Griechenland: Was bringen die Wahlen?
Vor den am Sonntag, dem 6. Mai stattfindenden griechischen Wahlen ist nur eines sicher: Sie werden ein „babylonisches Parlament“ hervorbringen, wie es ein Kommentator in der Zeitung Ta Nea formulierte. Zehn Parteien haben eine realistische Chance, die 3-Prozent-Grenze zu überwinden, die das griechische Wahlrecht als Hürde festlegt.
Eine Analyse des griechischen Wahlkampfes vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Lage und ein Ausblick auf die Wahl in Griechenland von Niels Kadritzke.
Zehn Parteien mit Aussicht auf einen Einzug ins Parlament
Bei den letzten Wahlen vom Oktober 2009 haben es nur fünf Parteien ins Parlament geschafft: die langjährigen und damit systemtragenden Regierungsparteien Pasok und Nea Dimokratia (ND), die gemeinsam die Übergangsregierung unter dem Technokraten Lukas Papadimos getragen haben und den linken bzw. rechten Bezirk der politischen Mitte besetzen; dazu die beiden Linksparteien KKE (Kommunistische Partei Griechenlands) und Syriza (Koalition der radikalen Linken) sowie die rechtsradikale Laos (Orthodoxe Volksbewegung).
Nach den Umfragen der letzten Wochen (die letzte vom 22. April, weitere dürfen nach dem griechischem Wahlrecht nicht veröffentlicht werden) haben noch weitere fünf Parteien begründete Aussichten auf mehr als 3 Prozent Stimmanteil:
- die ANEL („Anexartiti Hellines“ oder „Unabhängigen Griechen“), eine rechtspopulistische Abspaltung der ND;
- die DIMAR (Demokratische Linke), ein Ableger der Syriza mit dem populären Parteichef Fotis Kouvelis;
- die Disy (Demokratische Allianz) der früheren ND-Außenministerin Dora Bakoyanni (die im alten Parlament schon mit drei Abgeordneten vertreten war, die zusammen mit Bakoyanni aus der ND ausgeschlossen wurden);
- die Ökologen/Grüne (O/P), die der Europäischen Grünen Partei angehört;
- die faschistische Partei Chrysi Avgi („Goldene Morgenröte).
Näheres über das Profil von vier dieser Parteien kann man meinen Beiträgen vom 27. Februar und 7. März auf den Nachdenkseiten entnehmen.
Noch nicht berücksichtigen konnte ich damals die ANEL, die erst am 11. März von dem ehemaligen ND-Parlamentarier Panos Kammenos gegründet wurde. Kammenos hatte entgegen der Parteilinie seine Zustimmung zur Regierung Papadimos verweigert und war daraufhin aus der ND-Fraktion ausgeschlossen worden. Zehn weitere ND-Dissidenten traten ebenfalls der ANEL bei, deren Gründungsakt demonstrativ in die Kleinstadt Distomo gelegt wurde. Die Bewohner von Distomo waren während der deutschen Besatzung Griechenlands zum Opfer eines Massakers der Wehrmacht geworden. Einige Nachkommen der Ermordeten haben gegen die Bundesrepublik Deutschland eine Klage auf Entschädigung für die Kriegsverbrechen geführt, die Anfang Februar dieses Jahres in letzter Instanz vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) von Den Haag verhandelt und unter Berufung auf das Prinzip der „Staatenimmunität“ abgewiesen wurde.
Die Forderung nach der Zahlung deutschen Reparationen ist eine der Wahlparolen der ANEL. Kammenos will aber vor allem mit seiner Kritik am zweiten „Memorandum“ vom Februar 2012 punkten. Die allerdings artikuliert der ND-Dissident – im Gegensatz zu den linken Memorandums-Gegnern – in extrem populistischer Manier mit patriotischen und zum Teil rechtsradikalen Parolen.
Wie es zur Bildung der ANEL kam, ist eine – ziemlich undurchsichtige – Geschichte für sich. In Athen ist es ein offenes Geheimnis, dass Kammenos früher dem Geheimdienst EYP zugearbeitet hat. Ob auch seine „Rebellion“ gegen Samaras in diesen Kreisen ausgeheckt wurde, wird sich irgendwann vielleicht klären. Sollte hinter seiner Parteigründung, wie einige vermuten, die ND-Führung selbst stecken, um sich einen potentiellen Koalitionspartner zu schnitzen, könnte sich Samaras verrechnet haben. Denn wenn Kammenos mit seinen nationalistischen Plattitüden etwa zehn Prozent der Wähler einfangen kann (wie einige Umfragen andeuten), dürften diese der ND am Ende zur Regierungsmehrheit fehlen. Und Kammenos, der mindestens ebenso laut gegen das „Memorandum“ wettert wie die Kommunisten, beteuert, dass er „nicht einmal als Leiche“ einer Regierung mit ND und/oder Pasok beitreten werde.
Kammenos und die ANEL profitieren davon, dass in den letzten beiden Wochen vor den Wahlen das Thema der Migranten in den Vordergrund gerückt ist. Der Wahlkampf gleicht mittlerweile einem Wettlauf um die überzeugendste Strategie gegen die illegale Immigration (v.a. über die Grenze zur Türkei) und gegen die sichtbare Konzentration von Afrikanern und Asiaten in den städtischen Problemvierteln. Dabei heizt der demagogische ANEL-Führer, der sich in Fernseh-Interviews stets mit größter Lautstärke und schwachen Argumenten artikuliert, die verbreitete Phobie gegen die illegalen Migranten so stark an, dass er sogar der faschistischen Chrysi Avgi den Rang abläuft (die sich mit der Forderung profiliert, die Landgrenze zur Türkei wieder mit tödlichen Antipersonen-Minen auszustatten). Der überraschende Erfolg der Migranten-Hetze von Kammenos hat zuletzt auch ND-Führer Samaras veranlasst, in seinen öffentlichen Auftritten einen verstärkten Schutz der Bürger vor den Migranten zu versprechen. Es ist deshalb keineswegs ausgeschlossen, dass der griechische Geheimdienst seine patriotische Pflicht, Gefahren vom Vaterland abzuwenden, auch in der Aufgabe sieht, die Migrationsströme einzudämmen. Insofern wäre der Einsatz der „Geheimwaffe“ Kammenos in einem unübersichtlichen Wahlkampf ziemlich plausibel.
Die letzten Wahlprognosen
Die Voraussagen über die Wahlchancen sind nur eingeschränkt verlässlich. Die letzten sechs Umfragen vom April (von sechs verschiedenen Instituten) ergeben in der Sonntagsfrage für die zehn erwähnten Parteien folgendes Bild (nach einer Übersicht in Ta Nea vom 22. April):
- ND: 19 bis 24 Prozent
- Pasok: 13 bis 19 Prozent
- KKE: 7 bis 10 Prozent
- Syriza: 7 bis 11 Prozent
- ANEL: 7 bis 10 Prozent
- DIMAR. 6 bis 12 Prozent
- Laos: 3 bis 4 Prozent
- Disy: 2 bis 4 Prozent
- Chrysi Avgi: 4 bis 5 Prozent
- Ökologen/Grüne: 3 bis 4 Prozent.
Die wichtigsten Veränderungen gegenüber den im Februar zitierten Umfragen betreffen erstens die linkssozialdemokratische DIMAR, die deutlich an Boden verloren hat (noch 18 Prozent im Februar); und zweitens die faschistische Chrysi Avgi, die sich klar über 3 Prozent stabilisiert hat und höchstwahrscheinlich ins Parlament einziehen wird. Einige Beobachter befürchten sogar einen Anteil von mehr als 5 Prozent, denn heimliche Sympathisanten der griechischen Nazi-Partei, die auch dieses Jahr wieder „Führers Geburtstag“ gefeiert hat, dürften dazu neigen, bei Umfragen ihre Präferenz zu verschweigen.
Einschätzung der Umfragewerte
Zur Einschätzung der Umfragewerte sind drei weitere Punkte wichtig:
- Zwei Wochen vor dem 6. Mai waren noch zwischen 15 und 25,5 Prozent der griechischen Wähler unentschlossen. Die demoskopischen Institute, die diese Stimmen bewerten und „hochrechnen“, gehen durchweg davon aus, dass sie den beiden großen Parteien stärker zugute kommen als den kleinen. Aber selbst wenn ND und Pasok am Wahltag ihr vermutetes Potential voll ausschöpfen könnten, wäre der Autoritätsverfall der beiden „Systemparteien“ beträchtlich: Bei den letzten Wahlen von 2009 kamen sie zusammen noch auf knapp 80 Prozent der Wählerstimmen. Die Neuwahlen werden also in jedem Fall die tiefe Krise des gesamten politischen Systems bestätigen und sind schon deshalb als die wichtigsten seit dem Ende der Junta-Diktatur (1974) anzusehen.
- Die Zahl der Wahlverweigerer ist deutlich geschrumpft. Nach den letzten Umfragen liegt sie zwischen 15 und 20 Prozent und damit weit niedriger als noch vor einem oder zwei Jahren, als bis zu 40 Prozent der Befragten gar nicht oder ungültig wählen wollten. Nach einer der Umfragen (Kapa Research) hat sich allein seit Januar 2012 die Zahl der Wahlverweigerer von 33 auf 19 Prozent reduziert. Das relativiert die Tiefe der Systemkrise, weil sich die große Mehrheit der Griechen eben doch an einer parlamentarischen Wahl beteiligt und für eine Partei ausspricht, und sei es durch eine zornige Proteststimme.
- Das prozentuale Abschneiden der Parteien bestimmt nur bedingt die Sitzverteilung im Parlament. Bei diesen Wahlen kommt ein Wahlrecht zur Geltung, das nicht mehr als „verstärktes Verhältniswahlrecht“ gelten kann und besser zu einem autoritären Regime passen würde. Denn die stärkste Partei bekommt – auch beim winzigsten Vorsprung vor der zweiten Partei – eine „Siegerprämie“ von 50 Sitzen, sprich ein Sechstel der 300 Parlamentsmandate. Die stärkste Partei (mit Sicherheit die ND) kann deshalb bereits mit rund 40 Prozent der Stimmen eine absolute parlamentarische Mehrheit erringen. Die genaue Prozentzahl hängt davon ob, wie viele kleine Parteien an der 3-Prozent-Hürde hängen bleiben. Würden auf diese Weise mehr als 10 Prozent der gültigen Stimmen „verloren“ gehen, könnte die ND bereits mit 38 Prozent eine Alleinregierung bilden. Sollten sich allerdings die Umfragen bestätigen, die vielen der kleinen Parteien über drei Prozent zuschreiben, wird die stärkste Partei für eine absolute Mehrheit deutlich mehr als 40 Prozent benötigen. Das ist der Grund, warum die letzten Wahlprognosen davon ausgehen, dass die ND wohl nicht allein regieren können wird, dass aber beide großen Parteien zusammen auf eine absolute Mehrheit kommen werden (zwischen 157 und 190 Sitzen, nach einer Übersicht in To Vima vom 29. April).
Eine Protestwahl ohne realistische Zukunftsperspektive
In den Athener Medien wird ausführlich erörtert, ob die bevorstehende Wahl eher als Protest und Abstrafungsakt oder als perspektivische Entscheidung zu werten sei. Die im Vorfeld der Wahlen artikulierte Stimmung ist ziemlich eindeutig: Am 6. Mai wird eher eine Protestwahl gegen die Folgen der seit 2010 praktizierten Sparprogramme stattfinden und weniger eine Abstimmung über eine von den Parteien vorgeschlagene Zukunftsstrategie. Dieser Eindruck resultiert nicht nur aus Gesprächen auf der Straße, sondern auch aus den Programmen der meisten Parteien, die offenbar vorwiegend Proteststimmen einsammeln wollen. Das gilt sogar für die „Systempartei“ ND, obwohl deren Politik der Jahre 2004 bis 2009 für einen Großteil der „griechischen Krise“ verantwortlich ist (siehe dazu meine Darstellung im Februar 2012). Dagegen findet man bei fast allen Parteien, ob rechte oder linke, kaum Aufschluss über ein konkretes Regierungsprogramm oder eine realistische mittelfristige Zukunftsperspektive.
Das ist schon deshalb erstaunlich, weil keine Partei leugnet, dass das Land angesichts seiner ökonomischen und fiskalischen Situation noch diesen Sommer vor erneuten Herausforderungen und neuen sozialen und politischen Zumutungen steht. Angesichts dessen schreibt Pavlos Tsimas eine Woche vor den Wahlen in Ta Nea: „Um unser Schicksal zum Besseren zu wenden, brauchen wir einen nationalen Plan für die Erneuerung unserer Produktivkräfte, für die Mobilisierung von Finanzmitteln und anderen Kräften, die das alte ‚griechische Modell’ verändern und die Folgen (der jetzigen Krise) ausgleichen können. Aber keine Stimme in dieser erstarrten und fürchterlich wirren Vorwahlperiode bietet uns auch nur die leiseste Hoffnung, dass es irgendwo am politischen Horizont einen solchen nationalen Plan geben könnte.“ Tsimas artikuliert damit die Verzweiflung derjenigen Wähler und Bürger, die nach dem Scheitern des alten Klientelsystems bei allen Parteien ein realistisches Programm für die viel beschworene „Neubegründung“ der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft vermissen.
Dass die griechischen Wähler ihren Protest zu Protokoll geben wollen, ist durchaus verständlich. Zum einen, weil sie im Oktober 2009 eine Partei an die Regierung gewählt haben, die ihnen zuvor versichert hatte, dass „das Geld da ist“, mit dem sie allen möglichen Klientelgruppen reichhaltige Wohltaten versprochen hatten. Zum anderen, weil die Misere, in der sie sich seit zwei Jahren befinden, nicht nur kein Ende findet, sondern mit jedem Monat miserabler wird. Was die von der sogenannten Troika (EU-Kommission, EZB und IWF) verordneten Sparprogramme für die griechische Gesellschaft bedeutet, habe ich an dieser Stelle mehrfach dargestellt (zuletzt auf den Nachdenkseiten vom 17. Februar 2012). Trotz des im Oktober 2011 beschlossenen und im Februar abgeschlossenen Schuldenschnitts hat sich die Lage für die griechische Bevölkerung nicht etwa entspannt, sondern noch weiter verschärft.
Die Lage für die griechische Bevölkerung hat sich verschlimmert
Hier seien nur die neusten Zahlen angeführt. Sie verdeutlichen einen Prozess, den man nur als „absolute Verelendung“ charakterisieren kann.
- Im Januar 2012 stieg die Arbeitslosenquote auf 21,8% (gegenüber 14,8% im Januar 2011) und dürfte inzwischen bei über 22 % liegen. Die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe bis zu 24 Jahren hat im Januar die 50-Prozent-Grenze überschritten. Diese Zahlen spiegeln aber noch nicht die volle soziale Realität: Da jeden Monat Tausende von selbständigen Berufstätigen und Familienbetriebe (vor allem im Einzelhandel) ihr Geschäft aufgeben müssen, die in keiner Arbeitslosenstatistik auftauchen, liegt der Prozentsatz von Leuten ohne jedes Einkommen deutlich höher.
Und da immer mehr Arbeitslose die zwölf Monate währende Unterstützung durch Bezüge aus der staatlichen Versicherung (die mit dem zweiten Sparprogramm drastisch abgesenkt wurden) bereits hinter sich haben, steigt die Zahl der Menschen, die keinerlei Einkommen haben und auf die Unterstützung durch Familienangehörige oder karitative Einrichtungen angewiesen sind. - Auch die Einkommen der Beschäftigten schrumpfen dramatisch, häufig infolge der Absenkung der Mindestlöhne, noch häufiger aber, weil die Arbeitgeber sie mit mehrmonatiger Verzögerung oder nur mit geringfügigen Abschlagsbeträgen bezahlen (können). Die amtliche Statistik der Einkommensverluste (je nach Berufsgruppe zwischen 25 und 35 Prozent in den letzten zwei Jahren) zeigt also noch ein geschöntes Bild.
- Trotz drastisch reduzierter Rentenbezüge sind viele Sozialkassen klamm und ohne Zuschüsse aus dem staatlichen Haushalt nicht mehr liquide. Deshalb werden viele Renten nur mit Verzögerung ausgezahlt.
- Die Aussichten, die vorgegebenen Ziele bei der Haushaltskonsolidierung zu erreichen, sinken angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Rezession. Vor zwei Wochen hat die griechische Zentralbank ihre Prognose für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts für 2012 weiter nach unten korrigiert, auf nunmehr Minus 5 Prozent. Experten in Athen halten auch diese Zahl noch für zu optimistisch, zumal die Prognosen für den griechischen Tourismussektor in diesem Sommer ein düsteres bild zeichnen.
- Die Konsequenzen des im Februar vereinbarten (und erst Anfang April abgeschlossenen) „Schuldenschnitts“ mit den privaten Gläubigern Griechenlands (zu diesem sog. PSI-Programm siehe meinen Beitrag vom 21. Februar) für die griechischen Banken und die Sozialversicherungskassen sind noch nicht in vollem Umfang sichtbar. Klar ist aber jetzt schon, dass die Banken knapp 30 Milliarden Euro zur Rekapitalisierung brauchen, um diesen Sommer zu überleben. Und dass für die Sozialkassen ein Verlust von mindestens 8 Milliarden Euro entstanden ist (durch die 53-prozentige Abwertung der von ihnen gehaltenen griechischen Staatsobligationen), der ebenfalls aus dem ESFS-Topf finanziert werden muss.
- Trotz merklich verbesserter Methoden bei der Aufdeckung illegaler Bezüge von staatlichen Renten und anderen Ausgleichszahlungen – zuletzt wurden 200 000 „Pseudo-Rentner“ entdeckt, die sich mittels falscher Angaben oder betrügerischer Tricks pro Jahr knapp eine Milliarde Euro aus den Rentenkassen angeeignet haben – ist der Kampf gegen den Missbrauch öffentlicher Gelder nur sehr langsam vorangekommen. Und auch bei den Steuereinnahmen bleiben die Erfolge (trotz spektakulärer Verhaftungen von Steuersündern) bisher weit hinter den gesteckten Zielen zurück.
Nach dem Scheitern der Rettungspläne kein „dritter Ausweg“ in Sicht
Nach dem eklatanten Scheitern der Rettungspläne (Memorandum I und II) ist das große Wahlthema also die Frage nach einem „dritten Ausweg“ aus der tiefen sozial-ökonomischen Krise, der erstens gerechter zu gestalten wäre als die ersten beiden Anläufe und zweitens im Hinblick auf die griechischen und die europäischen Verhältnisse nicht utopisch sein darf, sondern realistisch sein muss. Wobei einer großen Mehrheit der Wähler klar ist, dass beides nur innerhalb der EU und der Eurozone möglich ist. Drei von vier Griechen sagen bei Umfragen aus, dass ihre Regierung alles tun müsse, um in der Eurozone zu bleiben und eine Rückkehr zur Drachme zu vermeiden. Hier zeigt sich ein Realismus, der quer oder jedenfalls schräg steht zu der (berechtigten) Wut auf das bisherige politische System und dem Wunsch, der Empörung über die politische Klasse Ausdruck zu geben. Das Dilemma für die Mehrheit der Wähler besteht also darin, dass heute (noch) keine neue politische Klasse bereit steht, die den„Wutbürgern“ ein realistisches Zukunftsprojekt vorschlagen könnte, wie sie nicht nur dem oben zitierten Pavlos Tsimas vorschwebt.
Drei politische Lager
Vor diesem Hintergrund kann man eine gewisse Struktur in das „babylonische Gewirr“ der griechischen Parteienlandschaft bringen, wenn man die politischen Kräfte in drei „Lager“ aufgliedert:
- Die sogenannten Memorandums-Parteien, die einen oder beide der bisherigen Rettungspläne getragen haben, also Pasok (Memo I und II) und ND (Memo II), sowie Disy (die beide Memos befürwortet hat).
- Die Anti-Memorandums-Parteien, die sich zum Euro bekennen, also die beiden Linksparteien Syriza und DIMAR, die Ökologen und die rechtsradikale Laos.
- Die Anti-Memo-Parteien, die überdies gegen die EU-Mitgliedschaft und für die Rückkehr zur Drachme sind, also die KKE und die faschistische Bewegung Chrysi Avgi.
Die einzige Partei, die in diesem Schema keinen klaren Platz findet, ist die ANEL von Kammenos, die in erster Linie die antieuropäischen plus nationalistischen „Wutbürger“ repräsentiert, allerdings ohne explizit die Rückkehr zur Drachme zu fordern.
Zu den aufgeführten drei Lagern sind allerdings einige Anmerkungen nötig.
Das Lager der Memorandums-Parteien
Die Memorandums-Parteien wissen natürlich, dass die Sparprogramme extrem unbeliebt sind. Daher versuchen sie
- ihre Verantwortung für die harte Austeritätspolitik zu relativieren und
- ihre Rolle bei der langfristigen Akkumulation der staatlichen Gesamtverschuldung (auf 120 Prozent des BIP bis Ende 2009) auszublenden.
Was ihre Zustimmung zu den Memoranden betrifft, so versucht die Pasok, das Memo I vom Mai 2010 als unausweichliche Notwendigkeit hinzustellen, die von den internationalen Finanzmärkten diktiert wurde. Für die „unvermeidlichen“ Härten dieses Programms hat sich der Pasok-Spitzenkandidat Evangelos Venizelos mehrfach bei den Wählern entschuldigt, wobei ihm zugute kommt, dass er 2010 noch nicht Finanzminister der Pasok-Regierung war. Für die aufgelaufenen Staatsschulden machen Venizelos und die Pasok vor allem die ND verantwortlich, womit sie die Verschuldungsproblematik auf die Jahre 2004 bis 2009 verengen. Die Fehler und Versäumnisse bei der Umsetzung staatlicher Maßnahmen (vor allem beim Eintreiben der Steuern) werden nicht thematisiert, der Schuldenschnitt vom Oktober 2011 (in Höhe von mehr als 100 Milliarden Euro) dagegen als großer Verhandlungserfolg von Venizelos verkauft. Für die Zukunft verpflichtet sich Venizelos, das Sparprogramm so lange zu erfüllen, bis die „griechische Souveränität“ wieder gewonnen sei. Zugleich verspricht er aber auch, über eine Milderung der von der Troika auferlegten Konditionen zu verhandeln und für eine Ergänzung des Sparprogramms durch Investitionen und andere Maßnahmen zur Wirtschaftsbelebung zu sorgen. Man stellt mit anderen Worten ein „positiv“ ergänzendes Entwicklungsprogramm in Aussicht, das die Härten der bisherigen Sparprogramme mildern und Wachstumsimpulse bringen soll. Damit soll bis 2014 eine Rückkehr zu positivem Wirtschaftswachstum erreicht werden. Der „Ausstieg“ aus dem Memorandum wird dann für 2015 angesagt. Das sind natürlich extrem optimistische Versprechungen. (Die könnten freilich durch einen Erfolg des französischen Sozialdemokraten Hollande bei der Präsidentschaftswahl ein wenig glaubwürdiger werden; die Pasok stellt den französischen Genossen als engen Verbündeten hin, der eine Neu-Ausrichtung der EU-Krisenpolitik (gegen Merkel und Berlin) bewirken könnte. In diesem Sinne ist Hollande zum wichtigsten Wahlhelfer von Venizelos mutiert, der von den gebeutelten Pasok-Genossen wie ein Geschenk des Himmels aufgenommen wird.
Die ND kritisiert im Wahlkampf die Pasok wegen ihrer „kampflosen“ Hinnahme des Memos I, dem Samaras und seine Partei trotz beschwörender Appelle der konservativen EU-Politiker die Zustimmung verweigert hatte. Dass die ND dann jedoch selbst dem Memo II zugestimmt und die Regierung Papadimos unterstützt hat, wird mit der Gefahr des Staatsbankrotts begründet und als Akt der selbstlosen, heroischen Rettung des Vaterlandes dargestellt. Als Ministerpräsident will Samaras die Bedingungen des Memo II neu verhandeln und dabei (wie die Pasok) Wachstumsimpulse verlangen. Um die Konjunktur anzukurbeln, sollen die Steuern gesenkt und insbesondere den Spitzensatz der Einkommenssteuer und die Unternehmenssteuern drastisch herabgesetzt werden. Auf die Frage, wie er allerdings die Troika zu dieser Minderung der staatlichen Einnahmen überreden will, bleibt der ND-Vorsitzende die Antwort schuldig.
Auch die Verantwortung der früheren ND-Regierung für die Steigerung des jährlichen Haushaltsdefizits von 5 auf über 15 Prozent im Zeitraum 2005 bis 2009 blendet Samaras aus, obwohl er in den letzten neun Monaten der Regierung Karamanlis dem Kabinett angehörte. Dass eine Partei, die an den Exzessen des Klientelstaates einen mindestens ebenso großen Anteil hat wie die Pasok, von den Wählern offenbar weniger hart abgestraft wird als die Venizelos-Partei, gehört zu den nicht oder nur tiefenpsychologisch erklärbaren Phänomen der griechischen Realität. Im Übrigen versucht auch die ND, den absehbaren Machtwechsel in Frankreich als Hoffnungssignal für Griechenland zu werten. Ihre Vertreter bekommen deshalb in den endlosen TV-Debatten dieser Tage von den politischen Rivalen stets die ironische Frage serviert, ob sie denn eine Wahlniederlage ihres konservativen Freundes Sarkozy wünschen.
Die Disy, die es allenfalls knapp ins Parlament schaffen wird (siehe Umfragen oben), kritisiert den alten „Klientelstaat“ so scharf und prinzipiell, als gehörten ihre Repräsentanten nicht durchweg zur alten politischen Klasse. Parteichefin Bakoyanni wird auf diesen Widerspruch immer wieder hingewiesen und kontert dann mit der Bemerkung, es brauche eben manchmal etwas länger, die bittere Wahrheit zu erkennen.
Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die drei „Memorandum-Parteien die nächste griechische Regierung stellen. Zwar beteuert ND-Chef Samaras in jeder seiner Wahlreden, dass er niemals mit der Pasok eine Koalition eingehen werde. Aber sein proklamiertes Wahlziel einer eigenständigen ND-Mehrheit liegt – trotz des undemokratischen 60-Sitze-Bonus – in utopischer Ferne. Und eine der kleinen Parteien wird nicht ausreichen, um Samaras eine parlamentarische Mehrheit zu beschaffen. Wenn die ND den Regierungschef stellen will, wird sei eine Koalition mit der Pasok ernstlich ins Auge fassen müssen. Und viele Beobachter glauben, dass sie dazu am Ende bereit sein wird – insbesondere wenn sie einen größeren Vorsprung vor der Pasok erzielt, sodass sie diese zum bloßen „Juniorpartner“ erklären kann.
Die Pasok und ihr Vorsitzender Venizelos erklären eindeutig, dass sie zu einer „großen Koalition“ bereit sind. Aber natürlich will man den Rückstand auf die ND möglichst klein halten, um sich als gleichberechtigter Partner anbieten zu können. Die Pasok wird in möglichen Koalitionsverhandlungen sehr flexibel agieren und wird sich als „verantwortungsbewusste Kraft“ darstellen, die alles tut, um eine zweite Wahl zu verhindern. Mit der droht Samaras für den Fall, dass die ND keine absolute Mehrheit bekommt. Aber eine solche Entwicklung, die unvermeidlich wird, wenn sich keine Regierungsmehrheit zusammen findet, wird von 90 Prozent der Griechen abgelehnt. Auch deshalb wäre höchst ungewiss, ob ein neuer Wahlgang der ND die erhoffte Mehrheit bringen würde.
Das Lager der Anti-Memorandums-Parteien
Die Anti-Memorandums-Parteien kritisieren sehr konkret die soziale Ungerechtigkeit als auch die fatalen wirtschaftspolitischen Folgen – und damit auch die Erfolglosigkeit – der bislang praktizierten Sparprogramme. Sehr viel unklarer bleiben die Vorschläge für eine Abschaffung bzw. Überwindung der Memorandums-Politik. Am konsequentesten argumentiert die Syriza, die nicht nur im Parlament gegen beide Memos gestimmt hat, sondern auch aktiv und sichtbar an den Demonstrationen und Protestaktionen gegen die Sparpolitik beteiligt war. Insofern ist die radikal sozialistische Partei die glaubwürdigste parlamentarische Stimme derjenigen Memo-Gegner, die zumindest verbal an der EU- und Euro-Perspektive festhalten. Seit die linkssozialdemokratische DIMAR in den Umfragen deutlich zurückgefallen ist (im Januar wurden ihr noch bis zu 18 Prozent prognostiziert), fühlt sich die Syriza ziemlich sicher, dass sie von allen linken Parteien am stärksten abschneiden wird. Einige ihrer Vertreter sprechen sogar davon, dass sie die Pasok hinter sich lassen und zur zweitstärksten Partei werden könnte.
Der Syriza-Vorsitzende Tsipras hat wiederholt erklärt, eine linke Regierung unter Führung der Syriza würde sofort das Memorandum II aufkündigen und die Bedienung der griechischen Schuldenlast einstellen. Die Wirtschaftsexperten der Partei äußern sich weit vorsichtiger. So hat der marxistische Ökonom Professor Giorgos Stathakis in einem TV-Interview die Idee eines „einseitig erklärten“ Schuldenmoratoriums verworfen und – weit vorsichtiger – eine „Neuverhandlung“ des Memorandums mit der Troika und den Gläubigern Griechenlands gefordert. Die linken Fachökonomen brüten über der entscheidenden Frage, die sich auch viele linke Wähler im letzten Moment in der Wahlkabine stellen dürften: Wo kommt das Geld für die staatlichen Löhne, die Renten und die Krankenhäuser her, wenn eine linke griechische Regierung einseitig die von den früheren Regierungen eingegangenen Verpflichtungen aufkündigt?
Auf diese Frage bleibt Tsipras eine seriöse Antwort schuldig. Und sein Vorschlag, die Villen der griechischen Reeder zu beschlagnahmen, die ihren Firmensitz in London haben und in Griechenland keine Steuern zahlen, dürfte die griechischen Rentner kaum überzeugen. Eine Entlastung in dieser schwierigen Frage bietet wiederum der „Genosse Francois Hollande“, den auch Tsipras als Wahlkämpfer für die Syriza adoptiert. Dabei geniert er sich nicht, die erhoffte Machtverschiebung auf der Achse Berlin-Paris als persönlichen Erfolg darzustellen. Dass die Syriza zur Selbstüberschätzung neigt, seitdem die Demoskopen sie als stärkste Linkspartei sehen, zeigt sich auch in ihrem zentralen Wahlslogan: „Umbruch in Griechenland – Botschaft an Europa“ (wobei das Schlüsselwort „anatropi“ auch „Umsturz“ heißen kann).
Die linkssozialdemokratische DIMAR stellt zwar mit ihrem Vorsitzenden Fotis Kouvelis noch immer den weitaus vertrauenswürdigsten aller Parteiführer: Er ist der einzige, von dem noch eine Mehrheit der Befragten (54 Prozent) eine positive Meinung hat (gemäß einer Anfang April durchgeführten Public Issue-Umfrage). Aber das Wählerpotential der Partei hat sich deutlich verringert. Zwar bietet die Partei das überzeugendste Programm, das sowohl eine sozialverträgliche Revision der Sparprogramme als auch einen radikalen Bruch mit dem griechischen Klientelregime fordert. Wobei sie letzteres als Voraussetzung dafür ansieht, dass sich Griechenland langfristig in der EU und der Eurozone halten kann.
Auf die „Machtfrage“ gibt Kouvellis jedoch keine klare Antwort, weil er sowohl einen Beitritt zu einer „nationalen Koalition“ (mit ND und Pasok) ausschließt, als auch eine hypothetische „Linkskoalition“ mit Syriza und KKE. Wobei seine Absage an eine Koalition unter Einschluss der KKE glaubwürdig ist, während ihm die Absage an eine Zusammenarbeit mit den Systemparteien nicht ganz abgenommen wird. Zu diesem unklaren Bild hat beigetragen, dass die DIMAR letztens einige ehemalige Parlamentarier der Pasok aufgenommen hat, die wegen ihrer Ablehnung des Memos 2 aus ihrer Partei ausgeschlossen wurden. Damit verwässert sich das Bild einer Partei, die mit den „Systemparteien“ und ihren Repräsentanten, denen eine maßgebliche Verantwortung für die griechische Misere zukommt, nichts zu tun haben will. Und wahrscheinlich verliert die DIMAR kurz vor den Wahlen auch jene enttäuschten Pasok-Anhänger, die ihre Partei eigentlich abstrafen wollen, aber letztlich angesichts der „realpolitischen“ Frage nach einer regierungsfähigen Mehrheit noch einmal – zwar mit zusammengebissenen Zähnen – die Pasok wählen werden.
Das Lager der Gegner einer EU-Mitgliedschaft
Das klarste und radikalste Programm haben die griechischen Kommunisten. Die KKE führt die griechische Krise streng marxistisch-leninistisch auf den „Würgegriff“ der Monopole und Banken zurück, deren Repräsentant in Europa die EU und deren wichtigstes Machtmittel der Euro ist. Ebenso schlicht ist damit der Ausweg aus der Krise vorgezeichnet: Aufkündigung der akkumulierten Staatsschuld, Austritt aus der EU und der Eurozone, Rückkehr zur Drachme. Auf die „realpolitische“ Frage, wo am Tag nach dem EU-Austritt das Geld für die staatlichen Gehälter und die Renten herkommt, gibt die KKE die Antwort: Verstaatlichung der Banken und aller Unternehmen, Verwaltung und Verteilung der „Reichtümer“ des Landes an das arbeitende Volk und Entfaltung der Produktivkräfte mittels einer strikten Planwirtschaft (Fußnote: auf die Frage, welches System ihr als „Modell“ vorschwebt, hat die KKE-Vorsitzende Aleka Papariga auf die ehemalige CSSR verwiesen, wobei sie gewiss nicht Dubcek und den Prager Frühling im Sinn hatte, dessen Zerschlagung die stets moskau-servile KKE vor 44 Jahren enthusiastisch begrüßt hat).
Dass etwa die griechischen Banken am „Tag danach“ von der Bevölkerung geplündert würden und vor allem auf Schulden sitzen würden, solche und ähnliche Detailfragen brauchen die KKE nicht zu interessieren. Das gilt allerdings nicht für die Wähler, die sich von einer linken Koalition einen realistischen Ausweg aus der Krise versprechen. Auch in dieser Frage geben die Kommunisten eine klare Auskunft: Die weiteren Linksparteien Syriza und DIMAR sind verkappte Repräsentanten „der Monopole“, weil sie die Europäischen Union „anbeten“ und am Euro festhalten wollen. In einem Interview (Athens News 28. April) hat Frau Papariga explizit erklärt, eine Kooperation mit den beiden anderen Linksparteien sei nicht nur wegen „fundamentaler“ programmatischer Unterschiede ausgeschlossen, sondern „weil wir in entgegengesetzte Richtungen arbeiten“. Eine Kooperation stellt sich die KKE allenfalls nach den Wahlen vor, um gemeinsam die volksfeindliche Regierung zu bekämpfen, die Papariga ohnehin für unvermeidlich hält.
Die Rückkehr zur Drachme fordert – wie schon erwähnt – auch die faschistische Bewegung Chrysi Avgi.
Chancen für ein linke Regierung sind gleich Null
Damit sind wir bei der Frage nach den Chancen einer linken Regierung nach dem 6. Mai. In meiner letzten Analyse (vom 27. Februar) habe ich diese Möglichkeit für sehr unwahrscheinlich gehalten. Wenige Tage vor den Wahlen muss man sagen: die Chance ist gleich Null. Und das aus zwei Gründen: Erstens wird es keine linke Parlamentsmehrheit geben; zweitens sind die drei linken Parteien zu einer Koalitionsregierung weder bereit noch fähig. Und das liegt nicht nur an der koalitionsfeindlichen, weil außersystemischen Kommunistischen Partei Griechenlands, sondern auch an der Syriza.
Die radikalen Sozialisten haben längst erkannt, dass es den linken Parteien zu keiner regierungsfähigen Parlamentsmehrheit reicht. Ihr jungdynamischer Vorsitzender Alexis Tsipras (immerhin der zweit-populärste Parteiführer des Landes) hat deshalb letzte Woche – zum Entsetzen vieler Parteigenossen – erklärt, wenn den linken Parteien fünf oder sechs Stimmen zur Mehrheit fehlen, könnten sie auch die „Unabhängigen Griechen“ des Rechtspopulisten Kammenos für eine Koalition gewinnen. Seitdem hat er sogar versichert, er könne sich Aleka Papariga als Regierungschef und Kammenos als Außenminister vorstellen. Damit hat Tsipras der Idee einer Linksregierung nicht nur den Todesstoß versetzt, sondern auch die Wahlchancen der Syriza beschädigt. Mit solchen Äußerungen werden etliche linke Wähler ihre Zweifel an der Seriosität von Tsipras bestätigt finden. Denn sie müssen sich in der Tat fragen, wie ernst seine EU-Bekenntnisse zu werten sind, wenn er sich vorstellen kann, mit den EU-Partnern über die Bedingungen der geforderten „europäischen Solidarität“ mit einer griechischen Delegation zu verhandeln, die von einer EU-Hasserin und einem rechtspopulistischen Chauvinisten angeführt wird.
Natürlich hat die KKE dieser Idee eine höhnische Absage erteilt. Der DIMAR-Vorsitzende Kouvellis beschränkte sich auf den Satz, er habe die Meldung für einen „schlechten Witz“ gehalten. Die ganze Episode hat zur Folge, dass auch der letzte linke Wähler eine „linke Koalition“ der Memorandums-Gegner als Illusion erkannt hat – oder gar nicht mehr für wünschenswert hält. Das letzte gilt gewiss für die Fernsehzuschauer, die letzten Montag eine „Debatte“ von zehn Parlamentskandidaten im staatlichen Fernsehen verfolgt haben. Bei jeder dieser Veranstaltungen sind es die Griechen gewohnt, sich einen Reim aus wild durcheinander schreienden Stimmen zu machen, die sich gegenseitig zu übertönen versuchen, um wenigstens ein paar Satzfetzen ihrer Parteisprüche zum Publikum durchzubringen. Dieses Mal sah sich die Moderatorin auf dem Höhepunkt des Geschreis gezwungen, ihre Drohung wahr zu machen und das babylonische Stimmengewirr durch einen Reklamespot zu beenden. Es war der Moment, in dem sich Vertreter der KKE, der Syriza und der DIMAR sich dreiseitig minutenlang anbrüllten, während als einziger Satz – kurz vor dem Reklamespot – der Einwurf des rechten ND-Kandidaten zu verstehen war: „Und die wollen eine linke Regierung machen!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Was also ist von den griechischen Wahlen zu erwarten?
Fassen wir zusammen:
- Obwohl eine große Mehrheit der verbitterten Wähler ihre politische Klasse „bestrafen will“, wird dieses Strafgericht keine Regierung von „neuen Kräften“ hervorbringen. Das wahrscheinlichste Resultat der Wahlen vom 6. Mai ist vielmehr eine „große Koalition“ der beiden „Systemparteien“ ND und Pasok, die jenen Klientelstaat aufgebaut und ausgebeutet haben, der Griechenland in die tiefste soziale Krise seit 1945 geführt hat.
- Das liegt zum einen am Wahlrecht, das die stärkste Partei so stark begünstigt, dass ohne die stärkste Parlamentsfraktion, in diesem Fall der Nea Dimokratia, keine Regierung gebildet werden kann.
- Es liegt zum zweiten daran, dass viele Wähler sich trotz ihrer Wut darüber klar sind, dass sie mit ihrer Stimme auch eine Antwort auf die Frage geben müssen, wie das Land sich in der EU und in der Eurozone behaupten kann. Das Dilemma, einerseits die extreme, ungerechte und kontraproduktive Sparpolitik abzulehnen, andererseits den Rückfall in die Drachme verhindern zu wollen, ist in dieser Wahl nicht aufzuheben, weil keine Partei eine realistische Antwort auf dieses Dilemma vorschlägt.
- Die Klage der linken Parteien, dass es sich bei diesem Dilemma um eine „Erpressung“ handelt, ändert nichts an der misslichen Faktenlage. Dennoch wird die griechische Linke deutlich gestärkt aus der Wahl hervor gehen. Ihre Parteien werden aber auf keine gemeinsame „Regierungsmehrheit“ kommen und sie sind überdies zu einer linken Koalition weder bereit noch fähig.
- Eine unliebsame Überraschung könnten die griechischen Rechtsradikalen bereiten. Mit Sicherheit wird die Nazi-Partei Chrysi Avgi ins Parlament einziehen, dazu zwei weitere Parteien rechts von der konservativen ND. Damit wird sich das politische Klima in Griechenland auch außerhalb des Parlaments nicht nur weiter radikalisieren, sondern auch zunehmend polarisieren – vor allem zu Lasten der vielen illegalen Migranten im Lande.
- Die meisten Griechen, auch auf der Linken, sehen in einer „neuen europäischen Solidarität“ den einzigen Ausweg aus der griechischen Krise. Das zeigt sich in dem Phänomen, dass der potentielle französische Präsident Francois Holland zum „deus ex machina“ des griechischen Wahlkampfs geworden ist, auf den sich nicht nur die Hoffnungen der politischen Klasse, sondern auch einer großen Mehrheit der Bevölkerung richten. Dass die Solidarität der Europäer nur dann erfolgreich eingefordert werden kann, wenn die Griechen selbst sich entschlossen an den Abbruch ihres alten Klientelsystems machen, ist in diesem Wahlkampf leider kein zentrales Thema.