„Wir müssen die Spielregeln des politischen Systems verändern!“

„Wir müssen die Spielregeln des politischen Systems verändern!“

„Wir müssen die Spielregeln des politischen Systems verändern!“

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Ein Mix aus alter und neuer Regierung bringt ein schuldenbasiertes Aufrüstungsprogramm der Sorte „aberwitzig“ auf den Weg. Und Die Linke gibt in der Länderkammer grünes Licht. „Demontage der Demokratie“ nennt das Marco Bülow, der bis zu seinem Austritt lange für die SPD im höchsten deutschen Parlament saß. In seinem neuesten Buch „Korrumpiert“ bekennt er, beinahe selbst den Lockungen der Lobbyisten erlegen zu sein, bevor er es sich zur Mission machte, ihr Treiben zu bekämpfen. Im Interview mit den NachDenkSeiten erzählt er von Absahnern im Amt, Handlangern für Profiteure und einer SPD als „Weder-noch-Partei“. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zur Person: Marco Bülow, Jahrgang 1971, zog 2002 als direkt gewählter Dortmunder Abgeordneter für die SPD in den Deutschen Bundestag ein und wiederholte das Kunststück vier weitere Male. Unter anderem fungierte er als Umwelt- und Energiepolitischer Sprecher seiner Fraktion. 2018 kehrte er der SPD aus Unmut über den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs der Partei den Rücken und verblieb bis 2021 noch drei Jahre als fraktionsloser Abgeordneter im Parlament. Seit 2020 ist er Mitglied bei Die Partei und arbeitet als Journalist, Publizist und Podcaster. Von Bülow erschienen sind 2021 im Verlag Das Neue Berlin „Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft“ und aktuell im Westend Verlag „Korrumpiert. Wie ich fast Lobbyist wurde und jetzt die Demokratie retten will“.

Herr Bülow, der „alte“ Bundestag hat gerade für die „neue“ Bundesregierung ein schuldenbasiertes Finanzpaket im Umfang von wohl weit über einer Billion Euro zwecks Aufrüstung und Infrastruktur klargemacht. Auch der Bundesrat hat am Freitag grünes Licht gegeben. Haben Sie Worte dafür?

Was wir hier erleben, ist das, was ich Demontage der Demokratie nenne. Wobei aber genau dies nicht diskutiert wird. Politik und Medien reden darüber, wie viel Geld es braucht, wofür und wer alles profitieren soll: der Bund, die Länder, das Klima et cetera. Aber wie das alles abgelaufen ist, ist kein Thema von Belang.

Wie hätte es anders laufen können?

Nun ja. Nach dem Scheitern der Ampel hätte man ja zunächst versuchen können, eine neue Regierung zu bilden. Man erinnere sich daran, wie Friedrich Merz nach dem Bruch der Koalition Druck für schnelle Neuwahlen gemacht hat. Als es um die Frage einer Änderung von Paragraph 18 ging, hat er noch getönt, der alte Bundestag dürfe solche wichtigen Entscheidungen nicht mehr treffen (lacht).

Aber ein paar Wochen später will er dann gemeinsam mit der AfD Verschärfungen bei der Zuwanderung durchs Parlament boxen und nach der Wahl setzt er mit SPD und Grünen im Hauruckverfahren und entgegen seiner Wahlversprechen ein Neuverschuldungs- und Aufrüstungsprogramm irrwitziger Dimension ins Werk, noch ehe er überhaupt Kanzler ist. Da muss sich keiner wundern, wenn kommende Regierungen das ebenso machen und sich immer mehr Menschen von der Politik abwenden. Das alles hat mit Demokratie, Gewaltenteilung und der Achtung des höchsten deutschen Parlaments jedenfalls gar nichts mehr zu tun.

Bezeichnend ist einmal mehr das Verhalten der SPD. Es gibt Menschen, die schon wegen weniger aus der Partei SPD ausgetreten sind. Sie zum Beispiel …

Ja, wäre ich nicht schon 2018 ausgetreten, hätte ich das jetzt sicher wieder gemacht, beziehungsweise schon das dritte Mal. Der zweite konkrete Anlass wäre der gewesen, als Olaf Scholz 2020 zum Kanzlerkandidaten nominiert wurde. Dass die SPD bei diesem Komplott mitmacht, wundert mich nicht mehr. Und auch der Kuhhandel der Grünen ist ein Lacher: Das, was sie vielleicht an Klimagasreduktionen rausholen können, wird durch die massive Aufrüstung gleich wieder zunichtegemacht. Aber auch darüber redet keiner.

Macht Ihnen der deutsche Militarisierungseifer Angst?

Natürlich. Beängstigend ist nicht allein die Dimension des Rüstungspakets, dazu kommt die allgemeine Stimmungslage, dieses dumme und schlimme Gerede von Kriegs- und Wehrertüchtigung. Und dann ist da diese Planlosigkeit, Hauptsache Milliarden reinbuttern, ohne jede Analyse, wofür das ganze Geld ausgegeben werden soll und warum eigentlich. Es gibt ja dieses Märchen, die Bundeswehr sei kaputtgespart worden. Das ist Unsinn, den alle nachplappern und leider auch viele Menschen glauben.

Der Wehretat war schon lange vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine der am stärksten wachsende Posten im Bundeshaushalt. Wir standen mit über 60 Milliarden Dollar jährlich schon ohne Sondervermögen in Europa auf Platz zwei und international auf Platz sechs bei den Rüstungsausgaben. Was demnächst noch alles in Deutschland und Europa obendrauf kommen soll, ist reiner Wahnsinn und wird den globalen Rüstungswettlauf weiter befeuern.

Fällt auch Ihnen das Wort „Kriegskredite“ ein?

Ich bin kein Freund historischer Vergleiche, aber die Analogie drängt sich angesichts dieser penetranten Kriegsrhetorik fast schon auf. Es gab ja mal Zeiten, da haben bestimmte Interessengruppen, zum Beispiel die Atomlobby, sich über die sogenannte German Angst mokiert, als wäre ein gesundes Misstrauen etwas Schlechtes. Und jetzt werden, wieder interessengeleitet, mit einer Vehemenz Ängste geschürt, was jeder Verhältnismäßigkeit entbehrt. Frankreich und Deutschland stecken zusammen schon heute mehr Geld ins Militär als Russland, das sich seit drei Jahren in einem Krieg aufreibt. Aber unsere Politiker tun so, als könnte Russland schon morgen halb Europa überrennen.

Zurück zur SPD. Zu Ihrem Austritt vor sechs Jahren erklärten Sie damals: „Trotz unglaublicher Verluste und Niederlagen bei den Wahlen, trotz aller Lippenbekenntnisse, gab es und gibt es aber immer nur ein ‚Weiter-so.‘“ Beim jüngsten Urnengang hat es für nur noch 16 Prozent gereicht, was aber trotzdem zum Regieren reicht. Hätten Sie so viel Würdelosigkeit im Moment der historisch bittersten Wahlniederlage für möglich gehalten?

Ich hatte schon gehofft, dass man unter diesem Eindruck wenigstens kurz innehält und sich vergegenwärtigt, wie tief man gesunken ist. Aber das dachte ich auch schon 2017, als man mit einer Absage an eine Große Koalition Wahlkampf machte und nach einem Absturz auf 20 Prozent dann trotzdem in die Groko ging. Heute ist die Lage der Partei noch viel desaströser und doch wurde nicht eine Sekunde gezögert, erneut mit der Union zu paktieren.

Man hätte sich auch fragen können, wofür die Wähler die SPD abgestraft haben, warum ausgerechnet die arbeitende Bevölkerung in Scharen zur AfD übergelaufen ist, um daraus die nötigen Schlüsse zu ziehen. Aber Pustekuchen, man macht einfach weiter wie bisher, beziehungsweise noch schlimmer, indem man jetzt auch die friedenspolitischen Traditionen komplett über Bord wirft. Ich habe einmal formuliert, die SPD wollte durch Abkehr von ihren sozialdemokratischen Wurzeln die Sowohl-als-auch-Partei sein. Geworden ist aus ihr die Weder-noch-Partei. Das gilt heute mehr denn je.

Die SPD kann ihrer „staatspolitischen Verantwortung“ einfach nicht entrinnen, diesmal der, für eine stabile Regierung jenseits der AfD zu sorgen. Führt der Hang zur „Aufopferung“ die Partei irgendwann noch unter die fünf Prozent?

Diese Opferpose mag ja noch irgendwie bei der Basis verfangen, ist aber Augenwischerei. Es geht wieder einmal darum, Posten und Mandate zu verteilen und sich in irgendwelchen Funktionen Einfluss zu sichern, am besten als Minister, nach dem Motto: mit mir die Sintflut.

Diese Erzählung, Staatsverantwortung tragen zu müssen, ist so was von ausgelatscht. Die SPD saß im Bund, mit einer Unterbrechung von vier Jahren, seit 1998 praktisch konstant in der Regierung. Und was hat sie dabei herausgeholt für die einfachen Menschen? Praktisch nichts! Vielmehr hat sie den Sozialstaat mit geschliffen und das Gegenteil dessen gemacht, wofür sie eigentlich da sein müsste.

Sie haben gerade ein sehr passendes Buch veröffentlicht, in dem Sie schonungslos die „Demontage“ der parlamentarischen Demokratie beschreiben. Die Konzepte soziale Marktwirtschaft und Herrschaft des Volkes seien „nur noch Fassade“ und „Täuschungen eines Profit-Systems, welches immer weniger Menschen nutzt“, schreiben Sie. Müssten Sie Union, SPD und Grünen nicht fast dankbar sein – von wegen Verkaufsförderung?

Parlamentarismus, Gewaltenteilung und Demokratie sind fast nur noch leere Worthülsen. Nehmen wir dieses Billionen-Schuldenpaket: Es ist das ureigenste Recht des Parlaments, einen Haushalt aufzustellen, wobei alle Parteien und Fraktionen eingebunden gehörten. Aber heute erledigt das nur noch die Regierung, diesmal nicht einmal die neu gewählte, sondern ein Mix aus alter und neuer.

Wir haben gar keine Ahnung mehr, was Gewaltenteilung bedeutet. Nach dem Geist und Wortlaut der Verfassung ist die Regierung nur die ausführende Gewalt, sie hat die im Parlament gefassten Gesetze umzusetzen. Wofür müsste die Judikative da sein? Viele Abgeordnete brechen ständig das Grundgesetz, indem sie bei Abstimmungen eben nicht ihrem Gewissen folgen, sondern Regierungsvorlagen durchwinken, weil sie sonst Probleme bekommen und über kurz oder lang ihr Mandat verlieren würden. Zu den Maskendeals einiger Abgeordneter während der Corona-Krise haben die Gerichte sinngemäß befunden, das war korrupt, aber wir sind leider nicht zuständig, sondern der Bundestag. Und so bleiben die Übeltäter straffrei und dürfen das ergaunerte Geld behalten.

Sie stellen in Ihrem Buch fest, dass praktisch hinter sämtlichen Initiativen und Gesetzen, die im Bundestag angestoßen werden, selbst solchen, die fortschrittlich anmuten oder es sogar sind, ein Profitinteresse steht. Sind Abgeordnete heute bloß noch Handlanger?

Heute entsteht nur noch ein Bruchteil der Gesetze aus der Mitte des Bundestags heraus, während die Regierung den Löwenanteil initiiert und per Fraktionszwang durchsetzt. In den allermeisten Fällen arbeiten Lobbyisten an den Gesetzesvorlagen mit und nehmen Einfluss auf Inhalte und Verfahren. Häufig kommt der Vorschlag dazu sogar direkt von Akteuren aus der Wirtschaft, manchmal schreiben sie die Gesetze gleich selbst.

Allenfalls bei hochethischen Fragen sind die Abstimmungen freigestellt. Wobei man sich fragen muss, ob nicht auch ein Billionen-Euro-Rüstungspaket ethisch hochbrisant ist. Denn natürlich steht auch dahinter eine mächtige Lobby. Das zeigt sich daran, dass keiner wirklich weiß, was mit dem Geld passiert. Seit Jahren fließen schon ohne Sondervermögen über 55 Milliarden Euro ins deutsche Militär. Aber da werden Waffensysteme gekauft, die nicht funktionieren, und Flugzeuge, die in Deutschland nicht landen können. Gerade diejenigen, die sagen, wir bräuchten eine schlagkräftigere Bundeswehr, müsste doch interessieren, ob das Geld sinnvoll und zielführend eingesetzt wird. Aber Transparenz gibt es nicht, weil Lobbyisten und Konzerne dann weniger Profit für sich rausschlagen können.

Sie sprachen die Maskendeals an, auch zum Beleg, dass Lobbyisten, oder „Lobbytarier“, wie Sie sie nennen, mithin in den Parlamenten sitzen. Aber muss man gleich offen korrupt sein, um korrumpiert zu sein?

Nein, da mache ich einen Unterschied. Wobei klar sein sollte: Echte Korruption gibt es nicht nur in Ländern, auf die wir herabsehen, sondern natürlich auch bei uns. Deutschland ist im neuesten Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International vom neunten auf den 15. Rang abgerutscht. Und dabei wird legale Korruption, bei der es nicht um Bestechung und geldwerte Vorteilsnahme geht, gar nicht berücksichtigt. Zum Beispiel waren nach diesem Maßstab die Maskendeals nicht zu beanstanden.

Um aber korrumpiert zu sein, muss man kein Geld absahnen. Es genügt, im Gegenzug für eine erbrachte Leistung mit einem wie auch immer gearteten Vorteil zu profitieren. Wer sich als Abgeordneter mit Profitlobbyisten einlässt, wird zum Beispiel mit Kontakten belohnt, zu Tagungen eingeladen, darf auf Podien Reden halten oder erhält erleichterten Zugang zu Regierungsvorlagen. Man wird einfach wichtiger, erhält mehr Aufmerksamkeit, man legt an Renommee in Partei und Fraktion zu und steigt rascher die Karriereleiter hoch. Gleichzeitig verliert man aber immer mehr aus den Augen, wofür man eigentlich gewählt und von wem man gewählt wurde.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie selbst drauf und dran waren, Lobbyist zu werden. Allerdings haben Sie noch rechtzeitig die Kurve gekriegt, viele andere wohl nicht. Sie sagen, dass sich der Großteil der Abgeordneten in den Parlamenten als Erfüllungsgehilfe von Profitinteressen betätigt. Wissen die das auch?

Sicherlich sind sich viele dessen bewusst. Andere würden das empört von sich weisen, weil sie gar nicht ahnen, wie sie manipuliert werden. Der Prozess ist schleichend, deshalb auch der Begriff Lobbytarier. Man legt als überzeugter Volksvertreter los und schlüpft unmerklich in eine andere Rolle, wobei Verdrängung und Verklärung ins Spiel kommen, nach dem Muster: „Wenn ich mehr Einfluss habe, kann ich mehr verändern.“

Das darf aber keine Entschuldigung sein. Wen Lobbyisten ins Visier nehmen, der bekommt das auch mit, und irgendwann müssen einem die Alarmglocken signalisieren, dass das nicht in Ordnung ist. Ich selbst wurde von einem Vertreter eines großen Energieversorgers umgarnt und war auf bestem Wege, mich an die vielen Annehmlichkeiten zu gewöhnen. Dann wird es gefährlich und viele erliegen den Verlockungen. Aber es gibt natürlich eine Reihe von Abgeordneten, die gar nicht in Versuchung kommen, weil sie in Bereichen arbeiten, wo es nicht um große Profite geht. Andererseits hält sie das nicht davon ab, trotzdem bei allem mitzustimmen, was Lobbyisten glücklich macht, und sei es nur, um nicht aufzufallen und Reibungen zu vermeiden.

Aber es gibt noch Ausnahmeerscheinungen. Sie zum Beispiel haben bei vielen der „großen“ Reformen – etwa Hartz-IV, den vielen Rentenkürzungspakten, „Bankenrettung“ nicht den Finger gehoben …

Das muss ich korrigieren. Als es um Hartz-IV ging, habe ich den Finger gehoben, nicht in der Fraktion, sondern später im Plenum. Damals war ich noch ein Neuling und der Druck, der auf uns ausgeübt wurde, war immens. Rot-Grün hatte damals nur eine Mehrheit von wenigen Stimmen und Gerhard Schröder drohte mit dem Ende der Koalition und damit, dass dann unter Schwarz-Gelb alles ganz schlimm werden würde. Es gab damals keinen einzigen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker in der Fraktion, der die Hartz-Reformen befürwortet hätte. Aber alle haben mitgestimmt.

Ich habe daraus gelernt und in der Folgezeit eine gewisse Renitenz entwickelt. Aber das ging nur mit dem Rückhalt der Basis in meinem Wahlkreis, die mich immer wieder aufgestellt und wiedergewählt hat. Aber das war nichts, was die Partei- und Fraktionsspitzen freute. Es wurden von oben eigens Gegenkandidaten installiert, die meinen Wiedereinzug in den Bundestag verhindern sollten. Hätte ich mich nicht durchgesetzt, wäre ich politisch weg vom Fenster gewesen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Wer sich gegen das üble Treiben des Lobbyismus auflehnt, wird sehr schnell aus dem System gekegelt.

Seinem Gewissen zu folgen, ist nicht förderlich für die Karriere?

Ganz sicher nicht. Ich hatte das Glück, dass ich per Urwahl aufgestellt wurde, an der sich alle Mitglieder beteiligen konnten. Die Basis hat offenbar honoriert, dass ich mich in manchen Fragen gegen den herrschenden Kurs der Partei positioniert habe. Das mag auch ein Hinweis darauf sein, wie weit das SPD-Establishment den einfachen Mitgliedern entrückt ist.

Nach Ihrem Austritt 2018 verblieben Sie noch drei Jahre als Fraktionsloser im Bundestag, um sich im Speziellen dem Thema Lobbyismus zu widmen. Heute engagieren Sie sich unter anderem beim Satireprojekt Die Partei, wo Sie Mitglied sind. Warum gerade da?

Ich wollte nicht als lahme Ente aus dem Bundestag ausscheiden, von wegen: Jetzt ist er weg und für immer vergessen. Ich wollte weiterhin meine Themen setzen und das möglichst öffentlichkeitswirksam. Und es ist natürlich sehr bezeichnend, dass das Thema Lobbyismus in all seinen Facetten und mit größter Ernsthaftigkeit noch am besten mit der Partei Die Partei besprochen werden kann (lacht). Das sollte zu denken geben …

Sie haben sich selbst davor bewahrt, Lobbyist zu werden. Nun wollen Sie die „Demokratie retten“, titeln Sie auf dem Buchcover. Wie stellen Sie das an?

Ich bin ja eigentlich von Hause aus Umwelt- und Energiepolitiker. Aber ich musste im Bundestag schnell feststellen, dass man mit seinen Argumenten und seinem Engagement gegen Wände anrennt, weil dort eben Lobbyisten die Themen und Entscheidungen bestimmen. Nicht nur dort. Auch die UN-Weltklimakonferenzen, wie zuletzt die in Baku, sind letztlich nur postdemokratische Showeinlagen, die viel Geld kosten und viel Treibhausgas verursachen, aber nichts bewirken, weil die Fossilindustrie die Agenda setzt und echte Klimapolitik unterbindet.

Nachdem ich das begriffen hatte, habe ich notgedrungen auf Lobbyismusexperte umgeschult mit der Folge, dass ich mich seither viel mit der Frage nach dem Zustand der Demokratie befasse. Die allermeisten Parlamentarier interessieren sich dafür gerade nicht (lacht). Sie mögen viel über Demokratie reden, aber profitieren letztlich nur davon, dass die Demokratie nicht mehr funktioniert. Und weil das so ist, hat es eigentlich auch gar keinen Sinn, sich mit Sachthemen auseinanderzusetzen. Denn darüber entscheiden ohnehin die, die mit wahrer Demokratie nichts am Hut haben.

Das sage ich auch den NGOs, Gruppen und Initiativen, wo ich aktiv bin: Kümmert Euch vor allem um die Demokratie. Ihr müsst Euch mit anderen zusammenschließen, um die Spielregeln des politischen Systems zu verändern und dafür zu sorgen, dass die Mehrheit und nicht nur ein Prozent der Bevölkerung etwas davon hat. Wir leben ja längst nicht mehr einer freien, geschweige den sozialen Marktwirtschaft. Wir haben eine Feudalwirtschaft, wo einige Wenige fast den ganzen Reichtum an sich reißen, während der große Rest gucken muss, wo er bleibt.

Ihre Rezepte laufen im Wesentlichen auf die Stärkung direktdemokratischer Mitbestimmungsrechte und -möglichkeiten hinaus. Aber ist es nicht naiv zu glauben, dass sich dann alles zum Besseren wendet? Müsste nicht zuerst der Kapitalismus überwunden werden?

Viele Menschen wissen oder ahnen nur, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber in der politischen und medialen Öffentlichkeit wird so getan, als lebten wir in einer lupenreinen Demokratie. Dabei dient das System vor allem zur Sicherung und Erweiterung der Profitmaximierung von wenigen. Geld kauft Politik, und Demokratie wird verkauft. Weil das so ist, muss das politische System dahingehend geändert werden, dass das nicht länger möglich ist. Dann erst hat man die Chance, auch grundlegende Systemumstellungen in der Wirtschaftsordnung vorzunehmen.

Unter den herrschenden Bedingungen kann man für die Einführung der Vermögenssteuer kämpfen. Aber das bringt nichts, weil die Profitlobby das sowieso verhindert. Solange wir aber noch die Möglichkeit haben, die Spielregeln zu ändern, müssen wir zuerst damit beginnen, die Demokratie wieder in Stand zu setzen. Denn dafür könnte es schon bald zu spät sein.

Titelbild: © Julia Bornkessel und Piotr Piatrouski/shutterstock.com