Offener Brief an IWF-Chefin Kristalina Georgieva: „Vermeiden Sie einen noch größeren Skandal!“

Offener Brief an IWF-Chefin Kristalina Georgieva: „Vermeiden Sie einen noch größeren Skandal!“

Offener Brief an IWF-Chefin Kristalina Georgieva: „Vermeiden Sie einen noch größeren Skandal!“

Ein Artikel von amerika21

Der argentinische Soziologe Atilio Boron wendet sich vor dem Hintergrund einer vom rechtslibertären Präsidenten Argentiniens mittels Dekret (DNU) durchgepeitschten Milliarden-Verschuldung beim Internationalen Währungsfonds (IFW) mit einem Offenen Brief an die geschäftsführende Direktorin der internationalen Finanzinstitution mit Sitz in Washington.

Frau Kristalina Georgieva

Geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds

Washington, D.C.

Die argentinische Regierung hat erklärt, dass sie über eine feste Zusage des IWF verfügt, dass diesem krisengeschüttelten Land ein neues Darlehen gewährt wird.

Man muss kein allzu scharfer Beobachter der nationalen Realität sein, um den dreifachen Zweck zu erkennen, der hinter dieser angeblichen finanziellen Rettung steckt. Erstens, die fragile Situation des abstrusen Wirtschaftsprojekts der ultrarechten Regierung zu stabilisieren; zweitens, die zunehmend desillusionierte und verärgerte lokale öffentliche Meinung angesichts des Einbruchs der Einkommen von Angestellten, prekär Beschäftigten und Rentnern zu besänftigen, was die Massendemonstration vom vergangenen Mittwoch und die heftige staatliche Unterdrückung deutlich gezeigt haben; und drittens, wie es 2018 mit dem Darlehen an die Regierung von Mauricio Macri geschah, die Wahlchancen der Regierungspartei für die entscheidenden Zwischenwahlen im Oktober dieses Jahres zu verbessern.

Daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen, die ich Ihnen zur Prüfung vorlegen möchte.

Sie und das Direktorium des IWF sollten wissen, dass derjenige, der den IWF um Hilfe bittet – Präsident Javier Milei – eine Person ist, gegen die unwiderlegbare Beweise vorliegen, die ihn (und sein engstes Umfeld) als wesentlichen Beteiligten des größten Betrugs in der Geschichte der Kryptowährungen ausweisen, wie die internationale Fachpresse berichtet: The Economist, Forbes, Financial Times, Bloomberg und globale Zeitungen wie die New York Times.

Es wird wenig dazu beitragen, das zweifelhafte Image des IWF zu verbessern, wenn einer Person, die solchen Anschuldigungen ausgesetzt ist, Geld geliehen wird.

Es handelt sich hier um jemanden, der wie kein anderer Präsident seit 1983 das Funktionieren der demokratischen Institutionen untergraben, die Gewaltenteilung verletzt, den skandalösen Stimmenkauf im Kongress verallgemeinert und nicht nur den Staat, den er zerstören will, sondern die Grundlagen der republikanischen Ordnung selbst untergraben hat. Kurz gesagt, sowohl aufgrund seiner Taten als auch aufgrund seiner verbalen Ausbrüche ist Javier Milei dabei, ein gefährlicher Autokrat zu werden.

Aber darüber hinaus – als ob das Vorstehende nicht genug Warnung wäre – beabsichtigt Milei, diesen Kredit in offener Verletzung der Bestimmungen der Verfassung zu beantragen, deren Artikel 75 Absatz 4 ausdrücklich festlegt, dass nur der Kongress befugt ist, Kredite auf Kosten der Nation aufzunehmen. Darüber hinaus heißt es in Absatz 7 desselben Artikels, dass nur die nationale Legislative befugt ist, über die Zahlung der internen und externen Schulden der Nation zu entscheiden.

Präsident Milei hat gegen diese verfassungsrechtliche Bestimmung verstoßen, indem er dem Kongress ein “Dekret über die Notwendigkeit und Dringlichkeit” (Decreto de necesidad y urgencia) übermittelte, das sich darauf beschränkt, die Gesetzgeber vage über den angeblichen Vertrag mit dem IWF zu informieren. Es wird nichts gesagt über den Betrag, die Auszahlungsfristen des Darlehens und den Zinssatz, zu dem es zurückgezahlt werden sollte.

Es sei daran erinnert, dass die derzeitige argentinische Regierung die republikanischen Institutionen auf ähnliche Weise angriff, als ihr Wirtschaftsminister Luis Caputo verfügte, dass das Gold der Zentralbank ins Ausland geschickt werden sollte, ohne Informationen über den Zweck und die konkreten Details dieser Operation zu liefern, die Monate später immer noch ein Rätsel sind.

In dem uns beunruhigenden Fall der Beantragung eines Kredits beim IWF wird nicht nur die nationale Verfassung, sondern auch das Gesetz 27. 612, das im Jahr 2021 verabschiedet wurde, verletzt.

In dessen Artikel 2 heißt es: „Jedes Finanzierungsprogramm oder jede öffentliche Kreditoperation, die mit dem IWF durchgeführt wird, sowie jede Erhöhung der Beträge – sowie der Fristen und Bedingungen – dieser Programme oder Operationen bedarf eines Gesetzes des Nationalkongresses, das sie ausdrücklich genehmigt.”

Kurz gesagt, die Regierung von Javier Milei verstößt offen gegen die Verfassung und die Gesetze dieses Landes, was prima facie gegen die eigenen Vorschriften des IWF verstoßen würde, dessen Direktorium, wenn es diese Situation nicht berücksichtigt, zum Komplizen eines Verstoßes gegen die Verfassung und die Gesetze Argentiniens würde.

Angesichts dieser Häufung von Unregelmäßigkeiten wird die von Argentinien möglicherweise eingegangene Schuld zu einer “verabscheuungswürdigen Schuld” (odious debts) im Sinne der Rechtsprechung der USA, wodurch die Zahlungsverpflichtung gegenüber den potenziellen Gläubigern, in diesem Fall dem IWF, erlischt.

Dies wird von Washington seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute vertreten.

Im Jahr 1923 erließ William H. Taft, ein ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof der USA, den Schiedsspruch zugunsten der neu gebildeten demokratischen Regierung von Costa Rica und gegen eine Klage von Großbritannien, die die Zahlung einer von Diktator Federico Tinoco Granados aufgenommenen Schuld in Höhe von 250.000 Dollar forderte. Wenn jemand diese Schulden bezahlen sollte, dann war es laut Taft Tinoco Granados selbst und nicht das Volk von Costa Rica.

Viel später, im Jahr 2003, nachdem der Irak-Krieg Saddam Hussein gestürzt hatte, bestätigte Washington die Nichtzahlung der Schulden, die dieser Herrscher bei mehreren europäischen Ländern hatte, mit der Begründung, dass die Entscheidung eines Diktators nicht das Wohlergehen seines Volkes gefährden dürfe, sobald die Demokratie wiederhergestellt sei.

Die Geschichte kennt viele weitere Beispiele, die in die gleiche Richtung weisen: Schulden, die außerhalb einer demokratischen Konsultation und der Gesetze des Landes entstanden und somit nicht eintreibbar sind.

Dies gilt umso mehr im Fall Argentiniens, da der begründete Verdacht besteht, dass dieses beim IWF beantragte neue Darlehen wie bereits 2018 zur Finanzierung der Kapitalflucht einer Handvoll Großunternehmen und der großen kapitalistischen Freunde der argentinischen Regierung verwendet werden wird.

Die Rechtsprechung nicht nur der USA, sondern auch der Europäischen Union besagt, dass der Kreditgeber, in diesem Fall der IWF, von der Gewährung eines Kredits absehen sollte, wenn er sich der Rechtsverletzungen des Kreditnehmers bewusst ist. Andernfalls, wenn er dies aufgrund politischen Drucks tut – zum Beispiel seitens der US-Regierung, da sie über die meisten Stimmrechte im Direktorium des Fonds verfügt –, würden beide zu Komplizen einer betrügerisch gewährten und eingegangenen Schuld, die daher keine Zahlungsverpflichtung seitens des Kreditnehmers begründet.

Ich hoffe, Frau Georgieva, dass das Direktorium des Fonds diese Überlegungen berücksichtigt und einen neuen, noch größeren Skandal vermeidet, als es derjenige war, der durch den verantwortungslos gewährten Kredit an unser Land im Jahr 2018 ausgelöst wurde. Dieser hat Argentinien extrem geschadet. Darüber hinaus hat er international ein sehr negatives Bild von der Professionalität der Kriterien vermittelt, die der IWF bei der Gewährung seiner Kredite an die verschiedenen Regierungen der Welt anwendet.

Mit freundlichen Grüßen

Atilio Boron

Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21

Titelbild: Oficina del presdidente

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!