Seit die islamistische HTS, vormals Al-Nusra Front, die Macht in Syrien übernommen hat, herrscht insbesondere unter den religiösen Minderheiten, den Christen, Alewiten und Drusen die pure Angst. Die neuen Machthaber betreiben – unter dem Beifall des Westens – eine radikale Islamisierung des Landes, die mittlerweile alle Bereiche der Gesellschaft, Schulen, Universitäten, Justiz und Medien erfasst. Während Frauen bisher Spitzenpositionen in Staat und Gesellschaft innehatten, müssen sie diese heute abgeben, sollen sie sich in der Öffentlichkeit verschleiern, haben in den Bussen getrennt von den Männern im hinteren Teil zu sitzen. Von Bernd Duschner.
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Wie berechtigt die Angst ist, zeigt der tägliche Terror, von dem frühere Staatsbedienstete und insbesondere die Alewiten betroffen sind. Ihr Eigentum wird geplündert, sie selbst aus ihren Wohnungen vertrieben, willkürlich verhaftet, verschleppt und in den letzten Wochen zu Tausenden bestialisch abgeschlachtet. Den Jihadisten ist diese schiitische Religionsgemeinschaft, deren Frauen sich nicht verschleiern, die dem Ramadan wenig Bedeutung zumessen, viele christliche Feiertage wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten feiern und verständlicherweise Befürworter eines säkularen Syriens sind, als „Abtrünnige“ besonders verhasst.[1] Der organisierte Terror gegen sie und Personen, die ihnen Unterschlupf und Hilfe gewähren, soll jeden Gedanken an Widerstand im Keim ersticken.
Seit 2016 arbeitet unser Verein „Freundschaft mit Valjevo e.V.“ mit dem Italienischen Krankenhaus in Damaskus zusammen. Wir helfen ihm mit Spendengeldern, die wir zum erheblichen Teil von Lesern der NachDenkSeiten erhalten, seine Existenz zu sichern, medizinische Geräte zu kaufen und humanitäre Projekte für Bedürftige durchzuführen. Die Zusammenarbeit mit diesem Krankenhaus und seinen rund 200 Beschäftigten, darunter vielen Christen und Alewiten, führen wir auch nach der Machtübernahme durch HTS unverändert weiter.
Zerstörung einer Nation
Seit 2011 haben die NATO-Staaten mit den USA an der Spitze, Israel und die reaktionären Golfmonarchien Krieg gegen Syrien geführt. Erinnern wir uns: Das Land konnte bis dahin Wachstumsraten von jährlich rund 5 Prozent vorweisen, seine Bevölkerung reichlich ernähren, war selbstständig in seiner Energieversorgung, bot seinen Bürgern ein anerkannt gutes, kostenloses Bildungs- und Gesundheitswesen. Der syrische Staat ermöglichte seinen Bürgern unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft oder Ethnie eine gleichberechtigte Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben.[2] Der 11. Entwicklungsplan für die Periode 2011-2015 legte einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der sozialen Situation der breiten Bevölkerung: Die Armutsrate sollte verringert, das Gesundheits- und Bildungswesen weiter ausgebaut, ein Fonds für Sozialhilfe und die finanzielle Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit geschaffen werden. Der Entwicklung von Landwirtschaft, Industrie, Wasserwirtschaft und Infrastruktur wurde in diesem Plan besonders große Bedeutung beigemessen. [3]
Weil Syrien eine eigenständige Politik verfolgte, sich den Forderungen des Westens und seiner internationalen Konzerne nicht unterwarf, freundschaftliche Beziehungen zu Russland und Iran pflegte, und konsequent an der Seite des libanesischen und palästinensischen Volkes gegen die israelische Aggression stand, war es den NATO-Staaten, Israel und den reaktionären Golfstaaten ein Dorn im Auge. Kurz: „Um US-Interessen zu schützen, darf Assad nicht triumphieren“, so die US–Denkfabrik Brookings im März 2012. [4]
Seit 2011 hatte die Koalition umfassende Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen das kleine Land mit dem offen erklärten Ziel verhängt, seine Wirtschaft lahmzulegen, Massenarbeitslosigkeit und für die syrische Bevölkerung unerträgliches Elend zu schaffen, um sie zum Aufstand gegen die eigene Regierung zu treiben. [5] Zynisch schrieb die Wirtschaftswoche in ihrer Ausgabe vom 1.9.2012 über ihre Auswirkungen: „Nicht nur das Assad-Regime gerät in Bedrängnis, auch die Situation der Bevölkerung spitzt sich zu: der Strom fällt bis zu sechs Stunden täglich aus, das Getreide wird knapp, bei einer Inflation von 20 Prozent verteuern sich die Alltagsgüter rasant, die Arbeitslosigkeit stieg auf 45%. „Sanktionen können die Zivilbevölkerung schonen, aber nie komplett aussparen – und das sollen sie vermutlich auch nicht. Denn sie haben die psychologische Funktion, die Moral zu untergraben, sagt Heiko Wimmen. Ist die Bevölkerung mit den Lebensbedingungen unzufrieden oder fürchtet sich die Elite vor politischer Isolation, dann unterstützen sie bestenfalls die Rebellen.“ [6] Gleichzeitig haben sie unter dem verlogenen Namen „Freunde Syriens“ islamistische Terrorgruppen finanziert, bewaffnet und unterstützt von eigenen „Spezialtruppen“ über die Türkei und Jordanien zum Kampf gegen die syrische Regierung in das Land gebracht.
Die deutsche Grenzöffnung speziell für syrische Flüchtlinge 2015 war integraler Bestandteil dieser Politik. Damals standen die Terroristen des ISIS bereits vor Damaskus. In dieser kritischen Situation, während die Sanktionen aufrechterhalten und die finanziellen Hilfen für syrische Flüchtlinge vor Ort drastisch zusammengestrichen wurden [7], hatte die Regierung Merkel verkündet, Flüchtlingen aus Syrien in einem vereinfachten Verfahren ohne mündliche Anhörung umgehend den attraktiven Flüchtlingsstatus mit Zugang zu Sprachkursen, Arbeits- und Bildungsmarkt und Anspruch auf Familiennachzug zu gewähren. Die Dublin-Regelung wurde für sie außer Kraft gesetzt. [8] Der syrischen Regierung sollten mit dieser Entscheidung Hunderttausende junger Männer, die sie als Soldaten zur Abwehr gegen ISIS benötigte, entzogen [9] und dem deutschen Arbeitsmarkt gut ausgebildete, billige Arbeitskräfte aus den syrischen Mittelschichten zugeführt werden. Nur sie hatten die finanziellen Mittel für die Flucht nach Europa. Groß war damals der Jubel in den deutschen Konzernfilialen für diese Entscheidung, die unserer Bevölkerung bis heute als „humanitäre Maßnahme“ verkauft wird. [10] Für die syrische Gesellschaft bedeutete sie einen gewaltigen Aderlass mit langfristig andauernden, destabilisierenden Folgen.
Nach 14 Jahren Aushungern mittels der Sanktionen, 14 Jahren militärischer Aggression, dazu seit 2019 die Besetzung und Plünderung der syrischen Ölvorkommen im Nordosten des Landes durch US-Truppen, das Erdbeben 2022, ständige israelische Luftangriffe und schließlich die israelische Aggression im Libanon, über das Syrien noch ein wenig Außenhandel abwickeln konnte, war die Widerstandskraft der syrischen Bevölkerung völlig erschöpft und der Weg für die Machtübernahme der Jihadisten in Damaskus frei. Wenn heute Islamisten in Damaskus regieren und die syrische Bevölkerung terrorisieren, so tragen EU und deutsche Regierung daran erhebliche Mitschuld.
Führende Vertreter der „Linkspartei“ im Schlepptau der NATO
In zahlreichen Berichten hatten Vertreter der UN, vor Ort tätige Hilfsorganisationen und die syrischen Kirchen immer wieder auf die Folgen der Sanktionen für die syrische Bevölkerung hingewiesen:
- Die Verelendung der syrischen Bevölkerung durch die Sanktionen hatte den finanziell gut ausgestatteten Kräften wie ISIS und Al Nusra die Rekrutierung von islamistischen Kämpfern entscheidend erleichtert. [11] Über 600.000 Tote, 6,3 Millionen Flüchtlinge und 7,2 Millionen Binnenflüchtlinge sind das Ergebnis.
- Das Bruttoinlandsprodukt Syriens stürzte bereits bis 2020 auf weniger als 10% des Niveaus von 2010 ab.
- Mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung hat heute keine gesicherte Versorgung mit Lebensmitteln. Mehr als 600.000 Kinder im Alter unter 5 Jahren leiden unter akuter Unterernährung und Wachstumsstörungen. Schätzungsweise 90 Prozent der Kinder in Syrien sind auf humanitäre Hilfe zum Überleben angewiesen.
- Millionen schulpflichtiger Kinder besuchen keine Schule mehr, weil sie gezwungen sind, für ihre Familien mitzuverdienen.
- In den Krankenhäusern fehlt es an elementarster medizinischer Ausrüstung und lebensrettenden Medikamenten wie für Krebs, Nierendialyse, Bluthochdruck, Diabetes. [12]
Ist es zu ermessen, welches menschliche Leid die Sanktionen über 14 Jahre über Millionen Syrer gebracht haben? Den Verantwortlichen in Brüssel und Berlin war das wohl bekannt. Sie haben die Sanktionen trotzdem Jahr für Jahr erneut verlängert.
Es ist beschämend, dass die deutschen Gewerkschaften, die Kirchen und selbst die sogenannte „Linkspartei“ mit wenigen Ausnahmen wie z.B. Frau Dagdelen (jetzt BSW) über 14 Jahre zum gezielten Aushungern des syrischen Volkes geschwiegen haben. Sie waren nicht bereit, sich ernsthaft für eine Aufhebung der Sanktionen einzusetzen. Aufschlussreich ist dazu die Diskussion am 19. Januar 2012 in der aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag. [13] Stattdessen wollten führende Politiker der „Linkspartei“ den Herrschenden beweisen, dass sie sich auf sie verlassen können. Ihre frühere Vorsitzende Katja Kipping und ihr heutiger Vorsitzender Jan van Aken unterschrieben gemeinsam mit Ruprecht Polenz (CDU), Andrea Nahles (SPD) und Claudia Roth (Grüne) den Aufruf „Adopt a revolution“ und machten sich an deren Seite stark für den Umsturz in Syrien. [14]. Das muss nicht wundern: Van Aken hatte schon beim Angriffskrieg der NATO gegen Libyen 2011 gefordert, den Vertreter des angegriffenen Staates, den libyschen Revolutionsführer Gaddafi, vor dem Internationalen Strafgerichtshof anzuklagen, und seinen Sturz ausdrücklich begrüßt. [15] Im Krieg gegen Syrien gehörten die Sympathie und Unterstützung der Mehrheit der Parteiführung der Linkspartei genau denjenigen Politikern der Kurden, die, militärisch von USA und Israel ausgerüstet, eine Abtrennung der ölreichen und für die Lebensmittelversorgung Syriens unverzichtbaren Landesteile östlich des Euphrat betrieben, US-Truppen ins Land geholt, ihnen die Errichtung von Militärstützpunkten auf syrischen Boden und die Plünderung der syrischen Ölvorkommen ermöglicht haben.
Unsere Solidarität und humanitäre Hilfe müssen weitergehen
Nach der Machtübernahme durch die islamistische HTS hat sich die wirtschaftliche Lage für die syrische Bevölkerung keineswegs verbessert. Das Elend, in das sie durch die Sanktionen planmäßig gestürzt wurden, ist geblieben. Zusätzlich wurden jetzt Hunderttausende Staatsbedienstete auf die Straße gesetzt. Ihre Familien sind ohne jegliches Einkommen. Zehntausende Syrer sind auf der Flucht vor den Jihadisten in den Libanon oder suchen wie viele Alewiten eine Unterkunft in gemischt-religiösen Stadtteilen, in denen sie sich sicherer fühlen.
Die aktuellen Massaker machen deutlich: Wir müssen die direkten Kontakte zu syrischen Bürgern aufrechterhalten. Es gilt, Öffentlichkeit über die Entwicklung in Syrien zu schaffen und Druck auf die deutsche Regierung auszuüben, damit die HTS-Regierung gezwungen wird, ihren Terror gegen religiöse Minderheiten, Andersdenkende und Sympathisanten der vorherigen Regierung einzustellen. Die Zukunft Syriens ist noch nicht entschieden, sie hängt auch von uns ab.
Die humanitäre Hilfe muss weitergehen. Wir haben deshalb in den letzten Monaten Hunderte von Lebensmittelpaketen an bedürftige Familien verteilen und für Bewohner von Altenheimen wieder Winterkleidung produzieren lassen. Gleichzeitig führen wir in Zusammenarbeit mit dem Italienischen Krankenhaus das Projekt „Zusatzunterricht für 150 Kinder in Mathematik und einer Fremdsprache“ weiter. Die Kinder, die in den letzten Jahren viel Gewalt gesehen haben, werden psychologisch betreut. Einrichtungen wie das „Italienische Krankenhaus“, das medizinische und humanitäre Hilfe vor Ort betreibt, müssen gerade jetzt erhalten bleiben.
Dafür bittet unser Verein „Freundschaft mit Valjevo e.V.“ weiterhin um Spenden auf unser Konto bei der Sparkasse Pfaffenhofen, IBAN DE06 7215 1650 0008 0119 91. Stichwort: Italienisches Krankenhaus
Titelbild: quetions123 / Shutterstock
[«1] Bahar Kimyongür: Syriana. La conquete continue, Seite 75 ff.
[«2] Fulvio Grimaldi: Siria, La Posta in Gioco: Morte al sociale – Deregulation, privatizzazione, monetarismo
[«3] Italia Istituto nazionale per il Commercio estero. Aggiornamento al 1. semestro 2010 Siria
[«4] brookings.edu/articles/saving-syria-assessing-options-for-regime-change/
[«5] tagesschau.de/ausland/syrien-ts-194.html
[«6] Wirtschaftswoche online, 1.9.2012: Embargo. Syrien geht der Sprit aus
[«7] unhcr.org/news/stories/wfp-food-cuts-threaten-tens-thousands-syrian-families-unhcr-warns
[«8] merkur.de/politik/dublin-pruefung-fuer-syrische-fluechtlinge-ausgesetzt-zr-5384685.html / Spiegel online, 14.08.2015: Ansturm auf die Botschaft
[«9] faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/krieg-in-syrien-assads-armee-gehen-die-maenner-aus-13811121.html
[«10] German Foreign Policy, Kriegsopfer als Humankapital, 2.9.2015 und 22.9.2015
[«11] hintergrund.de/globales/kriege/syrischer-klerus-fordert-ende-der-sanktionen/
[«12] ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc5423add1-visit-syrian-arab-republic-report-special-rapporteur
[«13] Diskussion im Deutschen Bundestag anlässlich des Aufrufes „Kriegsvorbereitungen stoppen! Embargos beenden!
[«14] adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2012/12/Appell_Syrien_Freiheit_braucht_Beistand.pdf
[«15] Jan van Aken, 23.02.2011 Pressemitteilung: Libyen: Gewalt verurteilen, Flüchtlinge Aufnehmen, Gaddafi anklagen / Jan van Aken, 17.09.2011 Kolumne im „ND“: Libyen, die UNO und die LINKE