Ukraine-Krieg: Wer ist für diese Katastrophe verantwortlich?

Ukraine-Krieg: Wer ist für diese Katastrophe verantwortlich?

Ukraine-Krieg: Wer ist für diese Katastrophe verantwortlich?

Klaus-Dieter Kolenda
Ein Artikel von Klaus-Dieter Kolenda

Die Politikwissenschaftler Benjamin Abelow, John Mearsheimer und Glenn Diesen und der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs begründen, warum die USA und der Westen die Hauptverantwortung tragen. Von Klaus-Dieter Kolenda.

Der Ukraine-Krieg, der jetzt seit mehr als drei Jahren tobt, ist eine schreckliche Katastrophe. Es handelt sich um den größten Krieg in Europa seit 1945 mit mittlerweile Hundertausenden von getöteten oder schwer verwundeten ukrainischen und russischen Soldaten, Zehntausenden von Toten aus der Zivilbevölkerung und verheerenden Zerstörungen in der Ukraine, aber auch in Russland. Außerdem hat dieser Krieg das Potenzial, sich zu einem dritten Weltkrieg bis hin zu einem finalen Atomkrieg auszuweiten. Deshalb muss dieser Krieg so schnell wie möglich beendet werden.

Seit der Übernahme der US-Regierung durch Donald Trump vor einigen Wochen ist es zu einer dramatischen 180-Grad-Wende der bisherigen US-amerikanischen Politik in Bezug auf die Ukraine gekommen, sodass ein baldiger Friedensschluss in diesem Stellvertreterkrieg möglich erscheint. Diese Wende geht aber damit einher, dass im Gegensatz zur Politik der USA viele europäische Länder wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland die Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Geld weiterführen wollen und eine gigantische Aufrüstung geplant ist. Das ist eine total verrückte Politik. Aber was steckt dahinter?

Ein Grund könnte sein, dass in den EU-Ländern das überaus wirksame Propaganda-Narrativ vom „unprovozierten Angriffskrieg des bösen Putin auf die Ukraine“ in den Mainstream-Medien besonders stark verankert ist, ohne dass vernünftige Gegenstimmen in der Öffentlichkeit breiter Gehör finden können, da deren Vertreter regelmäßig diffamiert und ausgegrenzt werden, zum Beispiel als „Putinversteher“.

In den USA besteht hinsichtlich der Mainstream-Medien wohl eine vergleichbare Situation. Hier scheint aber auch die Tradition der „Free Speech“ entsprechend dem First Amendment (Erster Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung) möglicherweise eine größere gesellschaftliche Wirksamkeit zu entfalten, sodass kritische Stimmen über den Ukraine-Krieg wie diejenigen der im Folgenden angeführten Wissenschaftler nicht so leicht wie bei uns aus der Öffentlichkeit ausgeschaltet werden können.

Deshalb erscheint es sinnvoll, wichtige kritische Stimmen zum Ukraine-Krieg immer wieder zu Wort kommen zu lassen und zur Kenntnis zu bringen. Denn solange das Propaganda-Narrativ des Westens vom „unprovozierten Angriffskrieg Putins“ nicht von größeren Teilen unserer Bevölkerung in Frage gestellt wird, wird der Krieg in der Ukraine nicht zu beenden sein und weitergeführt werden können.

Benjamin Abelow

Benjamin Abelow besitzt einen B. A. in Europäischer Geschichte von der University of Pennsylvania und einen Doktortitel in Medizin von der Yale School of Medicine. Vor seinem Medizinstudium war er in Washington/D.C. tätig, wo er zum Thema Atomwaffenpolitik publiziert und Vorträge gehalten hat. Zu seinen weiteren Interessengebieten zählen die Trauma-Psychologie einschließlich Kriegstrauma. Seine Webseite kann hier [1] aufgerufen werden.

Das American Committee for US-Russia Accord (ACURA) hat vor einigen Tagen noch einmal auf das von Benjamin Abelow schon im August 2022 veröffentlichte Buch mit dem Titel “How The West Brought War to Ukraine“ aufmerksam gemacht, das inzwischen dort zur freien Verfügung heruntergeladen werden kann [2]. Dieses Buch liegt hier auch in einer ausgezeichneten deutschen Übersetzung vor, die den Titel “Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte. Die Rolle der USA und der NATO im Ukraine-Konflikt“ [3] trägt.

Herausragende US-Politiker und Politikwissenschaftler haben sich zu diesem Buch lobend geäußert. So schrieb Jack E. Matlock, Jr., US-Botschafter in der Sowjetunion 1987 bis 1991:

„Eine hervorragende, bemerkenswert prägnante Erklärung der Gefahr, welche die militärische Beteiligung der USA und der NATO in der Ukraine geschaffen hat. Dieses Buch muss von allen gelesen und beachtet werden, die in der Lage sind, rational und verantwortungsbewusst über die amerikanische und europäische Sicherheit nachzudenken.“

Und der US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer von der Universität Chicago schrieb:

„Für alle, die daran interessiert sind, die wahren Ursachen der Katastrophe in der Ukraine zu verstehen, ist “Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte“ eine Pflichtlektüre. Abelow argumentiert klar und überzeugend, dass die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten – nicht Wladimir Putin – die Hauptschuldigen sind.“

Überblick

Der schmale Band, der insgesamt nur 69 Textseiten umfasst und, wie schon gesagt, kostenfrei heruntergeladen werden kann, beginnt mit einem „Überblick“, in dem darauf hingewiesen wird, dass die Vereinigten Staaten seit 1823 mit der “Monroe-Doktrin“ den Anspruch erheben, dass die gesamte westliche Hemisphäre ihr eigener Sicherheitsbereich ist.

Das sei der Kernpunkt der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik, sagt Abelow. Wer diesen verletzt, riskiert einen Krieg. Wir erinnern uns alle an das Jahr 1962, als es fast zu einem Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion gekommen wäre, weil die UdSSR Raketen auf Kuba stationiert hatte.

Was jedoch Russland betrifft, würden die Vereinigten Staaten und die NATO-Verbündeten bereits seit Jahrzehnten gegen diesen Grundsatz verstoßen. Hätte sich Russland in Bezug auf amerikanisches Hoheitsgebiet ähnlich wie die USA verhalten und seine Streitkräfte etwa in Kanada oder Mexiko stationiert, dann wäre Washington in den Krieg gezogen. Deshalb schlussfolgert Abelow (S. 2):

„So gesehen handelt es sich beim Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht um die ungezügelte Erweiterungspolitik eines in böser Absicht handelnden russischen Anführers, sondern um eine gewaltsame und zerstörerische Reaktion auf die fehlgeleitete Politik des Westens: ein Versuch, rund um die Westgrenze Russlands herum wieder eine Zone herzustellen, die keiner offensiven Bedrohungen durch die Vereinigten Staaten und deren Verbündeten ausgesetzt ist.

Der Westen hat die Gründe für die russische Invasion in die Ukraine missverstanden und fällt nun kritische Entscheidungen auf der Grundlage falscher Annahmen. Damit verschärfen die westlichen Länder die Krise und könnten auf einen Atomkrieg zusteuern, ohne sich dessen bewusst zu sein.“

Einleitung

Da der Ukraine-Krieg nach Abelow „kein unprovozierter Angriffskrieg Russlands“ ist, führt er in der Einleitung (S. 3 ff.) die wichtigsten Provokationen der USA und des Westens auf, die dann im Verlaufe des Buches in den folgenden acht Kapiteln näher erläutert und kommentiert werden. Dazu gehören:

  • Die USA und der Westen haben die NATO mehr als 1.500 Kilometer nach Osten erweitert und sie unter Missachtung von Zusicherungen, welche Moskau zuvor gegeben wurden, bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt.
  • Sie haben den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty/Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen) einseitig gekündigt und antiballistische Trägersysteme in den neuen NATO-Staaten aufgestellt. Diese können auch offensive Nuklearwaffen, wie zum Beispiel mit Nuklearsprengköpfen bestückte Tomahawk-Marschflugkörper, aufnehmen und auf Russland abfeuern.
  • Sie haben dazu beigetragen, den Weg für einen bewaffneten, rechtsextremen Staatsstreich in der Ukraine zu bereiten und diesen möglicherweise sogar direkt angezettelt. Durch diesen Coup wurde eine demokratisch gewählte pro-russische Regierung durch eine nicht gewählte pro-westliche Regierung ersetzt.
  • Sie haben zahlreiche NATO-Manöver nahe der russischen Grenze durchgeführt. Dazu gehörten zum Beispiel Übungen mit scharfen Raketen, welche Angriffe auf Luftabwehrsysteme in Russland simulieren sollten.
  • Sie haben ohne zwingende strategische Notwendigkeit und unter Missachtung der Bedrohung, welche ein solcher Schritt für Russland bedeuten würde, der Ukraine die Aufnahme in die NATO versprochen. Die NATO weigerte sich später, diese Politik aufzugeben, selbst wenn dadurch ein Krieg hätte verhindert werden können.
  • Sie haben sich einseitig aus dem INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces/Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte Vertrag) zurückgezogen, was Russland noch anfälliger für einen Erstschlag der USA macht.
  • Sie haben im Rahmen bilateraler Abkommen das ukrainische Militär mit Waffen ausgerüstet und ausgebildet und dafür regelmäßig gemeinsame Manöver in der Ukraine abgehalten. Diese hatten zum Ziel, eine militärische Zusammenarbeit auf NATO-Ebene (die sogenannte Interoperabilität) herzustellen, und zwar schon vor einer formellen Aufnahme der Ukraine in das Militärbündnis.
  • Sie haben die ukrainische Führung zu einer kompromisslosen Haltung gegenüber Russland veranlasst und dadurch einerseits die Bedrohung für Russland weiter verschärft und andererseits die Ukraine der Gefahr einer militärischen Reaktion Russlands ausgesetzt.“

Am Schluss der Einleitung sagt Abelow:

„Aufgrund der Schwere der Krise, ihrer jahrzehntelangen Entwicklung und der Tatsache, dass ein thermonuklearer Krieg – ein mit Wasserstoffbomben geführter Krieg – eine existenzielle Bedrohung für alle beteiligten Länder sowie für die gesamte Menschheit darstellt, werde ich meine Argumente so klar und so systematisch wie möglich darlegen.“

Schlusskapitel mit Fazit

Das Schlusskapitel (S. 61 ff.) enthält eine kontrafaktische Geschichte unter der Prämisse, was hätte sein können, wenn der Westen anders gehandelt hätte. Dieser Abschnitt widmet sich zudem der Frage, wer die Hauptverantwortung für die andauernde Katastrophe in der Ukraine trägt.

Abschließend heißt es dort (S. 68 ff.):

„Dass sich Russland durch eine vom Westen bewaffnete, ausgebildete und militärisch integrierte Ukraine in seiner Existenz bedroht fühlt, hätte Washington von Anfang an klar sein müssen. Welcher vernünftig denkende Mensch konnte glauben, dass die Präsenz eines westlichen Waffenarsenals an Russlands Grenze keine starke Reaktion hervorrufen würde? Welcher vernünftige Mensch konnte davon ausgehen, dass die Stationierung eines solchen Arsenals die Sicherheit der USA erhöhen würde?

Und falls das nicht klar gewesen sein sollte, hätten spätestens 2008 sämtliche Unklarheiten darüber beseitigt sein sollen. Damals telegrafierte der US-Botschafter in Russland, William Burns, der jetzt Bidens CIA leitet, nach Washington, dass die Ukraine für Russland die roteste aller roten Linien sei.

Man muss kein Genie sein, um die Gründe dafür zu verstehen. Dennoch scheint diese offensichtliche Realität für viele im Außen- und Verteidigungsministerium der USA, in der NATO und den Medien sowie für den amtierenden US-Präsidenten undurchschaubar zu sein.

Was bedeutet das also für die Bürger der USA und ihrer europäischen Verbündeten?

Offen gesagt sind sie, das heißt wir, in einer sehr misslichen Lage. Es ist eine Lage, die nicht nur äußerst gefährlich ist und die ganze Welt dem Risiko eines Atomkriegs aussetzt: Diese Situation konnte nur durch ein Ausmaß an Dummheit und Blindheit der US-Regierung und ein Maß an Ehrfurcht und Feigheit der europäischen Politiker erreicht werden, das beinahe unvorstellbar ist. In einem Interview wurde Gilbert Doctorow (siehe unten) kürzlich gefragt, was US-Bürger am dringendsten über den Krieg wissen sollten. Er antwortete: „Euer Leben ist in Gefahr“ und fuhr fort:

„Putin hat zu Protokoll gegeben, dass er sich eine Welt ohne Russland nicht vorstellen kann. Und wenn die Amerikaner die Absicht haben, Russland zu zerstören, dann wird die amerikanische Absicht die Selbstzerstörung sein … [Amerika] steht vor einer existenziellen Bedrohung, die es selbst geschaffen hat. Und der Ausweg aus dieser Bedrohung liegt für alle auf der Hand: ein Deal mit Putin.“

Die Politiker in Washington und die europäischen Regierungen – mitsamt den gefügigen, feigen Medien, die deren Unsinn kritiklos nachplappern – stehen jetzt bis zur Hüfte im Sumpf. Es ist schwer vorstellbar, dass diejenigen, die dumm genug waren, diesen Sumpf zu betreten, nun die Klugheit aufbringen, sich selbst davon zu befreien, bevor sie vollends versinken und uns alle mitreißen.“

Diesen hellsichtigen Schlussworten von Benjamin Abelow, die er schon wenige Monate nach Beginn der russischen Invasion niederschrieb, ist wenig hinzuzufügen. Sie haben mich dazu angeregt, mir die ganzen 69 Seiten dieses großartigen und leicht zu lesenden kleinen Buches in deutscher Übersetzung mit großem Erkenntnisgewinn zu Gemüte zu führen [3], denn

„im Stellvertreterkrieg zwischen den USA/der NATO und Russland droht eine nukleare Eskalation, welche das Ende der menschlichen Zivilisation bedeuten könnte. Abelows Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die diese Bedrohung verstehen möchten und wissen wollen, warum sie 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder aufgetaucht ist.“
– Gilbert Doctorow, Autor, Historiker und unabhängiger, in Brüssel ansässiger Russland-Spezialist

John Mearsheimer

John J. Mearsheimer [4] ist ein renommierter US-amerikanischer Politikwissenschaftler an der Universität von Chicago, ein international anerkannter Experte für internationale Beziehungen und einer der Begründer der realistischen Schule der Geschichtswissenschaft in den USA.

Er vertritt seit 2014 in wissenschaftlichen Artikeln, vielen Diskussionsbeiträgen und in zahlreichen Video-Interviews, die im Internet leicht aufzufinden sind, die Einschätzung, dass die USA der Hauptverursacher des Ukraine-Kriegs sind, so zuletzt in einem ausführlichen Artikel auf seiner Website bei Substack [5]. Diesen wichtigen Artikel habe ich für die NachDenkSeiten ins Deutsche übertragen [6]. Er kann dort auch als Podcast angehört werden.

In diesem ausführlichen Artikel setzt sich Mearsheimer mit der gängigen Meinung im Westen, dass Putin für den Krieg verantwortlich sei, weil er ein Imperialist ist, auseinander. Seiner Meinung nach sind dagegen die USA und der Westen für diesen Krieg hauptverantwortlich, weil sie die Ukraine in die NATO aufnehmen wollen.

Im ersten Teil beschäftigt er sich mit den sieben Hauptgründen, warum die gängige Meinung im Westen über den Ukraine-Krieg aus seiner Sicht falsch und abzulehnen ist. Der Wissenschaftler sagt:

„Um zu beweisen, dass Putin entschlossen war, die gesamte Ukraine zu erobern und sie in Russland einzugliedern, muss man jedoch den Beweis erbringen, dass er das für ein erstrebenswertes Ziel hielt, es für ein machbares Ziel hielt und beabsichtigte, dieses Ziel zu verfolgen.“ Dafür gebe es jedoch keine Beweise in der Öffentlichkeit.

Im zweiten Teil führt er die drei Hauptgründe an, warum die NATO-Erweiterung die Hauptursache für den Ukraine-Krieg ist. Diese sind:

  1. Die russische Führung hat vor Beginn des Krieges wiederholt erklärt, dass sie die NATO-Erweiterung in die Ukraine als existenzielle Bedrohung betrachtet, die beseitigt werden müsse.
  2. Eine beträchtliche Anzahl einflussreicher und hoch angesehener Personen im Westen hat vor dem Krieg erkannt, dass die NATO-Erweiterung – insbesondere um die Ukraine – von der russischen Führung als eine tödliche Bedrohung angesehen werden und schließlich in eine Katastrophe führen würde.
  3. Die zentrale Bedeutung der tiefen Angst Russlands vor einem NATO-Beitritt der Ukraine wird durch zwei Entwicklungen verdeutlicht, die sich seit Beginn des Krieges ereignet haben.

Während der Istanbul-Verhandlungen, die unmittelbar nach Beginn der Invasion stattfanden, machten die Russen unmissverständlich klar, dass die Ukraine eine „dauerhafte Neutralität” akzeptieren müsse und nicht der NATO beitreten könne.

Die Ukrainer akzeptierten die Forderung Russlands ohne ernsthaften Widerstand – sicherlich, weil sie wussten, dass es sonst unmöglich war, den Krieg zu beenden.

In jüngerer Zeit, am 14. Juni 2024, formulierte Putin zwei Forderungen, die die Ukraine erfüllen müsse, bevor er einem Waffenstillstand und der Aufnahme von Verhandlungen zur Beendigung des Krieges zustimmen werde. Eine dieser Forderungen war, dass Kiew „offiziell” erklärt, „dass es seine Pläne für einen NATO-Beitritt aufgibt”.

Jeffrey Sachs

Jeffrey D. Sachs [7] ist ein weltbekannter Wirtschaftsprofessor der Columbia-Universität in New York, Bestsellerautor, innovativer Pädagoge und weltweit führend im Bereich der nachhaltigen Entwicklung.

Er hat am 19. Februar 2025 eine bedeutende Rede vor dem Europäischen Parlament mit dem Titel “The Geopolitics of Peace” gehalten, die ein aufrüttelndes Zeugnis des Zeitgeschehens und zugleich wichtiges Zeitdokument ist und die ich für die Leser der NachDenkSeiten ins Deutsche übertragen habe [8].

Diese fulminante Rede beschäftigt sich in den ersten acht Kapiteln mit der verhängnisvollen US-Außenpolitik und dem Verlauf und den Hintergründen des mörderischen Ukraine-Kriegs aus der Perspektive eines US-Insiders dieses politischen Geschehens, die spannend nachzulesen ist.

Am Schluss des umfangreichen Textes setzt sich Sachs mit einigen Zuhörer-Fragen auseinander, z.B. mit der Frage: Was sind die langfristigen Folgen dieses verlorenen Krieges? Darauf gibt er die folgende Antwort:

„Wir befinden uns in einer Zeit des größten technologischen Fortschritts in der Geschichte der Menschheit. Es ist wirklich erstaunlich, was jetzt alles möglich ist. Wissen Sie, ich wundere mich über die Tatsache, dass jemand, der wenig Ahnung von Chemie hat, den Nobelpreis für Chemie gewonnen hat, weil er sich hervorragend mit KI und tiefen neuronalen Netzen auskennt, in der Tat ein Genie, Demis Hassabis. Er und sein Team bei DeepMind fanden heraus, wie man KI nutzen kann, um das Problem der Proteinfaltung zu lösen, ein Problem, das Generationen von Biochemikern beschäftigt hatte.

Wenn wir also unseren Verstand, unsere Ressourcen und unsere Energien darauf verwenden, können wir das Weltenergiesystem im Sinne des Klimaschutzes umgestalten. Wir können die Artenvielfalt schützen. Wir können sicherstellen, dass jedes Kind eine qualitativ hochwertige Bildung erhält. Wir können gerade so viele wunderbare Dinge tun.

Was brauchen wir für den Erfolg? Meiner Meinung nach brauchen wir vor allem Frieden.

Und mein grundlegender Punkt ist, dass es nirgendwo tiefe Gründe für Konflikte gibt, weil jeder Konflikt, den ich studiert habe, nur ein Fehler war. Wir kämpfen nicht um Lebensraum. Diese Idee, die im Wesentlichen von Malthus stammte und später zu einer Nazi-Idee wurde, war immer falsch, ein grundlegender intellektueller Fehler. Wir haben Rassenkriege gehabt, nationale Überlebenskriege, aus Angst, dass wir nicht genug für alle auf diesem Planeten haben, sodass wir uns in einem Kampf ums Überleben befinden. Als Ökonom kann ich Ihnen sagen, dass es auf unserem Planeten genug für die nachhaltige Entwicklung aller gibt. Es gibt genug.

Wir befinden uns nicht in einem Konflikt mit China. Wir befinden uns nicht in einem Konflikt mit Russland. Wenn wir ruhig überlegen, wenn wir nach der langfristigen Perspektive fragen, ist die langfristige Perspektive sehr gut, das heißt, wenn wir uns nicht vorher in die Luft sprengen. Das ist also mein Punkt. Die Aussichten sind sehr positiv, wenn wir den Frieden aufbauen und erhalten.“

Glenn Diesen

Glenn Diesen ist Professor an der Universität von Südostnorwegen (USN) und Mitherausgeber von Russia in Global Affairs. Er ist Autor eines aktuellen Buches über den Ukraine-Krieg mit dem Titel “The Ukrainian War & the Eurasian World Order“, in dem er deren geopolitische Hintergründe und Bedeutung darstellt hat. Auf seiner Website bei Substack [9] findet sich eine Fülle von Interviews mit vielen prominenten Experten, zum Beispiel über den Ukraine-Konflikt, vor dem Hintergrund der heraufziehenden neuen Weltordnung.

Abschließend möchte ich noch auf einen sehr informativen und in die deutsche Sprache übersetzten Vortrag von Diesen auf YouTube mit dem Titel “Wie die NATO die Souveränität und Demokratie der Ukraine zerschlug“ [10] aufmerksam machen.

In diesem Vortrag stellt Diesen die Entwicklung in der Ukraine seit 2014 anhand einer ganzen Reihe von neueren Fakten dar, die die bisherige Darstellung der anderen Autoren vertiefen und ergänzen können.

So sei das Hauptziel der Putschisten 2014 gewesen, die Ukraine in die NATO-Sphäre zu ziehen. Dies habe aber nicht dem damaligen Willen der Ukrainer entsprochen. Tatsächlich zeigten alle Umfragen von 1991 bis 2014, dass nur etwa 20 Prozent der Ukrainer eine NATO-Mitgliedschaft wollten.

„Und außerdem wussten die NATO-Länder auch, dass dies einen Krieg provozieren würde, da der Versuch, die Ukraine in die NATO zu ziehen, einen Bürgerkrieg auslösen würde, da dies unpopulär war“, sagt der Autor. „Dies sei vor allem im Osten der Fall, und viele warnten davor, so der ehemalige CIA-Direktor William Burns, als er Botschafter in Russland war. Dies war also ein Krieg, der gegen die Ukrainer im Osten geführt wurde, wie wir 2014 gesehen haben. Im Osten erkannten sie die Legitimität dieser Regierung nicht an. Daher wurde ein Krieg gegen sie unterstützt.“

Zum Schluss seiner Ausführungen sagt Diesen:

„Die Mehrheit der Amerikaner wollen den Krieg beenden. Trump drängt Selenskyj an den Verhandlungstisch. Seine Botschaft ist einigermaßen klar. Dieser Krieg kann ohne uns nicht weitergehen und wir ziehen den Stecker.

Beide Seiten, sowohl Amerikaner wie Europäer, treffen Entscheidungen für die Ukrainer. Die Europäer verlangen, dass sie gegen den Willen des ukrainischen Volkes weiterkämpfen. Und von Seiten der Amerikaner ist die Sprache oft noch unverblümter. In einem Stellvertreterkrieg ist es nicht Sache des Stellvertreters, zu entscheiden, wann der Krieg endet. Das entscheidet der, der sie kontrolliert …

Die Ukraine wurde seit 2014 systematisch ihrer Souveränität, ihrer Demokratie und ihrer Freiheit beraubt. Und diese können nur wiederhergestellt werden, wenn man akzeptiert, dass die Ukraine kein Schlachtfeld zwischen den Großmächten und kein Stellvertreter sein sollte. Dazu ist eine breitere Verhandlung erforderlich. Nicht nur ein Waffenstillstand zwischen den Russen und den Ukrainern ist erforderlich, sondern Verhandlungen, die darauf abzielen, eine Vereinbarung zwischen der NATO und Russland zu finden, um zu verhindern, dass weitere Länder wie die Ukraine, zum Beispiel Moldawien, Georgien oder andere, in ähnlicher Weise als Stellvertreter benutzt werden.“

Über den Autor und Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: [email protected]

Titelbild: Jacek Wojnarowski/shutterstock.com


[«1] benjaminabelow.com/

[«2] Free Download: Benjamin Abelow’s ‘How The West Brought War to Ukraine’.
Ben Abelow March 17, 2025
usrussiaaccord.org/free-download-benjamin-abelows-how-the-west-brought-war-to-ukraine/

[«3] Benjamin Abelow: Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte. Die Rolle der USA und der NATO im Ukraine-Konflikt. Silad Press 2022
benjaminabelow.com/wp-content/uploads/2025/01/ABELOW-GERMAN-DEC-16-A.pdf

[«4] mearsheimer.com/biography/

[«5] John Mearsheimer: Who caused the Ukraine War? Johns Substack 05.08.2024 mearsheimer.substack.com/p/who-caused-the-ukraine-war?utm_source=post-email-title&publication_id=1753552&post_id=147357385&utm_campaign=email-post-title&isFreemail=true&r=i1inl&triedRedirect=true&utm_medium=email

[«6] John Mearsheimer: Wer hat den Ukraine-Krieg verursacht? NachDenkSeiten 31.08.2024 nachdenkseiten.de/?p=120486

[«7] jeffsachs.org/

[«8] Jeffrey Sachs: Die Geopolitik des Friedens. NachDenkSeiten 08.03.2025 nachdenkseiten.de/?p=129862

[«9] substack.com/@glenndiesen

[«10] Glenn Diesen: Wie die NATO die Souveränität und die Demokratie der Ukraine zerschlug. YouTube 09.03.2025 youtube.com/watch?v=UQDso14ysA4