Die Proteste gegen die antidemokratischen Vorgänge in der Türkei werden von Politikern und Journalisten hierzulande emotional begrüßt. Umso lauter erscheint das Schweigen, das das gleiche Personal dem bedrängten Kandidaten in Rumänien zuteil werden lässt. Ein Fall von schwerer politischer Heuchelei. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wurde abgesetzt und inhaftiert, wie die „Tagesschau“ berichtet – das ist ein Skandal. Die juristischen Vorwürfe erwecken den starken Eindruck, dass sie instrumentalisiert wurden, um einen Konkurrenten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bei der nächsten Wahl aus dem Spiel zu nehmen. Auch wenn ich die aktuelle Lage in der Türkei und die Qualität der juristischen Vorwürfe gegen İmamoğlu nicht abschließend einschätzen kann, so sind die Proteste wegen des im Raum stehenden starken Verdachts einer antidemokratischen Manipulation in meinen Augen trotzdem nachvollziehbar.
Dennoch ist die hiesige Berichterstattung über die aktuelle Entwicklung in der Türkei auch ein Fall von Heuchelei, wenn man die Reaktionen mit denen bezüglich der Sabotage eines beliebten Politikers in Rumänien vor einigen Wochen vergleicht. Im Artikel „Deutsche Medien ignorieren weiterhin den Skandal von Rumänien“ wurde auf den NachDenkSeiten thematisiert, dass demokratische Prinzipien schnell vergessen sind, wenn der „Falsche“ gewinnt. Und im Artikel „Wie unsere ‘Super-Demokraten’ den Skandal von Rumänien verniedlichen“ hatte ich kürzlich geschrieben:
„Dem aussichtsreichsten Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl in Rumänien, Calin Georgescu, wurde die Teilnahme an der kommenden Wahl untersagt. Das ist die Fortsetzung einer antidemokratischen Farce , denn bereits der vorherige Wahlgang wurde ‚annulliert‘. Wäre Georgescu pro-westlich eingestellt, dann würden nun leidenschaftliche Phrasen zur Verteidigung der Demokratie erklingen. Aber viele Journalisten und Politiker sind sich offensichtlich einig, dass man einen ‚rechtsextremen Kremlfreund‘ nicht gegen formale Tricks verteidigen muss.“
Genau diese „leidenschaftlichen Phrasen“, die dem bedrängten rumänischen Kandidaten verwehrt wurden, erklingen jetzt zugunsten der Proteste in der Türkei und zugunsten des Gegners von Erdoğan vonseiten zahlreicher westlicher Politiker und Journalisten. Das emotionale Getöse bezüglich der Türkei lässt das Schweigen des gleichen Personals zum Skandal von Rumänien noch lauter erscheinen.
Beide Fälle sollen hier nicht aufgrund der politischen Einstellungen der bedrängten Politiker bewertet werden: Weder die politischen Einstellungen von İmamoğlu noch die von Georgescu mache ich mir zu eigen. In diesem Text geht es ausschließlich um die Beschreibung mutmaßlicher juristischer und anderer Winkelzüge gegen aussichtsreiche Kandidaten – und um die extrem unterschiedlichen Reaktionen hiesiger Medien und Politiker darauf.
Beide Vorgänge (Türkei und Rumänien) erscheinen von außen skandalös und sie sind – bei allen Unterschieden im Detail – auf grundsätzlicher Ebene teilweise vergleichbar. Dass die Reaktionen dennoch so ungleich ausfallen, ist, wie gesagt, ein Ausdruck schwerer Heuchelei: Durch das unterschiedliche Verhalten wird eben nicht unabhängig von der jeweiligen Meinung prinzipiell „die Demokratie“ verteidigt, sondern nur bestimmte Kandidaten mit bestimmten Meinungen. Viele hiesige Politiker und Journalisten beherrschen die „Kunst“, das Ausmaß ihrer Empörung jeweils selektiv an die dominante politische Strömung anzupassen: Man kann das auch Prinzipienlosigkeit nennen.
Titelbild: arda savasciogullari / Shutterstock