Bundespräsident Köhler will den Älteren „einiges zumuten“: Längeres Arbeitsleben und mehr eigene Vorsorge
Mit Verweis darauf, dass die Rente mit 65 mittlerweile selbst 90 Jahre alt sei, fragte Köhler auf dem 8. Seniorentag in Köln, ob starre Altersgrenzen noch in unsere Zeit passten, er wünsche sich mehr Freiheit für den einzelnen und für die Tarifpartner, länger zu arbeiten. Außerdem mahnte er mal wieder sein Lieblingsthema an: Mehr Eigenvorsorge.
Köhlers „Denkanstöße“ gehen immer in die gleich Richtung: Zurück in die Vergangenheit.
Es gab seit dem Zeitalter der Aufklärung ein Fortschrittsdenken, in dem die Befreiung des Menschen von mühseliger Arbeit als humane Utopie und als grundlegendes Reformziel galt. Die Einführung des gesetzlichen Rentenalters im Jahre 1916 war so eine Etappe einer fortschrittlichen sozialen Reform. Mit der damals in Kraft getretenen „Reichsversicherungsordnung“ sollte den Menschen nach einem mühseligen Arbeitsleben ein selbstbestimmter und materiell gesicherter „Ruhestand“ gegönnt werden.
Die Befreiung von der Last der Arbeit zugunsten eines Lebens in Selbstverwirklichung war seit der „Erbsünde“ im Buch Genesis der Bibel ein Menschheitstraum. Ihm näher zu kommen, war das Ziel von Generationen von Sozialreformern.
Ganz anders denkt Köhler: Weil die Rente mit 65 schon 90 Jahre alt ist, passe sie nicht mehr in unsere Zeit und deshalb denkt er über die Abschaffung der Altersgrenze ganz allgemein nach – und zwar nicht nach unten, wie es sich in den Nachrichten manchmal angehört hat.
Was passt denn noch in unsere Zeit oder genauer, was verlangt der Zeitgeist wie ihn Köhler interpretiert? Es ist offenbar der Blick zurück vor das Jahr 1916, ins 19. Jahrhundert, ja noch mehr, sein Denken ist geradezu alttestamentarisch:
„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.“
„Ich würde mir hier möglichst viel Freiheit für jeden einzelnen und für die Tarifpartner wünschen, denn jeder Mensch altert eben anders, und auch jeder Beruf ist anders“, meint Köhler. Wie die von Köhler mal wieder zitierte „Freiheit für jeden einzelnen“ in der Wirklichkeit aussieht, hätte er von seiner Nachrednerin, der für Senioren zuständigen Ministerin Ursula von der Leyen hören können: 41 Prozent aller Betriebe beschäftigten niemanden mehr über 50 Jahren, nur 40 Prozent der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland könnten noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
Es zeigt sich einmal mehr die Diskrepanz von Köhlers Freiheitspathos und den Bedingungen der Möglichkeit von „Freiheit“ für den einzelnen. Über diese Diskrepanz nachzudenken, hätte man sich vom Bundespräsidenten gewünscht.
Köhler ist und bleibt ein Gefangener des zynischen Pathos seiner liberalen Ideologie: „Alle Altersgruppen, auch die jetzigen Rentner, sollten verstehen, dass der finanzielle Spielraum für die Altersversorgung enger wird. Ohne mehr eigene Vorsorge wird es künftig nicht gehen.“
Dass er als früherer Finanzstaatsekretär durch die Verlagerung von Kosten der Einheit auf die Sozialversicherungssysteme wesentlich dazu beigetragen hat, dass der finanzielle Spielraum für die Altersversorgung heute so eng ist, verschweigt er geflissentlich.
„Ich zähle auf Sie, die Älteren. Deshalb erlaube ich mir auch, Ihnen einiges zuzumuten,“ ruft er den Senioren zu.
Ich scheue normalerweise vor personenbezogenen Argumenten zurück, aber wer so notorisch wie Köhler von anderen Verzicht und Eigenverantwortung einfordert, muss sich auch mal sagen lassen:
Ja, es ist schon eine ziemliche „Zumutung“ für die Älteren, aber auch für alle anderen Altersgruppen, solche Appelle und Mahnungen aus dem Munde des Bundespräsidenten hören zu müssen, der wohl als einziger Mensch in diesem Lande das Privileg genießt, dass seine Dienstbezüge in voller Höhe bis zu seinem Lebensende erhalten bleiben. Er braucht keine „eigene Vorsorge“, seine Rente ist sicher und zwar unabhängig vom finanziellen Spielraum für die Altersversorgung.
Köhler ist typisch für die heutigen „Wegweiser“ an der Spitze von Wirtschaft und Staat, die anderen den Weg zum Verzicht weisen, aber nie daran denken, selbst dort hinzugehen, wohin sie andere weisen.
Quelle: www.bundespraesident.de
Köhler wirbt für längeres Arbeitsleben
Rede von Bundespräsident Horst Köhler auf dem 8. Seniorentag am 16. Mai 2006 in Köln
Das Renteneintrittsalter von 65 Jahren ist mittlerweile selbst 90 Jahre alt. Damals, 1916, erreichten nur etwa 3 von 10 Neugeborenen überhaupt das Rentenalter. Heute sind es 8 von 10. Das stellt den Anspruch, mit 65 oder sogar deutlich früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, in ein neues Licht. Tatsächlich zeigen auch Umfragen, dass die Deutschen sich darauf einstellen, später in Rente zu gehen.
Ich finde, es könnte durchaus auch darüber diskutiert werden, ob starre Altersgrenzen überhaupt noch in unsere Zeit passen. Ich würde mir hier möglichst viel Freiheit für jeden einzelnen und für die Tarifpartner wünschen, denn jeder Mensch altert eben anders, und auch jeder Beruf ist anders, und viele Tätigkeiten setzen gerade solche Qualitäten voraus, die erst ältere Menschen ganz entwickelt haben.
Aber alle Altersgruppen, auch die jetzigen Rentner, sollten verstehen, dass der finanzielle Spielraum für die Altersversorgung enger wird. Ohne mehr eigene Vorsorge wird es künftig nicht gehen.
Ich zähle auf Sie, die Älteren. Deshalb erlaube ich mir auch, Ihnen einiges zuzumuten.
41 Prozent aller Betriebe beschäftigten niemanden mehr über 50 Jahren, nur 40 Prozent der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland seien erwerbstätig, kritisierte von der Leyen am Dienstag in Köln bei der Eröffnung des 8. Deutschen Seniorentags.