „Rechte Sektor“ war in Charkow aktiv. Mitglieder dieser rechtsradikalen Organisation griffen die von Aktivisten gebildete Wache am Lenin-Denkmal an. Als ich am Abend des 18. März in meinem Hotel Schüsse hörte, schreckte ich auf. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass in Charkow zwei Antifaschisten getötet worden waren, als 200 Anti-Rechts-Demonstranten versuchten, das örtliche Büro des „Rechten Sektors“ zu stürmen.
Im Umland von Donezk war die militärische Lage angespannt. Am 29. März 2014 besuchte ich einen von 30 Aktivisten der Autonomiebewegung errichteten Kontrollposten an einer Fernstraße zwischen Donezk und Lugansk. „Wir wollen rechtzeitig wissen, wenn ukrainisches Militär oder Leute vom Rechten Sektor kommen“, erklärte mir Andrej, ein 35 Jahre alter Bauarbeiter, der seit Tagen an der Straßenwache teilnahm.
Klare Mehrheit bei Unabhängigkeits-Referendum
Die Volksrepublik Donezk stabilisierte sich trotz der „Anti-Terror-Operation” der ukrainischen Streitkräfte. Am 11. Mai 2014 fanden in den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk Referenden statt. Für die Unabhängigkeit der beiden Republiken stimmten 89 beziehungsweise 96 Prozent der Abstimmenden. Am 12. Mai 2014 erklärten die beiden selbsternannten Republiken offiziell ihre Unabhängigkeit und am 14. und 18. Mai wurden in der Donezker und Lugansker Volksrepublik Verfassungen verabschiedet.
Kiew verhängt Wirtschaftsblockade
Ab Dezember 2014 wurde gegen die „Volksrepubliken“ auf Anweisung des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko eine Wirtschaftsblockade verhängt. Kiew stellte die Zahlung aller Sozialleistungen und Renten für die Bürger in den „Volksrepubliken“ ein. Auch die ukrainischen Banken stellten ihre Tätigkeit in Donezk und Lugansk ein. Um ihre Rente zu erhalten, mussten Bürger der „Volksrepubliken“ in das von Kiew kontrollierte Gebiet fahren.
Minsk-Abkommen, „um Zeit zu gewinnen“
2014/15 kam es zwischen der ukrainischen Armee und den Aufständischen, die auch von Freiwilligen aus Russland unterstützt wurden, zu schweren Kämpfen um den Flughafen von Donezk sowie um die Städte Ilowajsk und Debalzewo. Ukrainische Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge griffen den Flughafen von Donezk und die Gebietsverwaltung von Lugansk an.
Diese Kämpfe wurden im September 2014 und Februar 2015 mit den Waffenstillstandsabkommen Minsk 1 und Minsk 2 beendet.
2022 erklärte Angela Merkel, das Abkommen Minsk 2 sei abgeschlossen worden, um der ukrainischen Armee „Zeit zu geben“, sich auf militärische Auseinandersetzungen vorzubereiten. Der ehemalige Präsident Frankreichs, Francois Hollande, äußerte sich ähnlich wie Angela Merkel.
Es ist erstaunlich, dass die von mir genannten Fakten in der heutigen Berichterstattung der großen Medien fast keine Rolle spielen, man aber gleichzeitig so tut, als ob man die ganze Wahrheit berichtet.
Von Ulrich Heyden erschien 2022 das Buch: Der längste Krieg in Europa seit 1945. Augenzeugenberichte aus dem Donbass, tredition, Hamburg, ISBN 978-3-347-59284-1
Titelbild: Ulrich Heyden